Grenzen des Ichs - Warum Bakterien wichtige Teile meines Körpers sind
Grenzen des Ichs - Warum Bakterien wichtige Teile meines Körpers sindDo, 01.11.2012- 00:00 — Gottfried Schatz
Bakterienzellen besitzen zwar nur rund ein Tausendstel des Volumens unserer Körperzellen, ihre Zahl in und auf unseren Körpern ist aber zehn mal so hoch wie jene, und sie tragen beträchtlich zu unserer Gesundheit bei. Mehr als 10 000 Arten von Bakterien bewohnen unsere Körper, wobei der Großteil in unserem Verdauungstrakt residiert und eine bedeutende Rolle in der Umsetzung und Aufnahme von Nährstoffen spielt. Es gehen aber auch essentielle Bestandteile unserer Zellen – die Mitochondrien - ursprünglich auf Bakterien zurück und wurden zu einem Charakteristikum eukaryotischer Zellen.
Als ich in meiner Mutter heranwuchs, war mein Ich noch klar umrissen: Alle Zellen meines Körpers trugen mein Erbgut. Doch kaum hatte ich den schützenden Mutterleib verlassen, begannen Bakterien mich zu besiedeln. In wenigen Wochen hatten sie die Oberfläche meiner Haut sowie die Schleimhäute meiner Nase, meines Mundes und meines Verdauungstrakts erobert. Heute bestehe ich aus etwa zehntausend Milliarden menschlichen Zellen und zehn- bis zwanzigmal mehr Bakterienzellen. Sind diese Bakterien Teil von mir – oder nur Parasiten? Wo endet mein Ich?
Ein buntes Völkchen
Da Bakterien etwa tausendmal kleiner als menschliche Zellen sind, machen sie nur wenige Prozente meines Körpergewichts aus – also etwa ein bis zwei Kilogramm. Sie sind ein buntes Völkchen, denn allein meine Haut beherbergt bis zu fünfhundert verschiedene Arten (Abbildung 1). Und es scheint, dass manche Arten nur auf mir leben und so meine molekulare Individualität mitbestimmen.
Abbildung 1: Eine Vielzahl und Vielfalt von Bakterien besiedeln meine Haut (Bild: Wikipedia)
Viele dieser Bakterien sind für mein Wohlbefinden fast ebenso wichtig wie mein Erbgut. Sie halten andere, krankmachende Bakterien von mir fern, förderten in meinen ersten Lebensjahren die Entwicklung meines Immunsystems und versorgten mich als hungerndes Kriegskind mit den lebenswichtigen Vitaminen K, B 12 und Folsäure, weil sie diese aus einfachen Bausteinen herstellen können. Mein Körper vermag dies nicht, und unsere kärgliche Kriegskost konnte meinen Bedarf an diesen Vitaminen nicht decken. Vielleicht haben mir die Synthesekünste «meiner» Bakterien damals das Leben gerettet.
Nicht alle meine Bakterien sind friedfertig, doch solange ich gesund bin und vernünftig lebe, hält mein Immunsystem sie in Schach. Wenn diese Abwehr aber versagt, weil ich mich schlecht ernähre, zu viel arbeite oder mit einer Virusinfektion kämpfe, kann eine Bakterienart sich plötzlich stark vermehren, Gift ausscheiden und mich akut bedrohen. Auch offene Wunden stören die Eintracht zwischen mir und meinen Bakterien, weil sie diesen Zutritt zu meinem Blut und meinen Geweben geben, wo sie Amok laufen können. Und wenn ich mir nicht regelmässig die Zähne putze, bilden Rudel verschiedener Mundbakterien auf ihnen einen festen Film und zersetzen mit ihrer Säureausscheidung meinen Zahnschmelz.
Alle uns bekannten Tiere beherbergen Bakterien, und viele könnten ohne sie nicht leben. Besonders eindrückliche Beispiele dafür liefern gewisse Insektenarten, die sich nur vom Saft bestimmter Bäume ernähren. Dieser Saft ist meist eine sehr einseitige Nahrung, weil ihm viele Aminosäuren fehlen, die das Insekt als Bausteine für Proteine benötigt, aber nicht selbst herstellen kann. Die im Insekt lebenden Bakterien können dies und sichern so ihrem Wirt das Überleben. Wohl deshalb leben viele Wirte seit Jahrmillionen mit ihren Bakterien zusammen und vererben sie über die Eier ebenso sorgfältig wie ihr eigenes Erbgut.
Kein Bakterium beherrscht die Kunst dieses Zusammenlebens so souverän wie Wolbachia. Es haust in mindestens einem Viertel aller bekannten Insektenarten sowie in vielen Würmern, Krustentieren und Spinnenarten und ist vielleicht der erfolgreichste Parasit auf unserem Planeten. Viele Wolbachia-Wirte können zwar auch ohne das Bakterium leben, beziehen aber von ihm dennoch manche Zellbausteine, die sie nicht selbst herstellen können und in ihrer Nahrung nicht in ausreichender Menge vorfinden. Wahrscheinlich hat Wolbachia vor Jahrmillionen jeweils einen Vertreter dieser Wirte infiziert und ihn dann nie wieder verlassen. Als Schmarotzer konnte das Bakterium es sich leisten, etwa drei Viertel seines Erbmaterials verkümmern zu lassen. Dies tat jedoch seiner Ausbreitung keinen Abbruch, da es über die Eier infizierter Mütter vererbt wird und das Sexualleben der von ihm infizierten Wirte zu seinem eigenen Vorteil verändert.
Je nach Art des Wirtes kann es dabei die Männchen vor dem Ausschlüpfen aus dem Ei töten, in Weibchen verwandeln oder überflüssig machen, indem es Weibchen selbst ohne Befruchtung infizierte Töchter gebären läßt (Abbildung 2).
Abbildung 2: Wolbachia in der Eizelle einer kleinen parasitischen Wespe. Die hellgefärbten Bakterien sammeln sich an einem Ende der Eizelle an, aus dem sich die reproduktiven Organe bilden sollen und induzieren die Entwicklung eine weiblichen Nachkommens ohne vorherige Befruchtung. (Bild: MicrobeWiki)
In wieder anderen Fällen können die von ihm befallenen Männchen nur mit infizierten Weibchen Nachkommen zeugen. Das Ziel ist dabei stets, möglichst viele infizierte Insektenweibchen in die Welt zu setzen, ihnen gegenüber Männchen und nicht infizierten Weibchen Vorteile zu verschaffen – und damit über infizierte Eier die eigene Ausbreitung zu fördern. Wolbachia würde selbst Niccolò Machiavelli vor Neid erblassen lassen. Vielleicht wird es in den kommenden Jahrmillionen immer mehr von seinem Erbgut an die jeweilige Wirtszelle abgeben und sich damit zu einem normalen Zellorgan mausern, das kaum mehr etwas von seiner bakteriellen Herkunft erkennen lässt.
Auch in mir leben Nachkommen freilebender Bakterien, die vor eineinhalb Milliarden Jahren meine fernen Vorfahren infizierten und sich dann in diesen fest ansiedelten. Diese Bakterien hatten gelernt, organische Stoffe mit Hilfe von Sauerstoffgas zu verbrennen und dabei grosse Energiemengen freizusetzen: Sie hatten die Zellatmung erfunden. Erst diese atmenden Parasiten lieferten ihren Wirtszellen die nötige Energie, um komplexere Lebensformen zu entwickeln. Die Wirtszellen übernahmen schliesslich mehr als neunundneunzig Prozent des Erbguts ihrer atmenden Fremdarbeiter, so dass diese heute nur ein stark verkümmertes Erbgut in sich tragen. Wider die Abschottung
Die atmenden Eindringlinge wurden so zu festen Bestandteilen meiner Zellen – den Mitochondrien. Und der winzige Rest ihres Erbguts, der nur noch Baupläne für dreizehn Proteine trägt, ist heute meine Mitochondrien-DNS. Sie ist mein zweites DNS-Genom, das zwar viel kleiner als das meines Zellkerns, aber für mich ebenso lebenswichtig ist. Meine Mitochondrien können nicht mehr frei leben oder Zellen infizieren, sondern werden, ebenso wie Wolbachia-Bakterien, über die Eizelle der Mutter vererbt. Männer sind für Mitochondrien also eine genetische Sackgasse: Ich konnte meine Mitochondrien keinem meiner Kinder weitergeben.
Etwa fünf bis sieben Kilogramm von mir sind Mitochondrien. Weil sie von allem Anfang an in mir waren, empfand ich sie stets als Teil meines Ichs. Doch jetzt, wo ich um ihre Herkunft weiss, bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Und wenn ich dann noch an die ein bis zwei Kilogramm Bakterien denke, die mich nach meiner Geburt besiedelten, beginnen sich die Grenzen meines Ichs weiter zu verwischen.
Vielleicht ist dies gut so. Wer sein Ich zu wichtig nimmt und argwöhnisch dessen Grenzen abschottet, verschliesst den Blick vor der Vielfalt der Welt und huldigt dumpfem Stammesdenken. Dies gilt nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für Völker, Nationen und Kulturen. Wem das eigene Ich Mass aller Dinge, der Mensch gesetzgebende Krone der Schöpfung oder die eigene Sicht der Welt die einzig wahre ist, der hat die letzten Jahrhunderte ebenso verschlafen wie der, für den unsere Erde immer noch das Zentrum des Universums ist. Wenn die moderne Biologie nun die Grenzen meines Ichs verwischt, schmälert sie es nicht, sondern schenkt ihm zusätzliche Einsicht und Tiefe.
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