CHIEF - ein neues Tool der künstlichen Intelligenz bildet die Landschaft einer Krebserkrankung ab und verbessert damit Diagnose, Behandlung und Prognose
CHIEF - ein neues Tool der künstlichen Intelligenz bildet die Landschaft einer Krebserkrankung ab und verbessert damit Diagnose, Behandlung und PrognoseFr,06.09.2024 — Ricki Lewis
Forscher der Harvard Medical School haben mit CHIEF ein neues Tool der Künstlichen Intelligenz entwickelt, das weiter geht als viele derzeitige KI-Ansätze zur Krebsdiagnose: Es kann Krebs identifizieren, Behandlungsmöglichkeiten empfehlen und Überlebensraten für 19 verschiedene Krebsarten vorhersagen. Dies wird möglich, da CHIEF erstmals nicht nur Merkmale der Tumorzelle sondern auch der Mikroumgebung eines Tumors nutzt, um vorherzusagen, wie ein Patient auf eine Therapie ansprechen werde und wie für diesen eine optimale personalisierte Therapie aussehen könnte. Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet über dieses neue Modell, das einen bahnbrechenden Fortschritt für Diagnose und Therapie von Krebserkrankungen verspricht.*
Bild: Placidplace, Pixabay (Inhaltslizenz). |
Früher einmal hat die Diagnose Krebs im Stadium IV den Anfang vom Ende bedeutet. Heute markiert es für viele Patienten den Beginn einer zielgerichteten Therapie (targeted therapy), nämlich der Einnahme von einer Reihe von Medikamenten, die speziell auf die krankhaften Zellen abzielen, indem sie die Signale blockieren, die deren unkontrollierte Zellteilung ankurbeln, während sie gesunde Zellen schonen. Krebspatienten im Stadium IV können so noch Jahre, ja sogar Jahrzehnte leben und manchmal an einer anderen Krankheit sterben.
Jetzt gibt es sogar Hoffnung für Patienten, deren Krebserkrankungen gegen zielgerichtete Medikamente resistent geworden sind, indem mit Hilfe künstlicher Intelligenz Krebszellen und ihre Umgebung untersucht werden, um neue Schwachstellen zu ermitteln. Forscher der Harvard Medical School beschreiben ein neues ChatGPT-ähnliches Modell, das klinische Entscheidungen zu Diagnose, Behandlung und Überlebensvorhersage bei verschiedenen Krebsarten leiten kann. Ihr Bericht erscheint im Fachjournal Nature.[1].
Der neue Ansatz komplettiert zielgerichtete Arzneimittel, indem er über die Oberfläche einer Krebszelle und die biochemischen Wege in ihr hinausgehend auch deren Mikroumgebung - die unmittelbare Umgebung - mittels Bildanalyse untersucht. Frühzeitig eingesetzt könnte die künstliche Intelligenz Medikamente, die wahrscheinlich nicht wirken, effektiver identifizieren als genetische und genomische Tests. Es handelt sich um eine Strategie, bei der "man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht" und dabei die Landschaft einer Krebserkrankung aufdeckt.
Eine kurze Geschichte der zielgerichteten Krebsmedikamente
1978 genehmigte die FDA mit Tamoxifen das erste zielgerichtete Krebsmedikament. Anstatt wie bei einer herkömmlichen Chemotherapie alle sich schnell teilenden Zellen abzutöten, blockiert Tamoxifen die Östrogenrezeptoren. Dadurch wird das Hormon, das die zu häufige Teilung der Brustzellen auslöst, ausgeschaltet.
1998 hat die FDA Herceptin zugelassen, das auf einen anderen Rezeptor (HER2) in Brustkrebszellen abzielt.
Das bahnbrechendste, bisher zugelassene Krebsmedikament, ist Glivec; zwischen der Einreichung bei der FDA bis zur Zulassung im Jahr 2001 vergingen nur drei Monate. Glivec ist ein kleines Molekül, das mit einem Enzym - einer mutierten Tyrosinkinase - interferiert, das unkontrolliertes Wachstum in weißen Blutkörperchen auslöst. Glivec war der erste Kinasehemmer und wurde ursprünglich zur Behandlung einer Form von Leukämie eingesetzt.
Zielgerichtete, zur Behandlung einer bestimmten Krebsart entwickelte Krebsmedikamente, lassen sich - basierend auf molekularen Ähnlichkeiten - nach weiteren Studien häufig auch zur Behandlung anderer Krebsarten einsetzen. Allmählich begann sich die Organ-bezogene Diagnose auf eine Diagnose auf molekularer Basis zu verlagern. Und so weitete sich der Einsatz von Glivec rasch auf die Behandlung anderer Krebserkrankungen des Bluts und des Verdauungstraktes aus, die einem Freund von mir das Leben rettete.
Keytruda veranschaulicht die in jüngerer Zeit zugelassenen Krebsmedikamente. Keytruda wurde 2014 von der FDA zugelassen und war der erste "Programmierte Zelltod-Rezeptor-1 (PD-1)-Inhibitor". Die Anwendung wurde von Melanomen auf Nieren-, Lungen-, Gebärmutter- sowie Kopf- und Halskrebs ausgeweitet - allerdings auf bestimmte molekulare Subtypen dieser Krebsarten.
Zu den ausufernden Jargons von Krebsmedikamenten
In der Werbung für Krebsmedikamente werden in stakkatoartigem Kauderwelsch molekulare Mechanismen und biochemische Wege, Antikörper und ihre Rezeptoren beschrieben, als ob sich der verzweifelte Durchschnittspatient die Schritte eines Signaltransduktionswegs oder eines Antikörpers, der ein Antigen bindet, sofort vorstellen könnte.
Die letzte Silbe eines unaussprechlichen Arzneimittelnamens gibt den Arzneimitteltyp an. Ein Name, der auf "nib" endet, bedeutet ein kleines Molekül, das ein Enzym namens Kinase hemmt, und ist die Abkürzung für "inhibit". Da das Enzym erforderlich ist, damit Wachstumssignale in die Zelle gelangen und die Zellteilung auslösen können, stoppt das Medikament die unkontrollierte Teilung. Glivec, auch bekannt als Imatinib, tut dies.
Ein Name, der auf "mab" endet, ist ein monoklonaler Antikörper, abgekürzt MAb, der wie eine Drohne wirkt. Keytruda (Pembrolizumab) bindet eines von zwei Molekülen (den programmierten Zelltod-Rezeptor-1 [PD-1] oder den programmierten Todesliganden 1 [PD-L1]). Dadurch wird die durch den Krebs ausgelöste Blockade der Immunantwort aufgehoben, so dass die T-Zellen den Krebs bekämpfen können. Keytruda wird aufgrund seines Wirkmechanismus und nicht aufgrund seiner Struktur als Immun-Checkpoint-Inhibitor eingestuft.
KI untersucht die Mikroumgebung von Krebs
Zielgerichtete Krebsmedikamente basieren auf dem Genotyp - auf den Mutationen, die den Krebs auslösen und vorantreiben. Der neue KI-Ansatz berücksichtigt den Genotyp aber auch den Phänotyp - d.i. wie der Tumor und seine Umgebung aussehen: Er analysiert digitale Bilder von Tumorgewebe und nennt sich CHIEF für Clinical Histopathology Imaging Evaluation Foundation.
Die Forscher haben das Modell an 19 Krebsarten getestet und die Ergebnisse an mehreren internationalen Patientengruppen validiert.
"Unser Ziel war es, eine flinke, vielseitige, ChatGPT-ähnliche KI-Plattform zu schaffen, die ein breites Spektrum an Aufgaben zur Krebsbeurteilung übernehmen kann. Unser Modell erwies sich bei verschiedenen Aufgaben im Zusammenhang mit der Krebserkennung, der Prognose und dem Ansprechen auf die Behandlung bei verschiedenen Krebsarten als sehr nützlich", so der Hauptautor Kun-Hsing Yu.
Das KI-Modell liest und analysiert digitale Bilder von Tumorgewebe, identifiziert Krebszellen und prognostiziert das molekulare Profil eines Tumors auf der Grundlage der zellulären Merkmale und der Eigenschaften der Umgebung, der so genannten Mikroumgebung. Diese Erkenntnisse können dann zur Vorhersage des Ansprechens auf Behandlungen und der Überlebensdauer genutzt werden.
Vielleicht am wichtigsten, so das Team, ist, dass das KI-Tool neue Erkenntnisse generieren kann, z. B. eine Reihe bisher nicht bekannter Tumormerkmale zur Vorhersage der Überlebensdauer eines Patienten.
"Weiter validiert und auf breiter Basis eingesetzt, könnte unser Ansatz und ähnliche Ansätze frühzeitig Krebspatienten identifizieren, die von experimentellen, auf bestimmte molekulare Variationen abzielende Behandlungen profitieren könnten, ein Potential, das nicht überall in der Welt gleichermaßen vorhanden ist", so Yu.
Eine riesige Datenflut
KI produziert und verknüpft riesige Datenmengen und erstellt Projektionen. Die Forscher haben CHIEF an 15 Millionen unmarkierten Bildern trainiert, die nach Gewebetyp oder Lage in einem bestimmten Organ oder einer Struktur gruppiert waren. Anschließend wurde CHIEF an 60 000 weiteren Bildern trainiert, die viele Körperteile repräsentierten: Lunge, Brust, Prostata, Leber, Gehirn, Dickdarm, Magen, Speiseröhre, Niere, Blase, Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse, Gebärmutter, Hoden, Haut, Nebennieren und andere. Das Training berücksichtigte den Standortkontext - das heißt, wo genau eine bestimmte Zelle im 3D-Raum eines Gewebes oder Organs liegt.
Die Trainingsstrategie ermöglichte es CHIEF ein Bild in einem breiten Kontext zu interpretieren und sich dabei auf einen bestimmten Teil eines Organs zu konzentrieren.
Nach dem Training erhielt CHIEF mehr als 19 400 Ganzbildaufnahmen aus 32 unabhängigen Datensätzen, die von 24 Krankenhäusern und Patientenkohorten aus der ganzen Welt gesammelt worden waren.
Ergebnisse
Unabhängig von der Art der Probennahme (Operation oder Biopsie) oder wie die Digitalisierung des Bildes erfolgt war, schnitt CHIEF gut ab - ein Hinweis auf die Umsetzbarkeit in verschiedenen medizinischen Anwendungen. Das Tool erkennt mit 94 - 96 % Genauigkeit Zellen unterschiedlicher Krebsarten, lokalisiert den Ursprung des Tumors und identifiziert und evaluiert Gene und DNA-Muster, die mit dem Ansprechen auf die Behandlung zusammenhängen. Es funktionierte sogar bei Bildern, die zuvor nicht analysiert oder deren Krebsart nicht identifiziert worden war.
Die schnelle Identifizierung von Zellmustern auf einem Bild, die auf spezifische genomische Aberrationen hindeuten, könnte eine rasche und kostengünstige Alternative zur Genom-Sequenzierung darstellen, so die Forscher. CHIEF leitet den Genotyp - Mutationen - ab, indem es die Assoziation mit dem Phänotyp - den Bildern - betrachtet.
CHIEF ermöglicht es einem Kliniker auch, sofort gezielte Medikamente für einen bestimmten Patienten zu evaluieren. Das Team hat dies mit der Fähigkeit von CHIEF getestet Mutationen in 18 Genen an 15 anatomischen Körperstellen vorherzusagen, die mit dem Ansprechen auf FDA-zugelassene Therapien in Verbindung stehen.
Am wichtigsten ist vielleicht, dass CHIEF bei der Vorhersage der Überlebensdauer von Patienten auf der Grundlage von Bildern des bei der Erstdiagnose entnommenen Tumors gut abschnitt. Es kann zwischen Tumoren, die von Immunzellen umgeben sind (was auf Langzeitüberleben hindeutet), und Tumoren ohne diese Schutzzellen (Kurzzeitüberleben) unterscheiden.
CHIEF visualisiert auch die Aggressivität eines bestimmten Tumors mit Hilfe von "Heatmaps" oder von der KI abgeleiteten "Hot Spots", die auf die Interaktion von Krebszellen mit benachbarten Nicht-Krebszellen hinweisen - ein Zeichen für eine drohende Ausbreitung.
CHIEF fand heraus, dass Tumore von Patienten mit einer schlechteren Prognose tendenziell auch Zellen unterschiedlicher Größe, verdächtig gelappte Zellkerne, schwache Verbindungen zwischen Zellen, absterbende Zellen und weniger dichte Bindegewebsnetze aufweisen. Krebs ist eindeutig mit mehr als nur fehlerhaften Genen verbunden.
Die Forscher planen, ihre Analyse von CHIEF zu erweitern:
- zur Analyse von Nicht-Krebs-Erkrankungen, insbesondere von seltenen Krankheiten, die schwierig zu diagnostizieren und zu behandeln sind
- zur Erkennung von Krebsvorstufen,
- zur Vorhersage des Aggressionslevels von Krebszellen in verschiedenen Stadien
- zur Ermittlung von Nutzen und Nebenwirkungen neuer Krebsbehandlungen.
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Als jemand, der an Schilddrüsen- und Brustkrebs erkrankt war, begrüße ich die Vermählung von KI mit der DNA-basierten Krebsdiagnostik. Mehr Informationen ermöglichen mehr Behandlungsoptionen.
[1] Hanwen Xu et al., A whole-slide foundation model for digital pathology from real-world data. 22 May 2024, Nature. DOI: 10.1038/s41586-024-07441-w
und
Harvard Medical School, September 5, 2024: Harvard Doctors Create ChatGPT-Like AI That Can Diagnose Cancer. https://scitechdaily.com/harvard-doctors-create-chatgpt-like-ai-that-can-diagnose-cancer/
EKATERINA PESHEVA, 04.09.2024: A New Artificial Intelligence Tool for Cancer.https://hms.harvard.edu/news/new-artificial-intelligence-tool-cancer
*Der Artikel ist erstmals am 5. September 2024 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "AI Tool CHIEF Paints a Landscape of a Cancer, Refining Diagnosis, Treatment, and Prognosis"https://dnascience.plos.org/2024/09/05/ai-tool-chief-paints-a-landscape-of-a-cancer-refining-diagnosis-treatment-and-prognosis/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz. Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgt.