Fr, 08.04.2016 - 08:07 — Susanne Donner
Mikrogliazellen sind die erste Linie des Verteidigungssystems im Gehirn. Sie wachen mit ihren mobilen Fortsätzen dauernd über den Gesundheitszustand unseres Denkorgans. Bei Krankheit oder Verletzung begeben sie sich sofort zum Katastrophenherd. Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Susanne Donner beschreibt wie Mikroglia andere Immunzellen zu Hilfe rufen und Bakterien beseitigen, aber auch bei ganz gewöhnlichen Denkvorgängen, wie sie zum Lernen und Umdenken nötig sind, helfen.*
Man muss sich das einmal bildhaft vorstellen: Da oben in der Denkzentrale werkeln nicht nur Milliarden Nervenzellen, also Neuronen, sondern auch so genannte Mikrogliazellen. Diese scannen fortlaufend mit haarfeinen Ärmchen das Gewebe – in etwa wie ein ruhender Tintenfisch, der mit seinen Tentakeln dauernd um sich greift. Gibt es einen Notfall, verwandelt sich die Zelle in eine Art Amöbe und begibt sich flott zum Katastrophenherd. Ja, da oben in der Denkzentrale bewegen sich wirklich ganze Zellen: kein Fleckchen ohne umherschwirrende Wächter mit mobilen Ärmchen. (Abbildung 1)
Abbildung 1. Mikrogliazellen (grün) in der Gehirnrinde einer adulten Maus bilden stark verzweigte Ausläufer, mit denen sie ihre Umgebung abtasten. Benachbarte Neurone sind violett angefärbt, Zellkerne anderer Zellen des Hirngewebes erscheinen blau. / © Marina Matyash
Kein Wunder also, dass die kuriosen Mikroglia – die zu den Gliazellen gehören – hunderte Forscher weltweit in ihren Bann ziehen: Wie machen diese Zellen das bloß?
Immunsystem des Gehirns
Im Groben ist seit vielen Jahren klar: Die mobilen Wächter bilden das Verteidigungs- und Immunsystem des Gehirns. Die Mikroglia wehren an vorderster Front gefährliche Keime - etwa die von Zecken übertragenen Borrelien - ab, wenn diese ins Zentralnervensystem eindringen. Schon 1919 entdeckte Pio del Rio Hortega die Wächterzellen. Aber erst heute weiß man, dass die Mikroglia äußerst wandelbar in ihrer Gestalt und ihren Funktionen sind.
Wächter auf Streife und auf ihrem Beobachtungsposten
Im gesunden Gehirn kommt die Mikrogliazelle zu Hunderttausenden vor und bleibt mit ihrem Zellkörper an einer Stelle im Gewebe. Sie hat jedoch sehr feine Tentakel, mit denen sie ständig das Gewebe ringsum abtastet. Mit ein bis zwei Mikrometern je Minute schieben sich diese Ausläufer voran. An Synapsen, den Verknüpfungen zwischen Nervenzellen, verweilen sie aber mehrere Minuten. Sie scannen also ihre Umgebung und kontrollieren jeweils ein Gebiet mit einem Radius von 15 bis 30 Mikrometern. Dabei hat jede Mikrogliazelle ihr eigenes Territorium. Sie arbeiten sozusagen wie Wächter auf einem Beobachtungsposten. Das Gehirn wird von diesen Aufpassern alle paar Stunden einmal komplett durchforstet, haben Forscher ausgerechnet.
„Es ist die sich am schnellsten bewegende Struktur in unserem Gehirn“, sagt Helmut Kettenmann, Neurowissenschaftler am Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin in Berlin.
Woher man das so genau weiß? Seit 2005 kann man die Mikrogliazellen sogar bei der Arbeit beobachten. Zumindest in Mäusen. In einer genetisch modifizierten Variante stellen die Zellen ein fluoreszierendes Protein her und leuchten unter dem Laser-Mikroskop. Axel Nimmerjahn, Frank Kirchhoff und Fritjof Helmchen (damals an den Max-Planck-Instituten für Medizinische Forschung in Heidelberg und für Experimentelle Medizin in Göttingen) waren die ersten Forscher, die auf diese Weise den Wächtern beim Tagesgeschäft zuschauten.
Neben der sesshaften Form kann die Mikroglia aber auch ganz anders: Verwundet man das Gehirn punktuell, zum Beispiel in einem Experiment mit einem Laser, dann verwandeln sich die umliegenden Mikrogliazellen zu Amöben. Sie ziehen ihre Tentakel teilweise oder komplett ein, dehnen ihren bis dahin runden Zellkörper aus und sind dabei so flexibel, dass sie bildlich gesprochen in jede Nische schlüpfen können. In dieser Gestalt begeben sie sich auf Streife und wandern dann zu einer Wunde. Einige Mikrogliazellen vermehren sich, sodass die Zahl der Einsatzkräfte vor Ort steigt. Sie können andere Immunzellen zu Hilfe rufen, indem sie entsprechende Signalstoffe ausschütten. Und indem sie Sauerstoff- und Stickstoff-Radikale freisetzen, können sie auch eigenmächtig Bakterien und Zellen abtöten. Nicht zuletzt wird an Ort und Stelle aufgeräumt: Bakterien-Bestandteile oder abgestorbene Zellen nehmen die Mikrogliazellen zu diesem Zweck in ihr Inneres auf.
Frühe Geburt der Wächter
Deswegen dachten Wissenschaftler bis vor kurzem, dass die Mikroglia mit den Fresszellen unmittelbar verwandt sind, also jenen Abwehrzellen, die im Blut schwimmen. Auch diese nehmen Bakterien, Viren und andere Krankheitserreger in ihr Inneres auf und machen sie so unschädlich.
Trotz der Ähnlichkeit besteht aber nur wenig Verwandtschaft, wie Neuropathologen um Marco Prinz von der Universität Freiburg nachweisen konnten. Die Mikroglia entstünden vielmehr ganz früh in der Embryonalentwicklung aus embryonalen Stammzellen – die Fresszellen unter den weißen Blutkörperchen hingegen aus Stammzellen des Knochenmarks. Deswegen seien die Mikroglia eine eigenständige Zellklasse, schrieb Prinz 2013 im Journal Nature Neuroscience. „Das weist einmal mehr auf die Bedeutung dieser Zellen hin. Das Zentralnervensystem hat also ein ganz eigenständiges, sich getrennt entwickelndes Immunsystem“, kommentiert Kettenmann.
Nur, woher wissen Mikroglia eigentlich, was sie tun sollen? Diese Frage beschäftigt Kettenmanns Team besonders. Längst geht die Zahl der Signalstoffe, auf die Mikrogliazellen reagieren, in die Hundert. Auf der Oberfläche der Wächterzellen findet man immer neue Andockstellen für solche Substanzen. Interessanterweise ist auch der Energielieferant Adenosintriphosphat (ATP) darunter, der Zellen im Körper generell mit Energie versorgt und nur Experten als Signalmolekül bekannt ist. An Wunden und Entzündungsherden wird es in größerer Menge bereitgestellt und bietet womöglich so den energieintensiven, weil beweglichen Mikroglia reichlich Nahrung für ihre Arbeit. Auch wenn Hirngewebe in einem Experiment mit einem Laser punktuell verletzt wird, sei es vermutlich ATP, das die Mikroglia herbeigerufen hat, schrieb Sharon Haynes von der University of California in San Francisco 2005.
Hunderte Signalstoffe
Die Forscher unterteilen die Fülle der Signalstoffe, auf die die Mikroglia reagieren, in „On-Signale“ und „Off-Signale“. On-Substanzen sind für gewöhnlich nicht oder nur in geringer Menge im Gehirn zu finden. Bei Erkrankungen nimmt dann ihre Konzentration zu und aktiviert die Mikroglia. Dazu zählen die Amyloid-Plaques bei der Alzheimer-Erkrankung, aber auch Zellwandbestandteile von eingedrungenen Bakterien und Entzündungsstoffe wie Zytokine. Off-Substanzen sind hingegen solche Stoffe, die im Gehirn selbst vorkommen. Wenn ihre Konzentration abfällt, dann ist das ein Zeichen für die Mikroglia, sich auf den Weg zu machen zu einem Entzündungsherd. Dazu zählen beispielsweise Chemokine, die von den Nervenzellen gebildet werden.
Forscher gehen derzeit davon aus, dass die Mikrogliazellen wohl bei Krankheiten des Gehirns mit von der Partie sind – ob bei Alzheimer oder Autismus, ob bei Parkinson, nach einem Schlaganfall oder bei Schizophrenie. Und da sie als Wächter fähig sind, Bakterien und sogar andere Zellen umzubringen, vermuteten Forscher lange Zeit, dass sie bei einigen dieser Leiden außer Rand und Band geraten und massenhaft Zellen umbringen. So könnten sie den Untergang Tausender Neuronen bei einer Demenz zu verantworten haben. Bei einer Multiplen Sklerose richten sie sich nachweislich gegen Myelin, die schützende Hüllsubstanz der Nervenzellfortsätze. Die Mikrogliazellen sind vom Immunsystem so fehlgesteuert, dass sie das körpereigene Myelin als etwas Körperfremdes ansehen und wie einen Eindringling in ihr Inneres aufnehmen. Sie präsentieren sogar Myelin-Fragmente auf ihrer Zelloberfläche als Antigen und rufen somit andere Immunzellen herbei, zunächst T-Zellen und diese dann wiederum Makrophagen, die Fresszellen. „Damit bringen die Mikroglia die Körperabwehr gegen das Schutzmaterial für Nervenfasern auf und begründen womöglich die Autoimmunerkrankung“, sagt Mathias Heikenwälder, Virologe vom Helmholtz Zentrum München. Indem Mikroglia Antigene präsentieren, lenken sie das Immunsystem.
Geschwächte Wächter
Doch mittlerweile geht man davon aus, dass die Mikroglia bei vielen Erkrankungen nicht übereifrig sind, sondern – im Gegenteil – ihren Aufgaben aus den verschiedenen Gründen nicht richtig nachkommen können. „Einige Arbeiten weisen nach, dass eine Verminderung der Mikroglia schlecht für den Gesundheitszustand ist“, schildert Heikenwälder. Die Mikroglia könnten insofern sogar ein Ansatzpunkt für Therapien sein. Darauf deuten Experimente an Mäusen mit einer Form des Autismus hin, dem Rett-Syndrom. Die Tiere haben Bewegungsstörungen und leben kürzer. Auch ihre Mikroglia sind gestört. Die Zellen nehmen nicht mehr genug defekte Zellen und Bakterien in ihr Inneres auf, um diese so unschädlich zu machen. Wird nur diese Fähigkeit durch einen Eingriff ins Erbgut wieder hergestellt, schwinden die Beeinträchtigungen der Mäuse.
Für Gesprächsstoff unter Forschern sorgt auch, dass die Mikroglia, anders als bislang vermutet, bei normalen Gedächtnisfunktionen mit von der Partie sind. So können sie Verknüpfungen zwischen Nervenzellen, so genannte Synapsen, beseitigen. Dieser Vorgang ist für das Lernen, aber auch das Vergessen bedeutsam. Damit wirken die Mikroglia im Guten wie im Schlechten, denn wir müssen vergessen, um Neues zu lernen, aber wir müssen uns auch erinnern, um im Alltag zurechtzukommen. „Die Mikroglia sind nicht nur ein pathologischer Sensor, sondern haben auch im normalen gesunden Gehirn allerhand Funktionen“, bekräftigt Kettenmann.
In dieses Bild passt auch, dass die Mikroglia im alternden Gehirn oft geschwächt sind: Sie bekommen eine andere Form, sie reagieren langsamer oder wandern gar nicht mehr in Schadensgebiete. Der lahme Wächter dürfte also zum altersbedingten Nachlassen der Geisteskraft beitragen.
zum Weiterlesen:
Kettenmann H, Verkhratsky A: Neuroglia, der lebende Nervenkitt. Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie. 2011 Oct; 79(10): 588-597 (Abstract: https://www.mdc-berlin.de/1157090/en/research/research_teams/cellular_ne...).
Kettenmann H, Kirchhoff F, Verkhratsky A: Microglia: New Roles for the Synaptic Stripper, Neuron Perspective. 2013 Jan; 77(1): 10-18 (http://www.cell.com/neuron/abstract/S0896-6273%2812%2901162-2?_returnURL...).
Kierdorf K et al.: Microglia emerge from erythromyeloid precursors via PU.1 and IRF-8 dependent pathways. Nature Neuroscience. 2013 Mar;16(3): 273-280 (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23334579).
*Der Artikel ist der Webseite www.dasgehirn.info entnommen und steht unter einer CC-BY-NC Lizenz: https://redaktion.dasgehirn.info/entdecken/glia/mikroglia-die-mobilen-un...
www.dasGehirn.info ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe
Weiterführende Links der Webseite www.dasGehirn.info:
Arvid Leyh: Die Welt der Gliazellen, Video 3:37 min. (Lizenz: CC-BY-SA ) https://redaktion.dasgehirn.info/entdecken/glia/die-welt-der-gliazellen-...
Arvid Leyh: Gliazellen live. Video 3:30 min (Lizenz: CC-BY-SA-ND) https://redaktion.dasgehirn.info/entdecken/glia/gliazellen-live-1886/
Arvid Leyh: Helmut Kettenmann über Gliazellen. Video 13:07 min. (Lizenz: CC-BY-NC ) https://redaktion.dasgehirn.info/entdecken/glia/helmut-kettenmann-ueber-...
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