Artentstehung – Artensterben. Die kurz- und langfristige Perspektive der Evolution
Artentstehung – Artensterben. Die kurz- und langfristige Perspektive der EvolutionFr, 17.10.2014 - 08:29 — Christian Sturmbauer
Artensterben und Artenentstehung sind integrale Bestandteile des Evolutionsprozesses. Sie verlaufen nicht kontinuierlich sondern werden von Elementarereignissen der Umwelt diktiert. Der Zoologe und Evolutionsbiologe Christian Sturmbauer (Universität Graz) beschreibt anhand von Modellorganismen – ostafrikanischen Buntbarschen – wie Biodiversität entsteht und welche Rolle darin Umwelt und Konkurrenz spielen [1].
Vor kurzem ging im Wiener Naturhistorischen Museum eine Ausstellung zu Ende, welche die Evolution komplexer Lebensformen auf unserer Erde in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt [2]. Gezeigt wurden erstmals sogenannte „Gabonionta“. Dieses 2008 entdeckte, nach dem Fundort in Gabun benannte Fossil in Tonschiefern, ist 2,1 Milliarden Jahre alt und wahrscheinlich der erste vielzellige Organismus, den die Evolution hervorgebracht hat (Abbildung 1). Bis zu dieser Entdeckung hatte man angenommen, dass erste vielzellige Organismen – die sogenannte „Ediacara-Fauna“ – erst 1,5 Milliarden Jahre später, vor 600 Millionen Jahren, entstanden wären.
Abbildung 1. Gabonionta – die ersten Spuren komplexer Organismen sind 2,1 Milliarden Jahre alt (Bild: Mathias Harzhauser, NHM,Wien)
Die Signatur des Lebens
Auf unserer 4,5 Milliarden Jahre alten Erde ist Leben vor etwa 3,8 Milliarden Jahren entstanden – in Form einzelliger Organismen (Bakterien und Archäa). Vor 2 Milliarden Jahren erfolgte dann ein unglaublicher Anstieg des Sauerstoffgehalts in der Atmosphäre; wahrscheinlich war dies auf die Entstehung von Photosynthese betreibenden Bakterien zurückzuführen. Dieser sogenannte „Great Oxidation Event“ war der wesentliche Auslöser dafür, dass komplexeres Leben auf unserer Erde möglich wurde und die ersten Vielzeller – Gabonionta – entstanden.
Der Sauerstoffgehalt brach nach einiger Zeit drastisch ein – kohlenstoffreiche Fossillien dürften Oxydationsprozesse in Gang gesetzt haben, die der Atmosphäre den Sauerstoff entzogen. Die ersten Vielzeller verschwanden wieder. Es folgte eine sehr lange, fast 1 Milliarde Jahre andauernde, sauerstoffarme Periode, in der die ersten Grünalgen und Rotalgen entstanden, die aber ansonsten, hinsichtlich neuer Lebensformen, kaum Innovationen hervorbrachte (Abbildung 2, oben).
Vor etwa 700 Millionen Jahren stieg dann der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre wieder massiv an: innerhalb von weniger als 100 Millionen Jahren wurde der heutige Level von etwa 21 % erreicht und in der Folge beibehalten.
Nach mehreren Anläufen komplexere Organismen zu schaffen hat das Leben vor etwa 700 Millionen Jahren neu durchgestartet. Die etwa 600 Millionen Jahre alte Ediacara-Fauna (die nichts mit den heute lebenden vielzelligen Tieren – den „Metazoa“ – zu tun hat) war vermutlich eine erste Blüte von vielzelligen Organismen. Diese haben in Evolutionsprozessen alle möglichen Nischen gefüllt, starben dann aber durch unbekannte Ereignisse aus.
Die „Kambrische Revolution“ betrifft im wesentlichen alle heute lebenden Tierarten unseres Planeten: die gesamten Tierstämme entstanden im Zeitraum zwischen 540 und 520 Millionen Jahre in extrem enger zeitlicher Abfolge – gemessen in evolutionären Zeiten nahezu gleichzeitig.
Wenn wir uns die Periode der Evolution der Vielzeller genauer betrachten (Abbildung 2, unten), so sieht man 5 massivere Einbrüche. Die Ursachen waren in einigen Fällen katastrophale Ereignisse – als unser Planet von Meteoriten getroffen wurde –, in anderen Fällen aber auch massive klimatische Verschiebungen. Bei der wohl größten Katastrophe an der an der Trias-Grenze von Erdaltertum und Mittelalter wurden 96% der Arten nahezu schlagartig ausgelöscht.
Das Muster von Extinktionen, die gefolgt sind von Perioden intensiver und dann langsam abflachender Innovation, kann aus den fossilen Befunden unseres Planeten ersehen werden.
Das Faktum des Aussterbens ist also ebenso integraler Bestandteil des Evolutionsprozesses, wie die unglaubliche Fähigkeit sehr schnell wieder Biodiversität hervorzubringen. Abbildung 2. Das vielzellige Leben brauchte mehrere Anläufe. Oben: Zeittafel der Evolution. Der Anstieg von Sauerstoff in der Atmosphäre ermöglichte die Entstehung der ersten Vielzeller (Gabonionta) vor 2,1 Mrd. Jahren. Nach dem ersten Zusammenbruch des Sauerstoffgehalts erfolgte ein Anstieg erst wieder vor 800 Mio Jahren und führte zur Bildung komplexer Organismen. Unten: Die Ära der Metazoa (seit 540 Mio Jahren) umfasst mindestens 5 „globale resets“. Artensterben sind Teil der Geschichte und hatten viele Ursachen, Massenextinktionen waren immer gefolgt von Perioden intensiver Innovation. (Abbildung modifiziert nach Mathias Harzhauser NHM, Wien)
Welche Mechanismen katalysieren die schnelle Entstehung von Arten?
Vorweg eine Definition des in der Evolutionsbiologie gebräuchlichen Begriffs „adaptive Radiation“: damit wird eine Entstehung von vielen Arten innerhalb sehr kurzer Zeiträume bezeichnet, bei der sich eine wenig spezialisierte Art in zahlreiche stärker spezialisierte Arten auffächert. Dies erfolgt durch spezifische Anpassungen an vorhandene Umweltverhältnisse und Ausnutzung unterschiedlicher, vorher nicht besetzter ökologischer Nischen. Damit können sehr wenige Pionierarten sich einen Lebensraum aufteilen und dann durch spezifischere Aufteilung der energetischen und ökologischen Ressourcen eine Artenvielfalt hervorbringen, die in einem autokatalytischen Prozess immer komplexer wird und immer komplexere Wechselwirkungen erzeugt.
Man fragt sich natürlich, wodurch derartige Prozesse eingeleitet werden.
Einen Teil der Antwort hat uns bereits die Geschichte der Erde gezeigt: katastrophale Ereignisse können diese Prozesse katalysieren, indem sie einen voll besetzten Lebensraum innerhalb kürzester Zeit leerräumen und durch die Massenextinktion eine Vielzahl von leeren ökologischen Möglichkeiten übriglassen, die dann andere Arten besiedeln können.
Eine zweite Möglichkeit ist gegeben, wenn neue Lebensräume entstehen – Galapagos ist dafür ein wunderbares Beispiel. In der Mitte des Meeres sind hier Inseln entstanden, die durch extrem seltene Ereignisse von windverdrifteten Insekten und Vögeln besiedelt wurden. Diese Organismen fanden leere Lebensräume vor, in denen sie dann im oben beschriebenen autokatalytischen Prozess viele Arten hervorbrachten.
Schlüsselinnovationen
Die Frage, die wir noch stellen müssen, ist, welche der Kandidaten die neuen Chancen nutzen können. Oft beobachten wir, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Arten einen neuen Lebensraum vorerst erobert, aber dann nur ganz wenige tatsächlich durchstarten und eine Vielfalt hervorbringen. Eine von den Biologen als „Schlüsselinnovation“ bezeichnete Fähigkeit entscheidet, welche Gruppen tatsächlich proliferieren können.
Schlüsselinnovationen haben sehr viel mit Präadaptationen zu tun. Ein Beispiel wäre dafür die Evolution der Säugetiere: wir wissen, dass es schon lange – mindestens über 120 Millionen Jahre – neben vielen Dinosauriern auch Säugetiere gegeben hat. Die wesentlichen Säugetierordnungen waren schon vor der eigentlichen Radiation fossil belegt. Es hat jedoch erst an der Grenze von Kreide zu Tertiär der Meteoriteneinschlag in der Karibik das klimatische Gleichgewicht der Erde vermutlich so massiv gestört, dass die Dinosaurier ihre Eier nicht mehr zur Reife bringen konnten. Die Säugetiere und natürlich auch die Vögel konnten die Nischen dann in unglaublicher Geschwindigkeit besetzen.
Weitere konkrete Beispiele finden wir viele auf unserem Planeten. Allerdings sind davon nur wenige vor so kurzen Zeiträumen passiert (oder passieren noch jetzt), dass sie in allem Detail untersucht werden können.
Was uns die ostafrikanischen Buntbarsche erzählen
Eines der seltenen, detailliert untersuchbaren Modellsysteme – die ostafrikanischen Buntbarsche – bearbeite ich mit meiner Gruppe seit etwa 20 Jahren. Neben einer komplexen Brutpflege liegt die Schlüsselinnovation der Tiere in der besonders effizienten Anpassungsfähigkeit, die ihnen zwei voneinander unabhängige Bezahnungen mit Kieferzähnen und Schlundzähnen verleihen. Damit wurden die Tiere befähigt unterschiedliche Nahrungsquellen zu erschließen und in den neu entstandenen Seen des ostafrikanischen Grabenbruchs tausende von Arten hervorzubringen: im Großraum Viktoriasee gibt es etwa 700 ausschließlich dort vorkommende endemische Arten, im Malawisee zwischen 700 und 800 ebenso nur dort vorkommende Arten und schließlich im Tanganyikasee etwa 250 – 300 Arten (Abbildung 3). Auf Grund der Körperform und ihrer Bezahnung dokumentieren diese Arten sehr schön, wie ein Ökosystem dicht besetzt wird, indem alle möglichen Ernährungsnischen genutzt werden. Abbildung 3. Die Buntbarsche der ostafrikanischen Seen.
Schon sehr früh haben wir durch molekulargenetische Untersuchungen festgestellt, dass die etwa 700 phänotypisch unterschiedlichen Arten des Malawisees sich genotypisch kaum voneinander unterscheiden, dass sie also – evolutionär gesprochen – unglaublich jung sein müssen. Bedenkt man, dass der Malawisee wahrscheinlich keine 800 000 Jahre, der Viktoriasee sogar maximal nur 200 000 Jahre, alt ist, so stellt sich die Frage:
Ist es möglich dass 700 Arten in 200 000 Jahren entstehen können?
Die Buntbarsche suggerieren die Antwort: ja. Die adaptive Radiation verläuft so schnell, dass die entstehenden Arten vorerst genetisch unvollständig getrennt sind.
Adaptive Radiation ist also der effektivste und schnellste Weg zur Entstehung von Biodiversität – er wird beschritten, wenn sich neue Chancen bieten, aber auch nach Katastrophen.
Buntbarsche der Gattung Tropheus – wie Populationen entstehen
Unser Modell zum Studium der Evolution von Populationen sind Populationen und Schwesternarten von Buntbarschen der Gattung Tropheus, die ausschließlich im Tanganyikasee leben. Diese Fische sind Felsspaltenbewohner und für das Leben im Fels so hoch spezialisiert, dass man entlang der Küste praktisch in jedem Felsbereich eine eigene Gattung finden kann. An einigen wenigen Küstenstrichen kommt auch mehr als eine Tropheus-Art gemeinsam lebend („sympatrisch“) vor. Wir kennen die genetische Verwandtschaft dieser Tropheus-Populationen und -Arten sehr genau und haben versucht zu vergleichen, wie sich Populationen voneinander unterscheiden, wenn sie in getrennten Habitaten („allopatrisch“) leben und wenn eine 2. Schwesternart in Konkurrenz um die ökologischen Nischen tritt und damit einen massiven Selektionsdruck induziert.
Von den rund 120 geographischen Rassen haben wir 2 Arten herausgepickt, die genetisch deutlich voneinander entfernt waren und diese im „Labor“ gezüchtet und gekreuzt (weil die Tiere sehr aggressiv sind, bedeutete ‚Labor‘ große Teiche) und 4 Generationen gezüchtet (Abbildung 4). Dabei haben wir verfolgt, wie sich die Tiere einerseits in einem künstlichen Lebensraum verändern, aber auch, wie es mit den Kreuzungsprodukten aussieht: ob deren Morphologie intermediär ist und ob diese Intermediarität vererbbar ist – also ob es lokale Anpassungen in den Genen gibt.
Abbildung4. Tropheus – Ein Modell zum Studium der Evolution von Populationen. Zwei genetisch deutlich unterschiedliche Tropheus (Mitte) wurden unter „Labor“-Bedingungen (oben) gezüchtet und gekreuzt. Bereits in der ersten Generation traten hochsignifikante phänotypische Unterschiede auf (unten).
Es kommt zu raschen morphologischen Veränderungen
Unsere Ergebnisse zeigten neben der Tatsache, dass die Kreuzungsprodukte morphologisch intermediär waren, dass schon die 1. Teich-Generation – obwohl diese, wie die Elternpopulationen ganz klar genetisch voneinander getrennt waren – sich in ihrer Morphologie massiv von ihren Eltern im See unterschieden. Im Teich herrschte ja eine ganz andere Situation vor als im natürlichen Lebensraum der Brandungszone, die – neben den Risiken – eine ungeheure körperliche Aktivität der Tiere erforderte. Auch die Nahrungsaufnahme erfolgte dort nicht wie im Teich vorwiegend von der Oberfläche sondern durch Abgrasen von Steinen.
Die Tiere hatten ganz spezifische Körperbereiche innerhalb einer Generation verändert. Die hochsignifikanten Unterschiedlichkeiten lagen im Bereich der Maulöffnung, der Rücken- und Schwanzflosse und auch im Schwanzstiel (Abbildung 4, unten). Bei diesen Veränderungen kann man nicht von genetischer Anpassung reden, sie sind vielmehr Ausdruck einer phänotypischen Plastizität: ein gegebenes Genom vermag durch unterschiedliche Regulation unterschiedliche Phänotypen hervorzubringen.
Veränderungen durch Zusammenleben (Sympatrie)
In der Folge haben wir an Tropheus-Populationen und Schwestern- Arten untersucht welchen Einfluss das Zusammenleben einer Art (Tropheus moorii) mit einer anderen Art (Tropheus polli) auf die Morphologie nimmt. Eine Analyse der durchschnittlichen Körperform von 13 untersuchten Populationen hat allein lebende von sympatrisch lebenden Populationen klar unterschieden: Die Arten, die sich den Lebensraum teilten, hatten einen wesentlich kleineren Kopf, kleinere Augen und einen weiter vorne liegenden Ansatz der Brustflossen. Während die genetischen Distanzen der Populationen mit der geographischen Distanz korrelierten, war dies für die morphologischen Unterschiede nicht der Fall – diese wiesen vielmehr auf selektions- bzw. konkurrenzgetriebene Nischenabgrenzung hin.
Das Modell der Buntbarsche zeigt, dass Populationen sehr rasch auf Umweltveränderungen reagieren. Die Anpassungsfähigkeit eines Individuums moduliert also auf Basis der eigenen Gene den Phänotyp, entsprechend der Umweltsituation (phänotypische Plastizität). Längerfristig kommt natürlich noch eine genetische Komponente dazu.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Das Artensterben ist ebenso wie die Artenentstehung integraler Bestandteil des Evolutionsprozesses. Systeminhärent hat der Evolutionsprozess ein unglaubliches Potential zur Neuerung und Erneuerung; dies gilt auch in Bezug auf große Katastrophen. Um die Biodiversität an sich besteht also langfristig kein Grund zur Sorge!
Grund zur Sorge besteht allerdings sehr wohl für jenes Ökosystem, das (auch) unsere Lebensgrundlage ist. In 299.800 der 300.000 Jahre ihres Daseins hat unsere Spezies nicht wesentlich mehr in die Natur eingegriffen als andere vergleichbare Organismen. Erst in den letzten 200 Jahren haben das exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung und deren massive Eingriffe in die Umwelt dies geändert. Ob das Ökosystem dabei zum Kippen gebracht wird, ist letztlich eine Frage unserer eigenen Zukunft.
[1] Der Artikel basiert auf einem gleichnamigen Vortrag, den Christian Sturmbauer anlässlich der Tagung „Diversität und Wandel Leben auf dem Planeten Erde“ gehalten hat, die am 13. Juni 2014 im Festsaal der ÖAW in Wien stattfand. Ein Audio-Mitschnitt und die von ihm gezeigten Bilder finden sich auf der Seite: http://www.oeaw.ac.at/kioes/wandel.htm
[2] http://www.nhm-wien.ac.at/presse/pressemitteilungen/experiment_leben_-_d...
Weiterführende Links
Gabonionta - Wien 2014 Video 5:03 min (englisch/französisch) https://www.youtube.com/watch?v=fFAPNdxRvS8
DIE ÄLTESTEN MEHRZELLIGEN LEBEWESEN Weltpremiere im Naturhistorischen Museum, Video 3:11 min (deutsch) http://www.gebaerdenwelt.tv/artikel/wissen/umwelt/2014/03/12/20140312462...
Afrika: Der Malawisee - See der Sterne. Video 43:32 min (ARTE Doku) https://www.youtube.com/watch?v=fv6BIgiH2Zg