Fr, 13.05.2016 - 13:00 — Antje Boetius
Die Tiefsee birgt eine astronomisch hohe Zahl von Mikroorganismen mit einer bisher kaum erschlossenen genetischen Vielfalt. Sie zu kennen ist wichtig für das Verständnis des Erdsystems und seiner Stoffkreisläufe. Di e prominente Meeresbiologin Antje Boetius (Prof. für Geomikrobiologie, Univ. Bremen und Leitung der HGF-MPG Brückengruppe für Tiefsee-Ökologie und -Technologie) untersucht das Mikrobiom extremer Lebensräume der Tiefsee mit dem Ziel Antworten auf Fragen zur Entstehung und zu den Grenzen des Lebens sowie zu Anpassungsmöglichkeiten an eine dynamische Umwelt zu erhalten.*
Volkszählung der Meere
Die Vielfalt an Mikroorganismen auf der Erde – Bakterien, Archaea und einzellige Eukaryonten - kann man bisher kaum beziffern. Das internationale Programm "Volkszählung der Meere" (Census of Marine Life, 1990-2000) hat geschätzt, dass die Ozeane eine Milliarde unerforschter Bakterien und Archaeen-Arten enthalten. Sie werden im Folgenden „Typen“ genannt, weil der Artbegriff bei Mikroorganismen umstritten ist und gerade der Tiefseeboden besonders reich an nahe verwandten, unbekannten Mikroorganismen ist (Abbildung 1; [1]). Abbildung 1. Leben am Meeresboden. (a) Algenklumpen dienen als Nahrungsquelle für Tiefseetiere (hier: Seegurken), denen eine Vielfalt von Bakterien bei der Verdauung hilft. (b) Schema von Mikroorganismen des Tiefseebodens und der Vielfalt ihrer Stoffwechselleistungen. Tiefsee-Mikroben recyclen über 99% des abgelagerten organischen Materials und speisen Nährstoffe und gelöstes organisches Material ins Meerwasser zurück. © Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie/Boetius
Man stellt sich die Tiefsee zumeist als einen Ort der Dunkelheit, Kälte und des Nahrungsmangels vor, an dem sich das Leben ausschließlich von herabsinkenden Algenflocken ernährt. Doch die Entdeckungen von so verschiedenen Tiefsee-Lebensräumen wie heiße schwarze Raucher, kalte Methanquellen und riesige Korallenriffen mittels Tauchbooten und Unterwasser-Robotern sowie von der kilometertiefen Biosphäre unter dem Meeresboden durch Bohrschiffe revolutionierte unsere Kenntnis von den Grenzen des Lebens auf der Erde und seinen Anpassungen. Immer mehr Bakterien und Archaeen werden gefunden, die durch Nutzung von Energie aus dem Meeresboden bunte Lebensgemeinschaften von Tieren ernähren. Sie verwenden dafür reduzierte Moleküle wie Wasserstoff, Methan, Schwefelwasserstoff und Eisen und fixieren ganz ohne Sonnenlicht Kohlendioxid. Dieser Vorgang wird als Chemosynthese bezeichnet. Da Tiere selbst keine Chemosynthese betreiben können, bilden sie in solchen Ökosystemen oft Symbiosen mit Bakterien, die sie mit Nährstoffen versorgen. Chemosynthetische Ökosysteme findet man an kalten und heißen Quellen, aber auch dort wo große Mengen von organischem Kohlenstoff auf den Tiefseeboden fallen. So können die Kadaver verendeter Wale, aber auch abgesunkene Baumstämme der nahrungsarmen Tiefsee auf einen Schlag so viel organisches Material zuführen, dass die Zersetzungsprozesse durch Mikroorganismen die nähere Umgebung für Jahrzehnte verändert [2].
Neben den Tiefseerobotern, mit denen solch extreme Lebensräume erkundet werden können, erlauben noch ganz andere Maschinen Tauchgänge in die molekulare Vielfalt des Lebens selbst: Hochdurchsatz-Sequenzierer, die riesige Bibliotheken genetischer Information aus wenigen Gramm Tiefseeboden erzeugen. Dabei wird die gesamte mikrobielle DNA oder RNA - das sogenannte Mikrobiom - aus einer Probe extrahiert, vervielfältigt und sequenziert. Mittels bioinformatischer Methoden können dann die Gene der Mikroorganismen aus den Sequenzabschnitten rekonstruiert werden und uns einen Einblick in die vorhandene Diversität und Stoffwechselkapazität der dort lebenden Organismen geben. Zellzählungen an Bodenproben aus verschiedenen Ozeanregionen und Wassertiefen zeigen dabei, dass jedes Gramm Meeresboden durchschnittlich eine Milliarde Zellen enthält. Die Sequenzanalysen aus einer solchen Probe ergeben im Durchschnitt über 1000 Typen von Bakterien und um die 100 Archaeen-Typen. Keine zwei Bodenproben enthalten dabei die gleichen Mikroorganismen [3], auch wenn die Proben nur wenige Meter voneinander entfernt sind. Jede Probe enthält Sequenzen, die bis dato noch nie woanders entdeckt wurden. Und jeder einzelne Typ Mikrobe birgt dabei wiederum Tausende von Genen, die Stoffwechsel, biologische Interaktion und Anpassung an die Umwelt steuern. Diese Gene tragen die Information zur Herstellung von Eiweißen, Fettsäuren, Vitaminen, Pigmenten, Klebstoffen, Giftstoffen, antimikrobiellen Substanzen, Oberflächen, chemischen Rezeptoren und vieles mehr, doch die meisten Funktionen bleiben bisher unbekannt. Aufgrund der ungeheuren Ausdehnung des Lebensraums Tiefseeboden und der Mächtigkeit der von Bakterien und Archaeen belebten Schichten ergeben Hochrechnungen, dass die Mikroorganismen des Meeresbodens mindestens ein Zehntel der gesamten lebenden Biomasse auf der Erde ausmachen, und dazu aufgrund ihrer genomischen Verschiedenheit auch einen Großteil der genetischen Ressourcen unseres Planeten beherbergen. Und noch ist nur eine Handvoll solcher Tiefsee-Mikroorganismen kultiviert.
Woher kommt diese enorme Vielfalt? Mikrobielle Populationen nehmen Nischen in der marinen Umwelt ein, die durch Temperatur, Druck, pH-Wert, Salinität, durch die Verfügbarkeit von Nährstoffen und Elektronenakzeptoren, aber auch durch verschiedene Mortalitätsfaktoren bestimmt werden. Die Tiefsee umfasst zwar einen riesigen Raum, birgt dabei aber kleinräumig extreme Unterschiede, zum Beispiel zwischen kaltem Polarwasser und heißen Quellen, zwischen Grundwasseraustritten und tiefen Salzseen, zwischen sauren und basischen Fluiden, zwischen Bodenschichten mit und ohne Sauerstoff. Auch die Zusammensetzung der anorganischen und organischen Stoffe im Porenwasser des Meeresbodens kann sich stark unterscheiden. Von allen Bewohnern am Meeresgrund sind die Einzeller zwar die unscheinbarsten, doch sind sie wichtig für die Stoffkreisläufe der Erde, denn sie führen die Nährstoffe aus abgesunkenem Algendetritus ins Meer zurück [4] und kontrollieren den Austritt von giftigen oder klimaschädlichen Substanzen aus dem Meeresboden, wie zum Beispiel von Methan [5]. Dabei gibt es fantastische Anpassungen des Lebens zu entdecken, von denen im Folgenden ein paar Beispiele genannt sein sollen.
Holzabbau in der Tiefsee
In der Tiefsee wachsen keine Bäume, und doch kann aus einem abgesunkenen Baumstamm am Meeresgrund eine Oase des Tiefseelebens werden – zumindest bis das Holz vollständig zersetzt ist. Alle helfen sich gegenseitig: Schiffbohrwürmer (Xylophaga-Muscheln) zerkauen die Holzfasern in Späne, Bakterien des Tiefseebodens können dann die schwerverdauliche Cellulose aus dem Holz weiter zersetzen, andere fixieren dabei Stickstoff und verbessern so die Nahrungsqualität des Holzes. Der Umsatz von Holz verbraucht Sauerstoff und ermöglicht dann die Produktion von Schwefelwasserstoff durch sulfatreduzierende Mikroorganismen. So können von Schwefel als Energiequelle abhängige Muschelarten, die sonst nur an kalten oder heißen Quellen vorkommen, das Holz vorübergehend besiedeln [2]. Die zufälligen Holzeinträge begünstigen also nicht nur die Verbreitung seltener Tiefseetiere, sondern bilden auch Hotspots des Lebens am Meeresgrund (Abbildung 2). Abbildung 2. Leben von Holz: Besiedlung von Holz in der Tiefsee und die Ausbildung sulfidischer Nischen am Meeresboden. Nähere Erläuterungen im Text. © Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie/aus [2]
Methanzehrende Mikroorganismen im Meeresboden
In methanreichen Tiefseeböden leben Archaea in Symbiose mit sulfatreduzierenden Bakterien. Sie wandeln das durch Fäulnis organischer Materie gebildete Methan zu Kohlendioxid und Sulfid um und verhindern die Entgasung in den Ozean und die Atmosphäre. Der hohe hydrostatische Druck bedingt, dass sich in der Tiefsee wesentlich mehr Methan im Wasser lösen kann als unter den Bedingungen an Land. Die Energie des Methans wird durch die Mikroorganismen ins Nahrungsnetz gespeist und bildet die Grundlage reichhaltiger Ökosysteme [6].
Einige wenige dieser methanotrophen Mikroorganismen kommen in allen Tiefseeböden vor [7] und wirken dem Treibhauseffekt des Methans also entscheidend entgegen. Würde alles Methan, das im Meeresboden entsteht, auch in die Atmosphäre gelangen, zeigten sich das Erdsystem und das Klima völlig anders, als wir es heute kennen. Kürzlich wurde entdeckt, dass für die Umwandlung von Methan zu Kohlendioxid und Sulfide die Archaeen und sulfatreduzierenden Bakterien winzige Kabelnetzwerke zwischen den Zellen bilden, vermutlich, um direkt Elektronen austauschen zu können (Abbildung 3; [6]).
Abbildung 3. Leben von Methan. (a) Mikroskop-Aufnahmen verschiedener methanotropher Mikroorganismen vom Tiefseeboden. (b) Elektronenmikroskopie von Nano-Drähten zwischen methanotrophen Archaeen und Bakterien. Die Länge des weißen Balkens entspricht einem Mikrometer. Die Pfeile verweisen auf die im Text erwähnten Kabelnetzwerke (Nano-Drähte). (A=ANME-Archaeen, H=HotSeep-1 Partnerbakterien).© Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie/Knittel, Ruff und Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie/nach [8], verändert
Leben in Säure
Eine viel diskutierte technische Lösung, den zunehmenden Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre in den Griff zu kriegen, ist, das bei industriellen Prozessen entstehende CO2 abzuscheiden und im Meer in tiefe Bodenschichten einzuleiten – zum Beispiel in entleerte Erdöl-Speicher. Doch was, wenn es Lecks gäbe und das CO2 auslaufen würde? Kohlendioxid löst sich nämlich gut in Meerwasser und könnte dieses stark ansäuern, besonders unter den hohen Drücken der Tiefsee. Ein niedriger pH-Wert und hoher CO2-Gehalt könnten sich sehr schädlich auf die Tiefseeumwelt auswirken. Daher wird derzeit in einer Reihe von internationalen Projekten erforscht, wie die Meeresumwelt reagieren könnte – eine Frage, die sich zusätzlich aus der zunehmenden CO2-Lösung im Meer ergibt, genannt Ozeanversauerung. Forschung an natürlichen heißen CO2-Quellen im Meer zeigt, dass der Säuregehalt einen erheblichen Einfluss auf die biogeochemischen Funktionen sowie die Verteilung und Zusammensetzung der Mikroorganismen an sauren Quellen hat [9]. Bei Übersäuerung kommen manche Funktionen gar und ganz zum Erliegen, eine Anpassung scheint für die meisten Lebewesen nur bei geringen Säuregraden möglich. Einige wenige Arten können sich wiederum - bei hoher Energieverfügbarkeit - an ein Leben in Säure anpassen (Abbildung 4), doch welche zellulären Prozesse sie dabei nutzen, ist noch nicht bekannt.
Abbildung 4. Leben in Säure: Wenige Arten können die sauren Fluide der heißen CO2-Quellen des Yonaguni Mounds (Okinawa-Trog) überleben, dazu gehört eine Krabbenspezies, auf deren Panzer Schwefelbakterien leben. © MARUM, Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen: FS SONNE Expedition SO196; ROV QUEST
Ausblick
Auch wenn die Wissenschaft erst ganz am Anfang steht, die Vielfalt und Funktionen unbekannter Mikroorganismen am Meeresboden zu erfassen, so ist dieses Wissen wichtig, um Fragen zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Erde zu beantworten. Es wird genutzt, um zu beurteilen, wie der Klimawandel Leben in der Tiefsee der Arktis verändert, ob Bakterien nach Erdölunfällen in der Tiefsee die Verschmutzung beseitigen können oder ob ein möglicher Tiefseebergbau die Recycling-Funktionen des Meeresbodens verringern könnte. Es stehen neue Technologien zur Verfügung, das Leben am Meeresboden zu beobachten und seine Interaktion mit der Umwelt zu untersuchen. Dabei sind einige der kürzlich entdeckten Meeresumwelten so fremdartig, dass sie als Parallelen zu möglichen Lebensräumen auf anderen Himmelskörpern gelten – zum Beispiel Leben im und unter dem Eis [10], im Gashydrat, in CO2-Seen, in Salzlaken und im tiefen Untergrund. Besonders faszinierend ist die neue Erkenntnis, dass trotz der enormen Vielfalt des Lebens in der Tiefsee einige wenige Typen von Mikroorganismen dominieren, die eine bisher ungeahnte Rolle in globalen Stoffkreisläufen spielen.
* Der gleichnamige, aus dem eben erscheinenden Jahrbuch der Max-Planck Gesellschaft 2016 entnommene Artikel ist aufrufbar unter: Forschungsbericht 2016 https://www.mpg.de/9910224/MPI_MM_JB_2016 . Der Artikel wurde mit freundlicher Zustimmung der Autorin und der MPG-Pressestelle ScienceBlog.at zur Verfügung gestellt. Er erscheint hier ungekürzt, die nicht frei zugänglichen Literaturstellen können auf Anfrage zugesandt werden.
Literaturhinweise
[1] Zinger, L.; Amaral-Zettler, L.A.; Fuhrman, J.A.; Horner-Devine, M.C.; Huse, S.M.; Welch, D.B.; Martiny, J.B.H.; Sogin, M.; Boetius, A.; Ramette, A. Global patterns of bacterial beta-diversity in seafloor and seawater ecosystems. PLOS ONE: e24570 (2011). DOI
[2] Bienhold, C.; Pop Ristova, P.; Wenzhöfer F.; Dittmar, T., Boetius, A. How Deep-Sea Wood Falls Sustain Chemosynthetic Life. PLOS ONE 8: e53590 (2013) DOI
[3] Jacob, M.; Soltwedel, T.; Boetius, A.; Ramette, A. Biogeography of benthic bacteria at regional scale in the deep Fram Strait (LTER HAUSGARTEN, Arctic). PLOS One 8: e72779 (2013) DOI
[4] Boetius, A., Albrecht, S.; Bakker, K.; Bienhold, C.; Felden, J.; Fernández-Méndez, M.; Hendricks, S.; Katlein, C.; Lalande, C.; Krumpen, T.; Nicolaus, M.; Peeken, I.; Rabe, B.; Rogacheva, A.; Rybakova, E.; Somavilla, R.; Wenzhöfer F.; and the RV Polarstern ARK27-3-Shipboard Science Party. Export of algal biomass from the melting Arctic sea ice. Science 339, 1430-1432 (2013) DOI
[5] Feseker, T.; Boetius, A.; Wenzhöfer, F.; Blandin, J.; Olu, K.; Yoerger, D.R.; Camilli, R.; German, C.R.; de Beer, D. Eruption of a deep-sea mud volcano triggers rapid sediment movement. Nature Geosciences 5: 5385 (2014) DOI
[6] Boetius, A.; Wenzhöfer, F. Seafloor oxygen consumption fuelled by methane from cold seeps Nature Geoscience 6. 725-734 (2013). DOI
[7] Ruff, S.E.; Biddle, J.; Teske, A.; Knittel, K.; Boetius, A.; Ramette, A. Global dispersion and local diversification of the methane seep microbiome. Proceedings of the National Academy of Sciences USA 112, 4015-4020 (2015). DOI
[8] Wegener, G.; Krukenberg, V.; Riedel, D.; Tegetmeyer, H.E.; Boetius, A. Intercellular wiring enables electron transfer between methanotrophic archaea and bacteria. Nature 526, 587-590 (2015). DOI
[9] de Beer D.; Haeckel, M.; Neumann, J.; Wegener, G.; Inagaki, F.; Boetius, A. Saturated CO2 inhibits microbial processes in CO2-vented deep-sea sediments. Biogeosciences 10, 5639–5649 (2013) DOI
[10] Boetius, A.; Anesio, A.M.; Deming, J.W.; Mikucki, J.A.; Rapp, J.Z. Microbial ecology of the cryosphere: sea ice and glacial habitats. Nature Reviews Microbiology 13, 525 (2015)
Weiterführende Links
Antje Boetius in Videos
Planet Wissen - Expedition in die Tiefsee. Video 58:36 min. https://www.youtube.com/watch?v=7sG8nJoeMOg (Standard-YouTube-Lizenz)
Die geheime Welt der Ozeane: Erforschung des Lebensraums Tiefsee (Vortrag). Video 49:52 min. Tiefseeforscherin Prof. Dr. Antje Boetius über ihre Ziele und Ideen für Wissenschaft im Dialog . Video 3:46 min.
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Gerhard Herndl , 21.02.2014: Das mikrobielle Leben in der Tiefsee
Gottfried Schatz, 22.09.2011: Der kleine warme Tümpel — Was urtümliche Einzeller von der Frühzeit des Lebens berichten
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