Von der Experimentalphysik zur anti-metaphysischen Wissenschaftsphilosophie: zum 100. Todestag von Ernst Mach
Von der Experimentalphysik zur anti-metaphysischen Wissenschaftsphilosophie: zum 100. Todestag von Ernst MachFr, 19.02.2016 - 08:59 — Karl Sigmund
Genau auf den Tag vor 100 Jahren ist der weltbekannte österreichische Physiker, Physiologe und Pionier der Wissenschaftsphilosophie Ernst Mach gestorben. Mach war radikaler Empirist, ein „Denkökonom“, der alle, über das Beobachtbare hinausgehenden Spekulationen als metaphysisch von sich wies. Damit wurde Mach zu einem der geistigen Gründungsväter des philosophischen Zirkels „Wiener Kreis“, der das Geistesleben und die Sozialgeschichte in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts prägte. Der vorliegende Artikel ist die verkürzte Fassung eines Kapitels aus dem Buch „Sie nannten sich Der Wiener Kreis“. Der Autor dieses, eben als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichneten Buches - der Mathematiker Karl Sigmund-, hat freundlicherweise und mit Einwilligung des Verlages den Text dem ScienceBlog zur Verfügung gestellt.*.*
Ernst Mach kam 1838 bei Brno, damals Brünn, zur Welt. Er wuchs in Untersiebenbrunn auf, einer kleinen Ortschaft nahe bei Wien, die so bäuerlich war, wie der Name klingt. Sein Vater, ursprünglich ein Lehrer, betrieb dort eine Landwirtschaft und unterrichtete seine Kinder oft selbst. Als Zehnjähriger wurde Ernst Mach in ein Internat ins niederösterreichische Benediktinerstift von Seitenstetten geschickt. Bald stellte sich heraus, dass das kränkliche Kind den Anforderungen des Gymnasiums nicht gewachsen war. So kehrte er nach Untersiebenbrunn zurück. Den Mittelschulstoff der Unterstufe konnte ihm zur Not auch sein Vater vermitteln.
Beim Stöbern in den Büchern seines Vaters stieß der Halbwüchsige auf Kants „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“. Dieser Moment war entscheidend, wie Mach später mehrfach festhielt:
„Vom Kant’schen Idealismus kam ich bald ab. Das „Ding an sich“ erkannte ich noch als Knabe als eine unnütze metaphysische Erfindung, als eine metaphysische Illusion.“
Bald nach seiner Begegnung mit der Metaphysik versuchte es der junge Ernst Mach wieder mit einem Gymnasium – diesmal bei den Piaristen im mährischen Kremsier (heute Kromeriz). Dieser zweite Versuch verlief wesentlich besser. Mit 17 maturierte Mach und inskribierte Mathematik und Physik an der Universität Wien. Dort hatte das physikalische Institut zu einem Höhenflug angesetzt, gestützt auf das Wirken von Christian Doppler (1803 – 1853), Johann Loschmidt (1821 – 1893) und Josef Stefan (1835 – 1893). Diese Blüte war umso erstaunlicher, als es davor keine besonders bemerkenswerte Tradition gegeben hatte. Erst mit dem aufziehenden Liberalismus konnten sich die wissenschaftlichen Talente der Donaumonarchie entfalten.
Mach schafft sich einen Namen
Der junge Ernst Mach gehörte zu diesen Talenten. Schnell fiel er am Institut durch seinen Einfallsreichtum und seine Geschicklichkeit auf. Noch als Student konstruierte er einen Apparat, der den Dopplereffekt überzeugend demonstrierte, also dass ein Ton höher wird, wenn sich die Schallquelle rasch nähert. Mit 22 Jahren erwarb Ernst Mach das Doktorat. Schon im Jahr darauf wurde er Dozent, erhielt also das Recht an der Universität zu lehren. Bereits mit 26 wurde Mach in Graz ordentlicher Professor, erst für Mathematik, dann für Physik. Dort heiratete er im Jahr 1867, aus der Ehe entstammten fünf Kinder.
Im selben Jahr 1867 wurde der noch nicht dreißigjährige Mach auf die Lehrkanzel für Experimentalphysik in Prag berufen, wo er fast dreißig Jahre wirkte, bis zu seiner Übersiedlung nach Wien.
Im Labor erwarb sich Mach vor allem durch seine Untersuchungen zur Überschallgeschwindigkeit einen Namen. Das gilt im buchstäblichen Sinn: „Mach zwei“ ist gleichbedeutend mit doppelter Schallgeschwindigkeit. Die Experimente machten ihn zum Pionier der wissenschaftlichen Fotografie. Seine Aufnahmen von Strömungslinien und Schockwellen (Abbildung 1) faszinierten die Zeitgenossen und inspirierten noch Jahrzehnte später die italienischen Futuristen bei ihren Versuchen, rasche Bewegung möglichst sinnfällig darzustellen. Abbildung 1. Stoßwelle um ein mit Überschallgeschwindigkeit fliegendes Geschoss. Das Foto wurde von Ernst Mach 1888 mittels Schlieren-Fotographie aufgenommen (Bild: Wikipedia; gemeinfrei.).
Grundlagen der wissenschaftlichen Erkenntnis
Noch viel mehr als seine Experimente waren es aber Machs Gedanken zur Grundlegung der Physik, die ihn weltbekannt machen sollten. Wissenschaftler, die philosophieren und Philosophen, die Wissenschaft betreiben, hat es viele gegeben. Doch Mach ragte heraus: er wurde zum Pionier einer neuen Disziplin: der Wissenschaftsphilosophie.
Für Mach bot die Wissenschaft selbst den Anlass zum Philosophieren. Die Naturwissenschaften konnten nicht länger als Steckenpferd vereinzelter Träumer und Grübler gelten; sie waren im Lauf des vergangenen Jahrhunderts zu einem Generationen umspannenden, weltweitem Unterfangen geworden, zur Triebkraft hinter der industriellen Revolution. Wenn nun der Fortschritt der Menschheit auf den Naturwissenschaften gründete, worauf gründeten die Naturwissenschaften?
Die Fragen nach den Grundlagen aller Erkenntnis war und ist eine der Grundfragen der Philosophie. Mach ging es um die Grundlagen der wissenschaftlichen Erkenntnis. Er befasste sich damit in drei Büchern: Die Mechanik in ihrer Entwicklung (1883), Die Prinzipien der Wärmelehre (1896) und Die Prinzipien der physikalischen Optik (posthum 1921).
Wie begründet man physikalische Begriffe wie „Kraft“, „ Wärme“, „Entropie“? Was ist „Materie“? Wie misst man „Beschleunigung“? Mach untersuchte diese Fragen von Grund auf, von den einfachsten Beobachtungen ausgehend, durch kritische Analyse der historischen Wurzeln.
Mach führte die physikalischen Begriffe auf unmittelbar gegebene Empfindungen, also Sinneseindrücke zurück und kam dadurch aus philosophischen Gründen zur Physiologie. Auch in diesem Fach bewies er erstaunlichen Spürsinn. So entdeckte er die Lokalisierung des Gleichgewichtssinnes im Innenohr, etwa gleichzeitig mit Josef Breuer, jenem Wiener Arzt, der später gemeinsam mit Sigmund Freud die Psychoanalyse begründete (Abbildung 2). Diese Arbeiten wurden von Robert Barany fortgesetzt, der dafür mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde.
Abbildung 2. Der Hexenstuhl Ernst Machs, mit dem er den Gleichgewichtssinn untersuchte. (Aus: Ernst Mach - Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen; Bild: Wikipedia; gemeinfrei).
Sparsam denken
Die Wissenschaft hat sich auf Erfahrungstatsachen zu beschränken aber besteht natürlich nicht nur aus dem bloßen Sammeln von Fakten. Ihre Aufgabe ist die übersichtliche Darstellung des Tatsächlichen. Im Vordergrund steht für Mach die Denkökonomie: Es geht darum möglichst viel mit möglichst geringem Aufwand zu beschreiben:
„Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung von Tatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst und diese in mancher Beziehung vertreten können. Diese ökonomische Funktion der Wissenschaft, welche deren Wesen ganz durchdringt, wird schon durch die allgemeinsten Überlegungen klar. Mit der Erkenntnis des ökonomischen Charakters verschwindet auch alle Mystik aus der Wissenschaft.“
Mach ist radikal: Für ihn liefern Theorien lediglich denkökonomische Hilfen, keine Erklärungen. Er sieht in den Naturgesetzen nur subjektive Vorschriften für unsere Erwartungen und in der Kausalität nichts als eine regelmäßige Verknüpfung der Vorgänge, eine funktionelle Abhängigkeit.
Die ökonomischen Grundsätze betreffen nicht nur die Wissenschaft sondern auch die Lehre:
„Die Mitteilung der Wissenschaft durch den Unterricht bezweckt, einem Individuum Erfahrung zu ersparen durch Übertragung der Erfahrung eines anderen Individuums“.
Der Unterricht war für Mach Aufklärung:
„Ich werde auf keinen Widerstand stoßen, wenn ich sage, dass der Mensch ohne eine wenigstens elementare mathematische und naturwissenschaftliche Bildung ein Fremdling bleibt in der Welt, in der er lebt, ein Fremdling in der Kultur der Zeit, die ihn trägt.“
Das Ich und seine Empfindungen
Das philosophische Hauptwerk von Mach erschien 1886: Die Analyse der Empfindungen. Es hebt an mit Antimetaphysischen Vorbemerkungen, die zum Halali auf das „Ding an sich“ blasen, überhaupt auf das Ding, auf die Substanz. Ernst Mach lässt nur die vergängliche Erscheinung gelten. Sein Empirismus ist radikal: Alles Wissen beruht auf Erfahrung und alle Erfahrung auf Wahrnehmungen, also letztlich auf Sinneswahrnehmungen, den „Empfindungen“ Machs.
Die Körper, die wir wahrnehmen, bestehen in regelmäßigen Verbindungen von Sinnesdaten. Es gibt nicht außerdem einen Gegenstand, der unabhängig von den Empfindungen existiert, ein „Ding an sich“. Ebenso wenig wie das „Ding an sich“ existiert das „Ich“:
„Als relativ beständig zeigt sich ferner der an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird. Das Ich ist so wenig absolut beständig als die Körper.“
In einer berühmt gewordenen Zeichnung stellte Mach scherzhaft „die Selbstbetrachtung des Ichs“ dar (Abbildung 3).
Abbildung 3. Machs Ich betrachtet sich selbst, Illustration aus: Ernst Mach: „Antimetaphysische Vorbemerkungen“ in: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (Quelle: Wikipedia).
Das Ich sind Empfindungen. Dahinter steht - nichts.
„Wenn ich sage „Das Ich ist unrettbar“, so meine ich damit, dass es nur in der Einfühlung des Menschen in alle Dinge, in alle Erscheinungen besteht, dass dieses Ich sich auflöst in allem, was fühlbar, hörbar, tastbar ist. Alles ist flüchtig: Eine substanzlose Welt, die nur aus Farben, Konturen, Tönen besteht. Ihre Realität ist ewige Bewegung, chamäleonartig schillernd.“
Machs Welt ohne Substanz, die auf Sinneseindrücken beruht, war eine impressionistische, also im vollsten Einklang mit dem Geist der Zeit. In den Wiener Salons des fin de siècle wurde der Gelehrte mit dem Prophetenhaupt geradezu umschwärmt.
Die Berufung auf einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Wien
Im neunzehnten Jahrhundert hatten sich die Wände zwischen den Disziplinen verhärtet und die universitären Hierarchien versteift. Dass ein Naturwissenschaftler philosophisch dilettierte, mochte noch angehen; doch, dass er eine philosophische Lehrkanzel übernahm, ohne je über Kantianer oder Scholastiker examiniert worden zu sein, schien schon allerhand. Ein Vortrag, den der weltbekannte Experimentalphysiker in Wien hielt, gab den Ausschlag für seine Berufung. Ernst Mach (Abbildung 4 zeigt ihn im Jahr 1900) übernahm 1895 die eigens für ihn neu benannte Lehrkanzel für Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften an der Universität Wien.
Abbildung 4. Mach im Jahr 1900. Heliogravüre von HF Jütte, Leipzig.(Bild: Wikipedia; gemeinfrei).
Der Schritt von der Physik zur Philosophie war in Machs Lebensweg längst vorgezeichnet gewesen:
„Meine Lebensaufgabe war es, von Seiten der Naturwissenschaft der Philosophie auf halbem Wege entgegenzukommen.“
Die Stelle war Mach gewissermaßen auf den Leib geschneidert; aber wenig später - im Jahr 1901 -musste er sie niederlegen, halbseitig gelähmt durch einen Schlaganfall, den er auf einer Eisenbahnfahrt erlitten hatte. Seinen rechten Arm und sein rechtes Bein konnte er nie wieder bewegen. Trotz seiner Lähmung blieb Mach geistig so rege wie immer und weiterhin in lebhafte Auseinandersetzungen mit den besten Wissenschaftlern seiner Zeit verwickelt, so etwa mit Boltzmann, Planck oder Einstein. Denn Machs Auffassungen waren zwar von bestechender Eleganz, aber sie warfen doch viele Fragen auf, wie etwa: Wenn die Welt nur aus Erlebnissen besteht, wie verhält es sich dann mit der Existenz von Dingen, die nicht wahrgenommen werden?
Sein Gebrechen trug Mach, der Philosoph des „unrettbaren Ich“ mit heiterer, fast buddhistischer Abgeklärtheit. Im Jahr 1913 zog Ernst Mach zu seinem Sohn nach München. Als er der österreichischen Akademie der Wissenschaften seine Adressänderung bekannt gab, schloss er mit dem schmunzelnden Hinweis, möglicherweise postalisch bald nicht mehr erreichbar zu sein.
1916 verstarb Ernst Mach im Alter von 78 Jahren. Machs Vorlesung übernahm ein anderer Physiker, Ludwig Boltzmann. Auch dies währte nicht lang, denn Boltzmann erhängte sich. Doch innerhalb weniger Jahre hatten die beiden weltberühmten Physiker durch ihre Passion für die Philosophie eine Generation von Studierenden geprägt. Dies macht die beiden zu Urvätern des philosophischen Zirkels „Wiener Kreis“ [1].
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Karl Sigmund: Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs. Wiesbaden: SpringerSpektrum 2015. ISBN 978-658-08534-6 http://mlwrx.com/sys/w.aspx?sub=dAvsT_2A6MTL&mid=8d03ba11
Dieses Buch wurde vor wenigen Tagen zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2016 in der Kategorie Naturwissenschaft und Technik gewählt. http://www.wissenschaftsbuch.at/
[1] Karl Sigmund: Der Wiener Kreis – eine wissenschaftliche Weltauffassung.
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