Die Bevölkerungsentwicklung im 21. Jahrhundert - Szenarien, die Migration, Fertilität, Sterblichkeit, Bildung und Erwerbsbeteiligung berücksichtigen.
Die Bevölkerungsentwicklung im 21. Jahrhundert - Szenarien, die Migration, Fertilität, Sterblichkeit, Bildung und Erwerbsbeteiligung berücksichtigen.Do, 17.05.2018 - 15:43 — IIASA
Vor Kurzem ist eine faszinierende Zusammenstellung von Daten und darauf basierenden Prognosen, wie sich weltweit die Bevölkerung im 21. Jahrhundert entwickeln wird, erschienen [1]. Es ist dies eine Zusammenarbeit des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien und der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission (JRC). Mittels Methoden multidimensionaler demografischer Analysen wurden Prognosen für eine Reihe möglicher Zukunftsszenarien erstellt, die nicht nur die Altersstruktur, Geburts- und Sterberaten der Bevölkerungen berücksichtigen sondern auch die Auswirkungen von Migration, Bildungsstrukturen und Erwerbsbeteiligung.*
Eben ist das Buch "Szenarien der Demografie und des Humankapitals im 21. Jahrhundert" (Demographic and human capital scenarios for the 21st century) erschienen [1]. Es ist das Werk des Kompetenzzentrums für Bevölkerung und Migration (Centre of Expertise on Population and Migration – CEPAM), einer Kooperation zwischen dem World Population Program des IIASA und dem Joint Research Centre (JRC) der Europäischen Kommission. Die CEPAM-Partnerschaft wurde ins Leben gerufen, um umfassend zu evaluieren, wodurch zukünftige Migration nach Europa verursacht werden wird und -zur Information der europäischen Politik ab 2019 -, um zu untersuchen, welche Auswirkungen alternative Migrationsszenarien haben würden. Das Buch bietet dafür eine essentielle Grundlage. Es dient auch als Aktualisierung zu einem früheren Buch, Weltbevölkerung und Humankapital im einundzwanzigsten Jahrhundert (World Population and Human Capital in the Twenty-First Century), das im Jahr 2014 veröffentlicht wurde [2].
Faktoren…
Wenn die Geburtenraten so niedrig sind, wie dies derzeit in Europa der Fall ist, wird die internationale Migration zum Hauptfaktor für das Bevölkerungswachstum. In Hinblick auf das Wirtschaftswachstum sind jedoch die Größe des Arbeitsmarkts und die Produktivität wichtiger. Frühere demografische Prognosen haben nur Alter und Geschlecht in der Bevölkerungsentwicklung berücksichtigt, in dieser neuen Studie werden dagegen auch Bildungsstand und Erwerbsbeteiligung in den EU-Mitgliedstaaten mit einbezogen.
…und Szenarien
Das Buch untersucht die Entwicklung der Bevölkerung in 201 verschiedenen Ländern (d.i. mehr als 99 % der Weltbevölkerung werden erfasst; Anm. Redn) basierend auf drei verschiedenen Szenarien der Migration, zusätzlich zu unterschiedlichen Szenarien für Fertilität, Mortalität und Bildung. (Anm. Redn.: Analog zu den Szenarien in der Klimaforschung werden hier sogenannte Shared Socioeconomic Pathways – SSPs definiert. SSP1 steht für rasche soziale Entwicklung assoziiert mit hoher Bildung und niedrigen Geburts- und Todesraten. SSP2 - der mittlere Weg - entspricht in etwa der Fortsetzung der derzeitigen Trends. SSP3 bedeutet stagnierende Entwicklung, assoziiert mit niedriger Bildung, hoher Fertilität und Todesrate und Armut.)
Das "mittlere" Szenario geht davon aus, dass die Wanderungsraten von ähnlicher Höhe sein werden, wie sie im Durchschnitt für jedes Land zwischen 1960 und 2015 beobachtet worden waren. Im Szenario "Doppelte Migration" wird eine zweifache Höhe der durchschnittlichen Ein- und Auswanderungsraten angenommen. Das Szenario "Null Migration" geht davon aus, dass keine Migration stattfindet.
Wie die Verfasser der Studie sagen, sind dies "naive" Szenarien; sie dienen eher als Anhaltspunkte, um die Auswirkungen von Migration auf die Bevölkerung zu verstehen als, dass sie realistische Prognosen wären.
"Migration sollte als integraler Bestandteil der Bevölkerungsdynamik gesehen werden. Deshalb betrachtet sie dieses Buch im Kontext alternativer möglicher Szenarien für alle Länder der Welt bis zum Ende dieses Jahrhunderts", sagt Wolfgang Lutz, Direktor des World Population Program des IIASA.
Entwicklung der Weltbevölkerung
Beispielsweise würde einem "mittleren" Szenario zufolge die Weltbevölkerung bis 2070-80 weiter steigen und ein Maximum von 9,8 Milliarden Menschen erreichen, bevor sie zu sinken beginnt. Abbildung 1 (von der Redaktion aus [1] eingefügt; blaue Kurven SSP2) Der Anstieg ist höher als in dem oben erwähnten, 2014 erschienen Buch [2] prognostiziert (schwarze Kurve WIC 2014 SSP2) und dies ist hauptsächlich auf einen schnelleren Rückgang der Kindersterblichkeit in Afrika zurückzuführen. Ein alternatives Szenario, das von einer raschen sozialen Entwicklung und insbesondere von einem besseren Bildungsniveau der Frauen ausgeht, würde zu einer Senkung der Geburtenraten führen, wobei 2055-60 eine Maximum der Bevölkerung von 8,9 Milliarden erreicht werden würde (grüne Kurve, SSP1). Stagnierende soziale Entwicklung und ein niedriges Bildungsniveau würden zu höheren Geburtenraten führen, der Anstieg der Bevölkerung würde sich über das gesamte Jahrhundert fortsetzen und 13,4 Milliarden im Jahr 2100 erreichen. Abbildung 1 (orange Kurve SSP3).
Abbildung 1. Prognosen für die Entwicklung der Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert entsprechend den Szenarien SSP1 – SSP3 (siehe Anm Redn. oben) und 3 Migrationsszenarien. (Die Abbildung wurde von der Redaktion aus [1] eingefügt und steht wie das gesamte Buch unter einer cc-by-nc-Lizenz.)
Unterschiedliche Gebiete
der Welt werden sich jedoch verschieden entwickeln. In der Europäischen Union wird die Bevölkerung entsprechend einem mittleren Szenario (SSP2; Anm. Redn.) bis 2035 geringfügig auf rund 512 Millionen Menschen anwachsen, und dies wird hauptsächlich auf die Zuwanderung zurückzuführen sein. Danach wird es einen Rückgang geben, da die Fertilitätsraten niedrig sind und eine deutliche Alterung zu beobachten ist. Abbildung 2 (von der Redaktion aus [1] eingefügt).
Abbildung 2. Die Entwicklung der Bevölkerung in den EU-28 Staaten bis 2060 entsprechend den Szenarien SSP1 – SSP3 (siehe Anm Redn. oben) und 3 Migrationsszenarien. (Die Abbildung wurde von der Redaktion aus [1] eingefügt und steht wie das gesamte Buch unter einer cc-by-nc-Lizenz.)
Die verfügbaren Arbeitskräfte werden jedoch nicht notwendigerweise weniger werden, wenn die Erwerbsbeteiligung der Frauen steigt. Abbildung 3 (von der Redaktion aus [1] eingefügt).
Abbildung 3. Erwerbstätige in der Europäischen Union. Oben: Entwicklung der Gesamtzahl an Arbeitskräften in der EU bis 2060. Szenario SSP2 bei Null Migration, fortgesetzter durchschnittlicher Migration und doppelt so hoher Migration. Equalisation Szenario bedeutet, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen die der Männer erreicht. im schwedischen Szenario gilt zusätzlich ein höheres Pensionsantrittsalter. Unten: Veränderung der Erwerbstätigkeit in Abhängigkeit von der Ausbildung. Szenario SSP2 bei fortgesetzter durchschnittlicher Migration. Der Anteil der Arbeitskräfte mit maximal Sekundärstufe-1 Ausbildung wird von 20, 6 % im Jahr 2015 bis auf 6, 5 % (2060) abnehmen. Dagegen werden 2060 knapp 60 % postsekundäre Ausbildung besitzen.(Die Abbildung wurde von der Redaktion aus [1] eingefügt und steht wie das gesamte Buch unter einer cc-by-nc-Lizenz.)
In der Subsahara-Zone Afrikas dürfte sich die Bevölkerung im mittleren Szenario (SSP2) bis 2060 auf rund 2,2 Milliarden Menschen verdoppeln. Bei stockender sozialer Entwicklung und fehlendem Ausbau von Schulen könnte diese Zahl sogar auf 2,7 Milliarden steigen. Dies würde wiederum zu weit verbreiteter Armut und hoher Gefährdung durch den Klimawandel führen und schwerwiegende Folgen einer möglichen Auswanderung nach sich ziehen.
Fazit
Die entwickelten Szenarien werden politischen Entscheidungsträgern dabei helfen, sich einer breiten Palette von Herausforderungen zu stellen, die von den wirtschaftlichen Folgen einer alternden Bevölkerung sich bis hin zur Festlegung von Entwicklungsprioritäten in Afrika erstrecken.
Nach Meinung der Autoren zeigen die Ergebnisse der CEPAM-Untersuchungen, dass Trends in der Bevölkerungsentwicklung innerhalb gewisser Grenzen kein Fixum sind und langfristig durch die Politik noch beeinflusst werden können. Kurzfristig gesehen ist es die Migration, auf die am einfachsten durch politische Maßnahmen eingewirkt werden kann.
[1] Lutz W, Goujon A, KC S, Stonawski M, Stilianakis N eds. (2018) Demographic and human capital scenarios for the 21st century. Luxembourg: Publications Office of the European Union [pure.iiasa.ac.at/id/eprint/15226/] . Das Buch ist open access und steht unter einer cc-by-nc-Lizenz.
[2] Lutz W, Butz WB, KC S (Hsg) (2014)World Population & Human Capital in the 21st Century. Executive Summary. http://pure.iiasa.ac.at/id/eprint/11189/1/XO-14-031.pdf
* Der von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzte, für den Blog adaptierte Text stammt von der IIASA-Presseaussendung am 18. April 2018 “New book looks at the future of population and migration " http://www.iiasa.ac.at/web/home/about/news/180418-lutz-demographics-book.html . IIASA hat freundlicherweise der Veröffentlichung von Inhalten seiner Website und Presseaussendungen in unserem Blog zugestimmt.
Der Text wurde von der Redaktion durch passende Abbildungen aus dem beschriebenen Buch Demographic and human capital scenarios for the 21st century [1] ergänzt.
Weiterführende Links
- IIASA Policy Brief: Rethinking Population Policies. Why Education Makes a Decisive Difference.(2014) http://www.iiasa.ac.at/web/home/resources/publications/IIASAPolicyBriefs/pb11-web.pdf
- Wolfgang Lutz: Population, Education and the Sustainable Development Goals (2016) Video: 12:29 min. https://www.youtube.com/watch?v=XsdnVeAGwPo. Standard YouTube Lizenz
- Wolfgang Lutz: World population and human capital in the twenty-first century (2014). Video: 9:03 min. https://www.youtube.com/watch?v=oNI25eBPBmI. Standard YouTube Lizenz
- Wolfgang Lutz: The Future Population of our Planet: Why Education Makes the Decisive Difference(2014). Video 22:28 min. https://www.youtube.com/watch?time_continue=5&v=IlKtMAMX-xA. Standard YouTube Lizenz