Wer zieht die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit? Zur 2016 stattfindenden Konferenz über die Vermeidung von Überdiagnosen

Wer zieht die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit? Zur 2016 stattfindenden Konferenz über die Vermeidung von Überdiagnosen

Fr, 01.01.2016 - 06:31 — Redaktion

RedaktionIcon MedizinDank hochsensitiver medizinischer Testmethoden zeigen Routinetests häufig Anomalitäten, die aber in den meisten Fällen auch langfristig kein Risiko für den Patienten bedeuten –weder führen sie zu Krankheitssymptomen, noch zu einem vorzeitigen Tod. Dennoch werden Krankheitsdiagnosen gestellt – Überdiagnosen -, die nutzlose Tests und Behandlungen inklusive Nebenwirkungen nach sich ziehen. Überdiagnosen und ihre Vermeidung sind ein junges, sehr rasch wachsendes Forschungsgebiet. Ein in PLOS Blogs veröffentlichtes Interview* mit Vertretern des wissenschaftlichen Komitees der 2016 stattfindenden Konferenz „Preventing Overdiagnosis“ schildert die zu behandelnden Fragen und Zielsetzungen dieser Tagung.

Zum Jahreswechsel wünscht man sich üblicherweise alles Gute und insbesondere Gesundheit für das kommende Jahr. Explizit betrachtet bedeutet das Letztere Prävention und Heilung von Krankheiten. Dies wünscht auch der ScienceBlog seinen Lesern, schließt hier aber noch die sogenannte Quartäre Prävention mit ein: die Vermeidung von Überdiagnosen, einer daraus resultierenden Übermedikation und damit verbundener Nebenwirkungen.

Was bedeutet Überdiagnose?

Die medizinische Diagnostik verfügt über eine ungeheure Fülle von Tests, die immer sensitiver werden, um Krankheiten bereits in ihren frühesten Phasen detektieren zu können. Dies bringt in vielen Fällen Erfolge. Bei Routinetests – beispielsweise bei großangelegten Vorsorgeuntersuchungen - führt dies aber noch viel häufiger dazu, dass Anomalitäten festgestellt werden, welche aber auch langfristig nicht mit einem wesentlichen Gesundheitsrisiko verbunden sind - weder führen sie zu Krankheitssymptomen, noch zu einem vorzeitigen Tod. Wo liegt nun die Grenze zwischen gesund und krank? Der Arzt fürchtet nun eine Krankheit nicht rechtzeitig zu erkennen, der Patient ist verunsichert und möchte eine Absicherung. Wie und wieweit sollte weiter abgeklärt werden, behandelt werden? Durch Tests und Behandlungen, die dem symptomlosen Individuum kaum nützen, ihm aber schaden können?

Überdiagnosen führen dazu, dass Krankheiten ohne ausreichende Befunde angenommen werden, dass bei zu geringem klinischem Verdacht zu viele Befunde erhoben werden. Überdiagnosen gewinnen in unseren Gesellschaften mehr und mehr an Bedeutung. Für Überdiagnosen gibt es bereits überwältigende Evidenz: sie reichen u.a. vom Aufmerksamskeitsdefizit-Syndrom bei Kindern, über Brustkrebs, Prostatakrebs, hohem Bludruck bis hin zur viel zu häufig konstatierten Depression in der Geriatrie. Menschen erhalten so das Label an einer häufigen Erkrankung zu leiden, und es werden dann übliche Behandlungsschemata verordnet, die dem Individuum eigentlich mehr schaden als nützen.

Das Problem der Überdiagnosen wurde in der Medizin erkannt. Die Zahl der Studien zu diesem Thema nimmt enorm zu: unter dem Stichwort „Overdiagnosis“ finden sich in der größten medizinischen Datenbank PubMed (US, National Library of Medicine) bereits über 8000 Publikationen (Abbildung 1).

Abbildung1. Overdiagnosis ist ein”hot topic” in der Medizin. Insgesamt verzeichnet PubMed unter dem Stichwort overdiagnosis 8132 Publikationen; deren Zahl steigt seit 1995 rasant an. (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/?term=overdiagnosis)

Internationale Konferenzen zum Thema Vermeidung von Überdiagnosen

Seit 2013 richtet ein international zusammengesetztes Board eine jährliche Konferenz zum Thema Vermeidung von Überdiagnosen aus. Diese Konferenzen setzen sich zum Ziel Überdiagnosen zu definieren, ihre Ursachen und Konsequenzen zu analysieren und Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung zu suchen. Es sind dies Tagungen, die von der Industrie weder direkt noch indirekt gefördert werden dürfen. Zu den vergangenen Tagungen gibt es reichlich Unterlagen und Videos der Hauptvorträge, die online frei verfügbar sind (http://www.preventingoverdiagnosis.net/?page_id=1180)

Im September 2016 wird diese Tagung in Barcelona stattfinden. Zu den Themen, die hier zur Diskussion stehen, und den erwarteten Ergebnissen, hat Dr. Jack O’Sullivan (University of Oxford) die beiden Co-Vorsitzenden des wissenschaftlichen Ausschusses der Konferenz - Alexandra Barratt, Professor of Public Health at the University of Sydney, und Ray Moynihan, Senior Research Fellow from Bond University, Australia, befragt.

Das folgende, von der Redaktion in deutsche Sprache, übersetzte Interview wurde am 17. Dezember 2015 in PLOS Blogs – Speaking of Medicine – veröffentlicht*

Interview zur 2016 stattfindenden Konferenz über die Vermeidung von Überdiagnosen

Dr. Jack O’Sullivan (University of Oxford) befragt die beiden Co-Vorsitzenden des wissenschaftlichen Ausschusses der Konferenz:

  • Alexandra Barratt, Professor of Public Health (University of Sydney), und
  • Ray Moynihan, Senior Research Fellow (Bond University, Australia).

Jack: Was können wir 2016 in Barcelona, dem Tagungsort der Preventing Overdiagnosis conference (PODC - Vermeidung von Überdiagnose Konferenz) erwarten?

Alexandra: Barcelona bietet eine einzigartige Gelegenheit die Perspektive der Konferenz auszuweiten und Gedanken zur Überdiagnose zwischen englischsprachigen und nicht- englischsprachigen Ländern auszutauschen. Dies ist auch wirklich wichtig – Übermedikation ist ja ein internationales Problem.

Ray: Da die 2016 Konferenz in einem spanischsprachigen Land stattfindet, ergeben sich sofort Verbindungen zu Lateinamerika. Für Entwicklungsländer, die beschränktere Gesundheitsbudgets als Industriestaaten haben, wird es noch wichtiger zu entscheiden, wofür sie ihr Geld sinnvoll ausgeben („choosing wisely“). Wir haben hier die Chance das Ausmaß an Überdiagnosen unter anderen Situationen kennenzulernen.

Jack: Spielt das Internet eine Rolle in diesen Situationen und Ländern? Welche Rolle spielt es in der Überdiagnose?

Alexandra: Wenn man in der Vergangenheit einen Test benötigte, musste man einen lokalen Gesundheits-Dienstleister aufsuchen. Dies ist nun nicht mehr der Fall. Man kann den Test jetzt online anfordern und so den Amtsweg umgehen. Das ist eines der Themen, die an der 2016 Konferenz zur Debatte stehen. Wenn jemand mit familiärer Vorbelastung für eine Krankheit vor einem Jahrzehnt zum Arzt ging, so hat dieser möglicherweise eine Handvoll genetischer Tests angefordert. Heute werden ganze Serien von 50 - 200 Genen geprüft, bis hin zur Sequenzierung des vollständigen Genoms von 22 000 Genen. Das geht heute so schnell und billig vonstatten, dass daraus vielfache Fragen erwachsen: wie interpretieren wir alle diese Informationen, wie wenden wir sie an, wie speichern wir sie und rufen sie erneut ab?

Ray: Ein direct-to-patient-marketing (Werbung, die gezielt Patienten anspricht; Anm. Red.) birgt zweifellos reale Gefahren in sich. Andererseits ist das Internet aber auch ein großartiges Instrument, um mehr kritische und genaue Informationen zu verbreiten und damit den Menschen zu helfen, sich gegen die Werbeschlachten zu wappnen.

Alexandra: Ich meine, dies streicht auch heraus, wie wichtig die Patienten selbst für einen Rückgang von Überdiagnosen sind. Patienten können damit Triebkräfte für große Veränderungen werden: uns allen wird ja zunehmend klar, dass Testungen und Behandlungen nicht ohne Risiko sind

Jack: dass Patienten wesentlich zur Reduktion von Überdiagnosen beitragen können - hat diese Überlegung das wissenschaftliche Komitee beeinflusst das Thema „Kulturelle Triebkräfte“ in das Programm der Konferenz aufzunehmen?

Alexandra: Ja, wir möchten wirklich erreichen, dass der Einfluss von Patienten und Bevölkerung bei solchen Konferenzen ausgeweitet wird. Überdiagnose ist ein soziales Problem, die Gründe dafür sind mannigfaltig und ebenso die Triebkräfte. Um hier voran zu kommen, wird es sehr wichtig sein, dass Patienten und Bevölkerung gemeinsam mit Klinikern, Politik und akademischer Forschung einen Beitrag leisten.

Ray: Als caveat ist dabei anzumerken: die Themen, die wir ausgewählt haben, sind alle sehr wichtig:

  • Erweiterung der Krankheitsdefinitionen, die Überdiagnosen verursachen
  • Genomik und ihr Potential für Überdiagnosen
  • Wirtschaftliche Konsequenzen von Überdiagnosen
  • Altern: Überdiagnosen, De-Diagnosen und deprescribing (s.u., Anm. Red.)
  • Kulturelle und existentielle Triebkräfte von Überdiagnosen
  • Maßnahmen, um Schädigungen durch Überdiagnosen zu mindern

Es wird aber wohl nicht möglich sein alle diese Themen auf nur einer Konferenz definitiv abzuhandeln und abzudecken. Wahrscheinlich werden uns diese Themen über Dekaden begleiten – sie stellen erhebliche Herausforderungen für die gegenwärtigen Gesundheitssysteme dar. Sie sind komplex und kontrovers und es sind einflussreiche Interessen im Spiel, die das Problem der medizinischen Überversorgung fördern. Die Diskussionen darüber werden über Jahrzehnte andauern.

Jack: Eines der Themen in der Konferenz im nächsten Jahr lautet “Erweiterung der Krankheitsdefinitionen, die zu Überdiagnose führen“. Was können die Delegierten zu diesem Thema erwarten?

Ray: Zwei der Plenarsitzungen werden Diskussionen über kontroverse Probleme gewidmet sein, eine dieser Sitzungen wird die Erweiterung ung der Krankheitsdefinitionen betreffen. Wir wollen dazu einem Panel, das unterschiedliche Ansichten vertritt, die Fragen stellen: wer sollte für die Änderung der Krankheitsdefinitionen die Verantwortung übernehmen und wie sollte dieser Prozess ablaufen. Dies ist für jedermann ein unglaublich relevantes Problem:

Wer sind die Leute, welche die Grenze ziehen zwischen Gesundheit und Krankheit?
Und wie ziehen sie diese Grenze?

Es gibt einige Evidenz dafür, dass es problematisch ist, wie der Prozess derzeit abläuft. Und es gibt globale Anstrengungen diesen Prozess zu reformieren. Konkret hat das Guidelines International Network (G-I-N). G-I-N eine Arbeitsgruppe Überdiagnose laufen, die erarbeitet, wie man den Prozess der Änderung von Krankheitsdefinitionen straffer führen kann.

Hier ist es auch wichtig zu bemerken, dass diese Konferenz nicht über die Überdiagnosen bei Krebserkrankungen geht. Zweifellos sind Überdiagnosen von Krebserkrankungen ein ernstes Problem und die Evidenzgrundlage ist hier ganz allgemein auch ausgereifter als bei nicht-Krebserkrankungen. Dennoch sollen bei unseren Sitzungen die Nicht-Tumorbedingungen im Vordergrund stehen.

Jack: Ein anderes Thema der 2016er Konferenz ist Alterung und Überdiagnose, Reduktion der Dosis/Stop des Medikaments (de-prescribing). Warum hat das Komitee dieses Thema angesetzt und was erwartet man davon?

Ray: Es gibt einen großartigen Geriatriker: Professor David Le Couteur, der über Prädemenz forscht und schreibt. Einen Großteil seiner Zeit in der Klinik verbringt er mit „Undiagnose“ (eine (klare) Diagnose kann nicht erstellt werden; Anm. Red.) und „De-Prescribing“. Le Couteur sieht sich alles an, womit man die alten Leute "gelabelt" hat und ob und wieweit das hilfreich ist. In Rücksprache mit den Patienten und deren Familien streicht er dann medizinische Produkte, die mehr schaden als nutzen. Wenn alles planmäßig verläuft, wird Professor Couteur zusammen mit anderen Klinikern eine Sitzung leiten und zwar darüber, wie sich in der Praxis auf den Stationen (Über)Behandlungen gefahrlos rückgängigmachen lassen.

Alexandra: Diese Bemerkung führt zu einem grundlegenden Thema der Konferenz: Quartäre Prävention (d.i. das Vermeiden unnötiger medizinischer Maßnahmen oder Übermedikalisierungen; Anm. Red.); für Menschen mit einem Risiko der Überdiagnose den Schaden auf ein Minimum reduzieren.

Ray: Quartäre Prävention ist ein aus Europa stammendes Konzept, das jetzt in Lateinamerika hohe Popularität besitzt. Dahinter steht der Gedanke, dass ein Schutz vor iatrogenen Schäden**, vor Übermedikalisierungen, ebenso wichtig ist wie Primär- und Sekundärprävention**.

Jack: Es ist offensichtlich, dass die Barcelona Konferenz – ähnlich wie die voran gegangenen Konferenzen - Kliniker, Patienten und akademische Forscher miteinbezieht. Wo wird die Politik ihren Platz finden?

Alexandra: Gastgeber der Konferenz wird eine staatliche Stelle sein, die Agency for Health Quality and Assessment of Catalonia. Viel Politik wird täglich von den Richtlinienausschüssen gemacht, die - wie Ray bereits erwähnt hat – in Barcelona durch G-I-N vertreten sind. Weiters gibt es ist die Choosing Wisely Campaign, die auf die tägliche Praxis Einfluss nimmt (wie oben angeführt ist Choosing Wisely ein Dialog zur Vermeidung überflüssiger/unwirtschaftlicher medizinischer Tests und Behandlungen; Anm. Red.). Deren Empfehlungen werden in vielen Ländern verbreitet, sie wurden bereits auf den vergangenen Konferenzen vorgestellt und werden auch diesmal in Barcelona präsentiert.

Jack: Was ist das eigentliche Ziel der Vermeidung von Überdiagnose Konferenzen?

Alexandra: Wir brauchen ein Gesundheitssystem, das bestmögliche gesundheitliche Ergebnisse für die Menschen bietet, bei minimalen durch Untersuchungen und Behandlungen hervorgerufenen Schädigungen. Gleichzeitig soll das Gesundheitssystem kosteneffizient und gerecht sein. Viele Tests und Behandlungen sind enorm nützlich, wir müssen aber die richtige Balance finden und nicht das ganze System und die Patienten mit unnötigen und schädlichen Eingriffen überschwemmen.

Ray: Wir konzentrieren uns im Moment noch sehr darauf das Problem wissenschaftlich abzudecken. Wir bemühen uns noch sehr Wesen und Ausmaß des Problems über das gesamte Gesundheitsgebiet hin zu erfassen.


* Who Draws the Line Between Health and Illness? A Look Ahead to the 2016 Preventing Overdiagnosis Conference. Posted December 17, 2015 by PLOS Guest Blogger in Conference news, Global Health http://blogs.plos.org/speakingofmedicine/2015/12/17/who-draws-the-line-b...

PLOS (The Public Library of Science) ist ein Non- profit Publisher; Artikel in den online Journalen und Blog-Einträge sind open access und können unter der Lizenz CCBY weiterverwendet werden).

**Primärprävention: das Ziel ist es, die Gesundheit zu fördern und zu erhalten und die Entstehung von Krankheiten so gut wie möglich zu verhindern.

**Sekundärprävention: soll das Fortschreiten einer Krankheit durch Frühdiagnostik und -behandlung verhindern.

**iatrogene Schäden: Krankheitsbilder, die durch ärztliche Maßnahmen verursacht wurden


Weiterführende Links

inge Fri, 01.01.2016 - 06:31