Medikamente in Abwässern - Konzepte zur Minimierung von Umweltschäden
Medikamente in Abwässern - Konzepte zur Minimierung von UmweltschädenDo, 10.06.2021 — Redaktion
Nachdem Arzneimittel den Körper eines Patienten passiert haben, wird das, was noch an Wirkstoffen und daraus entstandenen Metaboliten vorhanden ist, in die Kanalisierung ausgeschieden und trägt damit wesentlich zur Wasserverschmutzung bei. Nur von einer Handvoll der insgesamt etwa 1900 Wirkstoffe ist das damit verbundene Risiko für Tierwelt und menschliche Gesundheit untersucht. Zwei neue Projekte wollen nun dazu wichtige Informationen erarbeiten. i) Das EU-finanzierte REMEDI-Projekt ist auf Röntgen-Kontrastmittel fokussiert, die gegen herkömmliche Abwasserbehandlung resistent sind; diese sollen herausgefiltert und - wenn möglich - einer Wiederverwendung zugeführt werden. ii) Das IMI-Projekt PREMIER hat zum Ziel Dossiers zur Risikobewertung der meisten - zum Teil schon recht alten - pharmazeutischen Wirkstoffe zu erstellen.*
In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Besorgnis über die vielen Arzneimittel angestiegen, die mit dem Abfall in die Kanalisation gespült werden und in die Abwassersysteme gelangen. Abbildung 1.Zum Großteil stammen diese Substanzen aus dem Urin und dem Kot von Patienten, die Medikamente eingenommen haben. Auch wenn die Substanzen den menschlichen Körper und danach die Kläranlagen passiert haben, kann man sie noch in Flüssen und Seen und möglicherweise sogar in unseren Böden nachweisen. Arzneimittel wie u.a. Cholesterin-Senker, Betablocker, Antiepileptika, Entzündungshemmer und Antibiotika sowie illegale Substanzen wurden alle in Abwasserkanälen und nahegelegenen Wasserstraßen gefunden.
Abbildung 1: .Über die letzten zwei Jahrzehnte macht man sich zunehmend Sorgen über all die Medikamente, die über die menschlichen Ausscheidungen in die Kanalisation und von dort in die Gewässer und das Grundwasser gelangen (Bild: pixabay) |
„Viele Menschen sind der Ansicht, dass Kläranlagen das Wasser sauber machen, allerdings wurden solche Anlagen gebaut, um Stickstoff und Phosphate zu entfernen, nicht aber Arzneimittel“, sagt Professor Ad Ragas, Umweltwissenschaftler an der Radboud University in den Niederlanden und Koordinator des PREMIER-Projekts (s.u.). „Diese Arzneimittel gelangen zusammen mit anderen Mikroverunreinigungen in die Umwelt.“
Mehr als 600 pharmazeutische Substanzen wurden weltweit in Gewässern identifiziert, weitere finden ihren Weg in terrestrische Ökosysteme. Zumindest von einigen dieser Verbindungen ist bekannt, dass sie unerwünschte Auswirkungen auf lebende Organismen haben.
Berühmt-berüchtigt ist das Beispiel, das sich Ende des letzten Jahrhunderts in Indien ereignete. Bis Ende der 1980er Jahre kreisten dort Millionen Geier am Himmel und hielten nach Kadavern Ausschau. In den 1990er Jahren brachen die Geierzahlen aber auf mysteriöse Weise ein, in einigen Populationen um mehr als 99%. Die Wissenschaftler waren vorerst ratlos, dann aber wurde 2004 entdeckt, dass die Vögel durch Diclofenac ("Voltaren", siehe dazu [1]; Anm. Redn.) getötet wurden, einem Arzneimittel, das routinemäßig aber auch an indische Nutztiere verfüttert wurde. Bei Rindern ist Diclofenac ein billiges entzündungshemmendes Mittel, bei Geiern verursachte es dagegen Nierenversagen und den Tod.
„Dieser Vorfall hat viele Diskussionen über die Auswirkungen von Arzneimitteln auf Tierwelt und Umwelt ausgelöst“, sagt Prof. Ragas. 2006 wurde die Verwendung von Diclofenac im Veterinärgebiet in Indien verboten. Nun, 15 Jahre später nimmt weltweit die Sorge um die Freisetzung von Arzneimitteln und deren Abbauprodukten in die Umwelt zu – und das aus gutem Grund.
Alljährlich steigt der Verbrauch von Arzneimitteln sowohl im Humansektor als auch im Veterinärgebiet, jedoch sind viele Fragen zu den Auswirkungen der nachgewiesenen Verunreinigungen mit Arzneimitteln sowohl auf die menschliche Gesundheit als auch auf die Ökosysteme unseres Planeten ungeklärt.
2013 haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union eine Reihe von Arzneimitteln, darunter auch einige Antibiotika, auf eine Watchlist von Stoffen gesetzt, die in Gewässern der EU sorgfältig überwacht werden sollten. Dies war das erste Dokument, das Stoffe von unbestrittenem medizinischen Wert enthält, die eine potenzielle Bedrohung für empfindliche Ökosysteme darstellen.
Bildgebende diagnostische Verfahren
Krankenhäuser sind ein wesentliche Quelle von pharmazeutischen Wirkstoffen, und - wie Studien ergeben haben - werden viele der aus Krankenhäusern stammenden Chemikalien von Kläranlagen nicht vollständig entfernt. Abbildung 2. Besonders problematisch sind jodierte Röntgenkontrastmittel (iodinated contrast media - ICMs), die häufig vor einem diagnostischen Scan wie einem CT oder MRT in den Blutkreislauf eines Patienten injiziert werden, damit sich das Weichteilgewebe vom Untergrund abhebt.
Abbildung 2: Aus Krankenhäusern stammende Chemikalien können von Kläranlagen nicht vollständig entfernt werden. (Bild: Ivan Bandura/Unsplash) |
ICMs werden im Körper nicht abgebaut (über 95 % verbleiben unmetabolisiert), so ausgeschieden und in das Abwassersystem gespült. Forscher sind der Ansicht, dass ICMs wesentlich zur Belastung durch persistierende Chemikalien im Abwasser beitragen. ICM-Nebenprodukte (wie sie beispielsweise in Gegenwart des Desinfektionsmittels Chlor entstehen, Anm. Redn) hat man – oft in erhöhten Konzentrationen – in Flüssen, Seen, Grundwasser und sogar im Trinkwasser gefunden. Sie kommen auch im Boden vor und stellen dort, wo landwirtschaftliche Flächen kontaminiert sind, ein potenzielles Risiko sowohl für den Menschen als auch für die Tierwelt dar. Organische Halogenverbindungen sind Nebenprodukte von Kontrastmitteln. Lässt man zu, dass sich diese Chemikalien im Boden und im Wasser in hohen Konzentrationen anreichern, so können sie toxische Wirkungen auslösen.
Professor Alberto Guadagnini vom Department für Bau- und Umweltingenieurwesen der Polytechnischen Universität Mailand sagt: „Wir haben noch keine Ahnung, wie groß das Risiko ist, wenn sich diese Stoffe in hohen Konzentrationen im Grundwassersystem anreichern.“
Die Daten zur Ausbreitung von ICMs – und dazu, was man tun kann, um sie sicher zu entfernen – sind lückenhaft. Mit dem steigenden Alter der Bevölkerung erwartet man eine Zunahme von chronischen und komplexen Begleiterkrankungen; dementsprechend wird die Zahl der weltweit durchgeführten Diagnosen mittels bildgebender Verfahren wahrscheinlich auch steigen. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass weltweit mehr als 45.000 klinische CT-Scanner in Betrieb sind. Allein in einem italienischen Krankenhaus – dem San Raffaele in Mailand – werden jährlich 30.000 solcher diagnostischer Tests durchgeführt.
Recyceln
Prof. Guadagnini hofft einige der Wissenslücken durch das kürzlich gestartete vierjährige EU-Projekt REMEDI (https://cordis.europa.eu/project/id/956384/de) zu schließen; das Projekt zielt darauf ab, neue Techniken zum Abfangen und Entfernen von Röntgenkontrastmitteln aus Wasser und Boden zu prüfen.
„Kontrastmittel herauszufiltern ist nur ein Teil der Herausforderung – wir möchten sie auch recyceln“, sagt Prof. Guadagnini. „Jod und Barium (die in Kontrastmitteln verwendet werden) sind wertvolle Substanzen. Es wäre vorzuziehen, dass sie von der Industrie wieder verwendet würden anstatt sich in der Umwelt anzureichern.“
Das Team von Prof. Guadagnini konzentriert sich auf Eisenoxide, deren Fähigkeit Kontrastmittel zu binden nachgewiesen ist. Eisenoxide können jedoch nicht direkt in Seen und Flüssen eingesetzt werden, um ICMs zu binden, da sie das Wasser saurer machen. Stattdessen werden die Forscher versuchen mit diesen Verbindungen ICMs abzufangen, bevor diese natürliche Gewässer erreichen.
"Die Grundidee Kontrastmittel aufzufangen besteht darin ein poröses Material zu entwickeln, welches das Sediment des Flussbettes nachahmt und Teil des Filtersystems ist, das Flusswasser filtert, um es trinkbar zu machen", sagt er. „Eine solche feste Matrix soll die Kontrastmittel abfangen. Sobald sie abgebunden sind, können wir sie herausholen und die Möglichkeit für eine Wiederverwendung prüfen.“
Aber auch mit diesen Maßnahmen wird ein Teil der ICM in Fließgewässer und damit ins Grundwasser gelangen. Wie gravierend diese unvermeidliche Einfließen für natürliche Gewässer sein wird, wollen die REMEDI-Forscher bestimmen. In einem parallelen Arm des Projekts wird versucht, die damit verbundenen Risiken zu bewerten und zu quantifizieren.
Auch wenn das Projekt noch ganz am Anfang steht, sieht sich Prof. Guadagnini durch eine wachsende öffentliche Diskussion über Verunreinigungen durch Pharmaka bestärkt. „Die Leute beginnen, dies als ein Problem zu sehen, das man angehen muss“, sagt er. „Sie sind besorgt, weil man über die Risiken für die Umwelt noch zu wenig weiß; auf Grund der wirtschaftlichen Vorteile, die Rückgewinnung und Wiederverwendung einiger dieser Verbindungen bringen könnten, gewinnt das Thema auch für die Industrie an Bedeutung.“
Risiken
Seit 2006 wird ein neues Arzneimittel in der EU nur noch zugelassen, wenn es mit einer Umweltrisikobewertung – einem Dossier zur Quantifizierung des voraussichtlichen Umweltrisikos eines Wirkstoffs – versehen ist. Dies kann für Krankenhäuser ein wichtiger Anstoß sein herauszufinden, wie die Risiken von Medikamenten und anderen Verbindungen, die sie Patienten verabreichen, am besten verringert werden können. Beispielsweise könnte entschieden werden, den Harn eines Patienten zu sammeln, anstatt ihn in die Toilette zu spülen.
Die Erstellung solcher Risikobewertungen ist jedoch kostspielig (etwa 500.000 € /Bewertung), und obwohl dies nur ein winziger Bruchteil der Gesamtkosten für die Markteinführung eines neuen Arzneimittels ist, summiert es sich zu den Gesamtkosten von Forschung und Entwicklung neuer Therapien. Das Gesetz gilt auch nur für neue Medikamente.
„Vor 2006 waren unserer Schätzung nach bereits zwischen 1.000 und 1.800 Medikamente auf dem Markt“, sagt Prof. Ragas. „Arzneimittel wie Paracetamol (im Jahr 2016 konsumierten die Europäer davon 48.400 Tonnen) sind nie systematisch auf ihre Umweltauswirkungen untersucht worden.“
Das vorrangige Ziel des PREMIER-Projekts ist es Dossiers zur Risikobewertung retrospektiv zu erstellen (PREMIER: Prioritisation and risk evaluation of medicines in the environment - Projekt der Innovative Medicines Initiative - IMI; https://www.imi.europa.eu/projects-results/project-factsheets/premier; Anm. Redn.). Die Forscher des Projekts verwenden Computermodelle, um intelligente und erschwingliche Vorhersagen sowohl über die Toxizität eines Arzneimittels als auch über die Wahrscheinlichkeit einer Exposition mit negativen Auswirkungen auf aquatische Ökosysteme zu treffen.
„Durch die Entwicklung kluger Verfahren wollen wir vermeiden, alle Medikamente testen zu müssen“, sagt Prof. Ragas. „Wenn wir ein Molekül und seine Eigenschaften kennen – zum Beispiel wie gut es abgebaut wird und in Wasser löslich ist – können wir Modelle erstellen, die vorhersagen, wie schnell es (aus der Umwelt) verschwinden wird.
„Wir hoffen, von unseren Modellen sagen zu können: „Diese 50 Chemikalien sind höchstwahrscheinlich die riskantesten“. Mit diesen Chemikalien können wir dann kostspieligere Tests durchführen und Schlussfolgerungen ziehen.
Prof. Ragas und sein Team wollen auch herausfinden, wie sich ein bestimmtes Arzneimittel auf verschiedene Spezies auswirkt. „Beispielsweise auf Fische“, so Prof. Ragas. „Wenn bekannt ist, dass ein Arzneimittel auf ein Molekül in menschlichen Nervenzellen abzielt, werden wir anhand einer genetischen Datenbank untersuchen, ob dieses Zielmolekül (Target) auch in Fischen vorhanden ist. Ist das Gen, das beim Menschen für das Zielmolekül kodiert, auch in Fischen vorhanden, wissen wir, dass Fische wahrscheinlich auf dieselbe Chemikalie empfindlich reagieren.“
Prof. Ragas hofft, dass diese Informationen die Bewertung der Risiken, die sowohl alte als auch neue Medikamente für die Umwelt darstellen, erleichtern können, und so Schritte unternommen werden können, um die schädlichsten zu kontrollieren.
„Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen dem gesundheitlichen Nutzen von Arzneimitteln für den Menschen und den Folgen für die Umwelt finden“, sagt er. „Meine größte Hoffnung ist, dass wir den gesamten Bereich von Arzneimittelverbrauch und -entwicklung in eine Richtung lenken können, in der Menschen von den positiven gesundheitlichen Auswirkungen von Medikamenten profitieren können, ohne einen Schaden für die Umwelt zu verursachen.“
[1] Inge Schuster, 07.08.2020: Voltaren (Diclofenac) verursacht ein globales Umweltproblem
* Dieser Artikel wurde ursprünglich am 27. Mai 2021 von Vittoria D'Alessio in Horizon, the EU Research and Innovation Magazine unter dem Titel " Recovering drugs from sewers could reduce harm to wildlife" https://horizon-magazine.eu/article/recovering-drugs-sewers-could-reduce-harm-wildlife.html publiziert. Der unter einer cc-by-Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt und durch einige Anmerkungen (Anm. Redn.) ergänzt.
Weiterführende Links
Horizon: The EU Research and Innovation Magazine
imi - Innovatve Medicines Initiative - Europe’s partnership for health: https://www.imi.europa.eu/
Christian R. Noe, 09.01.2015: Neue Wege für neue Ideen – die „Innovative Medicines Initiative“