Wir stehen erst am Anfang der Coronavirus-Pandemie - Interview mit Peter Piot
Wir stehen erst am Anfang der Coronavirus-Pandemie - Interview mit Peter PiotDo, 09.07.2020 — Redaktion
Der weltweit anerkannte Virologe Professor Dr.Peter Piot, hat die letzten 40 Jahre damit verbracht Viren aufzugspüren und zu bekämpfen. Zusammen mit Kollegen hat er 1976 das Ebolavirus entdeckt, ab den 1980er Jahren den Kampf gegen HIV/AIDS geleitet (dabei den Übertragungsmodus entschlüsselt) und war u.a. Direktor des Anti-HIV Programms der UNO. Der nunmehrige Direktor der Londoner Schule für Hygiene und Tropenmedizin (UK) und Sonderberater der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, für Coronavirus hat sich Anfang dieses Jahres mit dem Coronavirus selbst infiziert. In dem Interview mit dem EU Research and Innovation Magazine Horizon spricht er darüber, wie Covid-19 seine Sicht auf die Krankheit verändert hat, warum wir einen Impfstoff brauchen und über die langfristigen Auswirkungen der Pandemie.*
"Wir stehen erst am Anfang der Coronavirus-Pandemie, obwohl die zweite Welle einen anderen Verlauf nehmen kann als die erste", sagt der renommierte Virologe Prof. Peter Piot (Abbildung 1).
Abbildung 1. Prof. Dr. Peter Piot, Direktor der London School of Hygiene and Trpical Medicine. |
Horizon (H): Das wichtigste zuerst. Nach 40 Jahren, in denen Sie Jagd auf Viren gemacht hatten, kamen Sie kürzlich selbst in engen Kontakt mit dem Coronavirus. Wie geht es Ihnen jetzt?
Peter Piot (P.P.): Vom Beginn der Erkrankung bis, dass ich wiederhergestellt war, hat es drei Monate gedauert; jetzt bin ich wieder mehr oder weniger gesund. Was ich erlebt habe, hat mir aber gezeigt, dass Covid-19 mehr ist als nur ein bisschen Grippe oder dass 1% auf die Intensivstation kommen und sterben. Da liegen Welten dazwischen.
Die Erkrankung hat mir aber zu neuen Einsichten verholfen. Jetzt kenne ich das Virus auch von Innen her - nicht bloß von der Seite des Untersuchens oder Bekämpfens. Der Blickwinkel ist ein völlig anderer geworden..
H: Inwiefern?
PP: Vor allem, weil es in dieser Krise um Menschen geht. Im Großteil der offiziellen Covid-19-Kommunikation geht es um die Abflachung der Kurve und kaum um Menschen. Was dann die Einsichten betrifft, ist esTatsache, dass es hier keine Frage "Grippe oder Intensivpflege" ist. Es wird viele Menschen mit Langzeitfolgen geben.
Meine persönliche Motivation gegen das Virus zu kämpfen ist nun doppelt so hoch geworden. Nachdem ich den größten Teil meines Lebens gegen Viren gekämpft habe, haben sie mich jetzt eingeholt; einen gewaltigen Unterschied macht meiner Meinung aber die menschliche Erfahrung. In Holländisch bezeichnen wir das mit ervaringsdeskundige - aus Erfahrung ein Experte geworden. Ein Begriff, der aus der Sozialpolitik kommt. Man hat also nicht nur Experten, die den Leuten sagen, was für sie gut ist. Man spricht auch mit den Betroffenen. Ich komme ja aus der AIDS-Bewegung. Bei HIV würden wir nicht im Traum daran denken, Forschung zu designen, zu entwickeln oder sogar zu betreiben, ohne Menschen mit HIV einzubeziehen. Das ist eben meine Meinung.
H: Derzeit gibt es weltweit mehr als 9 Millionen Fälle (12,04 Millionen; update Redn. am 9.7.2020 ), und die Pandemie hat Einzug in Lateinamerika gehalten. Wie sehen sie die aktuelle Situation?
P.P.: Ehrlich gesagt sind diese Zahlen zuallererst sicherlich unterschätzt, da es sich ja nur um bestätigte Fälle handelt. Wir sind also wahrscheinlich Zahlen von mehr als 20 Millionen weit näher und erreichen bald eine halbe Million Todesfälle (am 9.7.2020 waren es bereits knapp 550 000 Todesfälle; Anm. Redn.).
Neben HIV, einer stillen Epidemie, an der jedes Jahr immer noch 600.000 Menschen sterben, und der spanischen Grippe ist das Coronavirus sicherlich die größte nicht nur epidemische, sondern auch gesellschaftliche Krise in Friedenszeiten.
Denken wir an Europa, so ist es fast jedem Land gelungen die Ausbreitung des Virus einzudämmen - das sind gute Nachrichten. Die Gesellschaften machen nun kehrt und lockern verschiedene Maßnahmen.
Jetzt müssen wir uns auf eine sogenannte zweite Welle vorbereiten. Ich hoffe, dass es kein Tsunami werden wird, sondern eher in der Art der Ausbrüche, die wir bereits sahen, wie beispielsweise in einer Fleischverarbeitunggsanlage in Deutschland oder im Bereich von Nachtclubs in Korea. Auch in Großbritannien gibt es immer noch Ausbrüche in einigen Pflegeheimen. Ich denke, wir müssen uns jetzt darauf vorbereiten.
Die Wahrheit ist: Wir stehen erst am Anfang dieser Pandemie. Solange es Menschen gibt, die für Infektionen anfällig sind, wird uns das Virus liebend gerne infizieren - es benötigt unsere Zellen ja zum Überleben.
H: Gibt es Grund zum Optimismus?
P.P.: Die gute Nachricht ist eine bisher beispiellose wissenschaftliche Zusammenarbeit. Es ist schwierig, mit all den neuen Informationen und wissenschaftlichen Erkenntnissen Schritt zu halten, die über etwas herauskommen, das - man glaubt es kaum - erst fünf Monate alt ist.
Manchmal sage ich: "Mein Gott, wie kann ich mit all den Veröffentlichungen Schritt halten?" Andererseits ist es gut damit ein Problem zu haben, da in früheren Epidemien Informationen nicht ausgetauscht wurden. Bisher ebenfalls beispiellos ist, dass Industrie und Länder enorm in die Entwicklung von Impfstoffen, Therapeutika u.a. investieren. Es gibt also einen Silberstreifen.
H: Wenn wir erst am Anfang der Pandemie stehen, wie lange könnte diese dauern?
P.P.: Ich habe meine Kristallkugel nicht mit; es könnte sich aber um mehrere Jahre handeln. Kurz- oder mittelfristig könnte meiner Meinung nach ein Impfstoff einen großen Unterschied machen, obwohl ich meine Zweifel habe, dass es ein 100% wirksamer Impfstoff sein wird. Es wurde versprochen, dass möglicherweise bis Oktober Hunderte Millionen Impfstoffdosen verfügbar sein werden. In der Praxis wird es eher 2021 werden; damit könnte die Epidemie tatsächlich weitgehend unter Kontrolle gebracht werden.
Die geänderte Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, werden wir aber weiterhin beibehalten müssen. Sehen Sie sich zum Beispiel Japan an: dort tragen Menschen seit Generationen Gesichtsmasken, auch wenn sie nur erkältet sind, um andere zu schützen. Wir zählen auf einen Wunderimpfstoff, daneben besteht auch die Notwendigkeit einer breiten Verhaltensänderung.
H: Der von der Europäischen Kommission veranstaltete Spendenmarathon hat Zusagen in Höhe von fast 10 Mrd. EUR mobilisiert, die für Impfstoffe, Behandlungen, Tests und eine Stärkung der Gesundheitssysteme aufgeteilt werden (Abbildung 2). Was sind aus Ihrer Sicht die Prioritäten für die Vergabe dieses Geldes - und reicht das Geld?
P.P.: Das Spendensammeln ist aus zwei Gründen notwendig: um sicherzustellen, dass Geld vorhanden ist und, um einen für alle gleichberechtigten Zugang zu Impfstoffen und anderen Ressourcen zu gewährleisten. Den höchsten Bedarf gibt es in der Entwicklung und Produktion von Impfstoffen.
Enorm wichtig ist jedoch, dass die Mittel nicht nur für Forschung und Entwicklung da sind, sondern auch für die Einsetzung von Mechanismen, damit auch Länder Zugang zu Impfstoffen haben, die diese entweder nicht selbst herstellen oder sehr arm sind.
Insgesamt könnte man sagen, es ist ein Menge Geld, aber es ist nicht genug.
H: Warum nicht?
P.P.: Was auch noch nie da war, ist, dass wir über Milliarden und nicht über Millionen Menschen sprechen, die geimpft werden müssen. So etwas wurde noch nie versucht. Etwa 4 oder 5 Milliarden Menschen werden Zugang zu dem Impfstoff benötigen. Und das bedeutet auch Milliarden von Glasfläschchen, die mit dem Impfstoff befüllt werden müssen - es sind grundlegende Dinge, um die man sich kümmern muss.
Unternehmen und Regierungen müssen das Risiko eingehen in die Produktion einer Vakzine zu investieren, ohne zu wissen, ob diese dann tatsächlich wirksam sein wird. Das ist eine enorme Herausforderung; dass auch öffentliche Gelder benötigt werden, ist darin begründet, dass damit ein öffentliches Gut entstehen wird.
Es gibt dann das Thema „Impfstoff-Nationalismus“. Begonnen hat es damit damit, dass die USA sagten, dass in den USA hergestellte Impfstoffe für Amerikaner bestimmt sind. Wenn jedes Land genau so verfährt, wird die Mehrheit der Menschen auf der Welt ausgeschlossen, da nur sehr wenige Länder Impfstoffe herstellen.
H: Wie stellen wir also sicher, dass niemand zurückgelassen wird?
Das ist eine wichtige Frage. Ich denke, dass das letztendlich ein politisches Problem sein wird. Deshalb betone ich, dass bei der von der Kommission veranstalteten Spendeninitiative der gleichberechtigte Zugang zur Vakzine ein integraler Bestandteil ist. Es geht nicht nur darum, Geld für die Entwicklung eines Impfstoffs zu sammeln. Es geht darum, Geld für die Entwicklung eines Impfstoffs zu sammeln, der für alle verfügbar ist, die ihn brauchen. Dies ist ein ziemlich großer Unterschied.
H: In einem Interview im Mai haben Sie gesagt: wir "lernen während wir segeln" und "ohne Impfstoff kann keine Rückkehr in ein normales Leben erfolgen." Ist dies heute noch Ihre Meinung?
P.P.: Es ist jetzt etwas nuancierter geworden. Nun sage ich, "wir lernen, während wir Rennen fahren", weil das Segeln ziemlich langsam ist. Derzeit fahren alle Rennen. Und ja, ich denke immer noch, dass es ohne Impfstoff extrem schwierig sein wird, zu einer normalen Gesellschaft zurückzukehren.
Es wird viel davon abhängen, ob Impfstoffe vor Übertragung schützen. Anders ausgedrückt: wenn ich geimpft bin, kann ich die Krankheit nicht bekommen, oder - wie im Fall der Influenza - der Impfstoff ist speziell geeignet, um schwere Erkrankung und Mortalität zu verhindern.
Es gibt viele Unbekannte.
Für mich haben Wissenschaft und Ansprechen auf den Impfstoff oberste Priorität, denn ohne diesen bedeutet es, dass wir jahrelang mit dem Virus leben müssen.
H: Gibt es einen Impfstoff-Kandidaten, der sie überzeugt und den Sie herausstellen können?
P.P.: Es gibt deren ein paar. Das Schöne aber ist momentan, dass es sehr unterschiedliche Ansätze zur Herstellung eines Impfstoff gibt. Man nutzt vollkommen neue Ansätze mittels der Messenger- RNAs und dann solche die traditioneller sind. Ich persönlich bin diesbezüglich Agnostiker.
H: Selbst wenn ein Impfstoff verhindern könnte, dass Menschen krank werden, haben Sie erwähnt, dass viele Menschen Langzeitfolgen haben werden. Wie sollen längerfristige Perspektiven gestaltet werden?
Wir sind alle mit der akuten Krise beschäftigt und - obwohl wir jetzt etwas Zeit haben, uns auf Ausbrüche einer zweiten Welle vorzubereiten - brauchen auch eine langfristige Perspektive. Für die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ist das ganz offensichtlich. Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, nicht nur infolge der Epidemie, sondern auch infolge der Gegenmaßnahmen - isoliert zu sein, Kinder, die nicht zur Schule gehen können u. a. - können soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verschärfen. Epidemien decken oft die Verwerfungslinien in der Gesellschaft auf und verstärken Ungleichheiten. Das geht weit über die biologischen und medizinischen Aspekte hinaus; das ist aber, was wir jetzt planen müssen.
* Dieses Interview mit Prof. Peter Piot wurde von Annette Ekin geführt und am 26. Juni 2020 in Horizon, the EU Research and Innovation Magazine unter dem Titel Q&A: ‘"We are only at the beginning of the coronavirus pandemic’ – Prof. Peter Piot" publiziert. Der unter einer cc-by-Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt .
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