Fliegen lehren uns, wie wir lernen

Fliegen lehren uns, wie wir lernen

Do, 29.12.2022 — Nora Schultz

Nora SchultzIcon Gehirn-Fliege

Die Taufliege Drosophila gehört zu den beliebtesten Tiermodellen der Genetiker und auch der Neurowissenschafter. Zwar liegen zwischen Fliegen und Menschen Welten; doch schaut man dem kleinen Insekt ins Gehirn – und ins Genom – , so zeigt sich, dass doch vieles sehr ähnlich funktioniert. Viele der heute auch für den Menschen relevanten Gene wurden erstmals in Taufliegen entdeckt. Die Tiere entfalten komplexe Verhaltensmuster, sie machen Erfahrungen, bewerten, lernen, erinnern sich und können auch vergessen. Die Entwicklungsbiologin Nora Schultz gibt eine Einführung in das faszinierendeThema.*

In Kurt Neumanns Horrorfilm „Die Fliege“ aus dem Jahr 1958 widerfahren einem Forscher schlimme Dinge, nachdem sein Körper in einem Experiment versehentlich mit dem einer Fliege verschmolzen ist. Im Gegensatz dazu bleibt die reale Forschung, die sich in vielen Disziplinen seit mehr als 100 Jahren um die Taufliege Drosophila melanogaster dreht, bislang ohne gruselige Nebenwirkungen. An Visionsfülle steht die Realität dem Film jedoch kaum nach: Das kleine Insekt – vielen auch als Frucht- oder Essigfliege bekannt – soll große Fragen beantworten und hat viele Antworten bereits geliefert: Wie wächst aus einer befruchteten Eizelle ein komplexer Körper? Wie entstehen Krebs und andere Krankheiten? Wie lernt ein Gehirn?

Gerade die letzte Frage erscheint anmaßend. Nur 100.000 Neurone arbeiten im Drosophila-Gehirn; im Menschenkopf knäulen sich 86 Milliarden Nervenzellen, fast zehntausendmal so viele. Doch was man bisher über die Fliege weiß, gibt Anlass zum Optimismus, dass uns das bescheidene Fliegenhirn einiges über das Lernen lehren kann. Nicht ohne Grund ist Drosophila das liebste Versuchstier der Forschung. (Siehe Box).

Drosophila - Superstar unter den Tiermodellen

  • Die Taufliege Drosophila ist der Superstar unter den Versuchstieren: klein, pflegeleicht und vermehrungsfreudig. Eine neue Fliegengeneration wächst in nur 10 Tagen heran.
  • Viele heute bekannte Gene wurden zuerst in Taufliegen entdeckt. Das klappt in Reihenuntersuchungen, in denen man zum Beispiel mit Strahlen oder Chemikalien Mutationen entstehen lässt und dann in den Insekten nach veränderten Eigenschaften sucht und diese beschreibt. Viele der so gefundenen Gene arbeiten in ähnlicher Form auch im Menschen.
  • Auch die Struktur und Funktion von Nervenzellen und neuronalen Netzwerken ähneln sich im Menschen und in der Fliege. Und da Fliegen einiges lernen und sich vielfältig verhalten können, lassen sich auch neurowissenschaftliche Fragen gut an ihnen untersuchen.
  • Fruchtfliegen sind experimentell besonders zugänglich. Ihre Gene lassen sich in einzelnen Gewebe- oder Zelltypen gezielt aktivieren, blockieren oder in ihrer Funktion verändern. Auch die Aktivität einzelner Zellen oder Moleküle lässt sich im lebenden Tier gut manipulieren und beobachten. Fliegen eignen sich daher gut für die Untersuchung molekularer und zellulärer Mechanismen.
  • Im Gehirn der Fliege vereint der Pilzkörper auf kompaktem Raum wichtige Funktionen, die im menschlichen Gehirn auf unterschiedliche Regionen verteilt sind: die Integration von Sinneseindrücken, die Bildung und Speicherung von Erinnerungen und eine Entscheidungszentrale zur Verhaltenssteuerung. Im Pilzkörper lässt sich daher besonders gut integrativ untersuchen, wie Moleküle, Nervenzellen und Netzwerke zusammenwirken, um situations- und erfahrungsabhängiges Verhalten hervorzubringen.

Bild von Redn. eingefügt. Quelle: Flickr by cudmore. https://www.flickr.com/photos/cudmore/4277800.   Lizenz: cc-by-sa.

Schon um 1910 wusste der US-amerikanische Zoologe und Genetiker Thomas Hunt Morgan die Vorzüge der kleinen Fliege zu schätzen: für seine Pionierarbeiten in der Genetik, für die er später den Nobelpreis bekam. Taufliegen sind klein, pflegeleicht, überaus fruchtbar und vermehren sich schnell. Eine Generationszeit dauert gerade mal zehn Tage. Morgan und sein Team benötigten in ihrem „Fly Room“ – einem nur 35 Quadratmeter kleinen Labor – anfangs wenig mehr als reife Bananen, Milchflaschen und Lupen, um an tausenden Fliegen zu beobachten, wie bestimmte Merkmale von Generation zu Generation weitervererbt wurden.

Es sind die Gene

Dabei wurde schnell klar, dass Fliegen in vielerlei anderer Hinsicht einen Glücksgriff für die biologische Forschung bedeuten. Die Tiere lassen sich sowohl genetisch als auch zell- und molekularbiologisch überaus gut untersuchen und manipulieren. Morgan und viele andere, die schon bald in dessen Fußstapfen traten, entlockten Drosophila zunächst Geheimnisse, indem sie die Tiere mutierenden Röntgenstrahlen oder Chemikalien aussetzten. Die Effekte dieser Mutationen untersuchten sie dann im Rahmen sogenannter Screens in mühevoller Kleinarbeit und ordneten sie konkreten Positionen auf den Chromosomen zu.

Christiane Nüsslein-Volhard und Eric Wieschaus beispielsweise charakterisierten 1980 auf diese Weise 600 Mutationen in 120 Genen, die das Segmentmuster von Fliegenlarven verändern – eine Arbeit, für die sie später ebenfalls den Nobelpreis erhielten. Damit entschlüsselten sie entscheidenden Mechanismen der Embryonalentwicklung. Und, wie sich später herausstellte, orchestrieren diese Gene vielfach auch bei anderen Tieren bis hin zum Menschen die Entwicklung und sind an Krankheitsprozessen beteiligt – so auch im Nervensystem.

Die überraschende Ähnlichkeit zwischen Taufliegen und anderen, mit ihr nur äußerst entfernt verwandten Lebewesen hat sich seitdem immer wieder bestätigt. Im Jahr 2000 gelang es, das Genom der Fliege vollständig zu entschlüsseln; wenige Monate später erschien 2001 die erste, noch nicht ganz vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms. Seitdem ist klar, dass es für viele menschliche Gene entsprechende Pendants mit ähnlicher Struktur und/oder Funktion in der Fliege gibt. Das gilt beispielsweise für 77 Prozent der 2001 bekannten krankheitsrelevanten menschlichen Gene . Die Liste wird in einer online einsehbaren Datenbank, der „ Flybase “ “ (https://flybase.org/lists/FBhh/), ständig aktualisiert.

Durchaus lernfähig

Auch das Fliegenhirn ähnelt dem menschlichen Gehirn mehr, als man zunächst vermuten möchte. Es ist zwar nur so groß wie ein Mohnkorn, leistet aber auf diesem kleinen Raum eine ganze Menge an Dingen. Fliegen riechen und sehen zum Beispiel sehr gut und gleichen diese und andere sensorische Informationen ständig mit weiteren Details ab, um Entscheidungen zu treffen, durch den dreidimensionalen Raum zu navigieren, Futter zu finden, Gefahren zu meiden und andere Fliegen zu bezirzen oder zu bekämpfen.Abbildung.

Fliegenhirn:- Klein wie ein Mohnkorn, aber ähnlicher dem menschlichen Gehirn, als man vermuten möchte. Unten: Signale der Aussenwelt - z.B. Duft - werden im Pilzkörper verarbeitet. (Bilder von Redn. eingefügt. Quelle: Die Fliege. https://www.youtube.com/watch?v=oH0Fy3lp7Zg.© 2022 www.dasGehirn.info. Lizenz: cc-by-nc)

Ein derart komplexes Verhaltensrepertoire kann nur entfalten, wer lernfähig ist. Fliegen lernen, greifen auf Erinnerungen zurück und vergessen manches auch wieder, genau wie Menschen. Selbst wenn zwischen dem Alltag von Drosophila melanogaster und dem des Homo sapiens Welten liegen, sind die Grundherausforderungen ans Überleben im Kern so ähnlich, dass auch bewährte Lernmechanismen im Laufe der Evolution erhalten geblieben sind – genau wie die beteiligten Gene. Schon in den 1960er und -70er Jahren entdeckte der US-Forscher Seymour Benzer in Screens Gene, die sich auf die Lernfähigkeit von Fliegen auswirken. Gene mit den klangvollen Namen dunce und rutabaga zum Beispiel verschlüsseln die Bauanleitung für Enzyme, die eine wichtige Rolle in intrazellulären Signalkaskaden spielen, die essenziell für Lernprozesse sind. Auch von diesen und vielen weiteren neurobiologisch relevanten Fliegengenen haben Forschende seitdem menschliche Pendants ausgemacht. Es existieren also durchaus grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Drosophila melanogaster und Homo sapiens. Und so ist es dann auch möglich, durch Untersuchungen an der Fliege auch für den Menschen relevante Details darüber herauszufinden, wie Erfahrungen und Lernprozesse, aber auch Krankheiten die neuronalen Schaltkreise verändern, die zur Verhaltenssteuerung dienen.

Fliegenforschung vorn

Die Taufliege macht es Forschern leicht, sie experimentell unter die Lupe zu nehmen und Fragen nachzugehen, die sich beim Menschen oder auch bei anderen Versuchstieren nicht oder nur schwer untersuchen lassen. Bereits seit den 1980er Jahren existieren experimentelle Techniken, um gezielt in das Genom der Fliege einzugreifen, und sie werden ständig verfeinert. Bestimmte Gene oder Genabschnitte lassen sich gezielt in einzelnen Gewebe- oder Zelltypen aktivieren, blockieren oder in ihrer Funktion verändern, auch durch Zugabe von Transgenen, also Genabschnitten anderer Spezies. Solche Veränderungen können dauerhaft sein oder so konzipiert, dass sie sich durch bestimmte Signale ein- und ausschalten lassen, etwa durch Licht.

Bei der Untersuchung molekularer und zellulärer Lernmechanismen hat zudem gerade die kleine Statur des Fliegenhirns einen entscheidenden Vorteil: „In der Maus liegen die Zellen und Schaltkreise, die an einem bestimmten Verhalten mitwirken, so weit auseinander, dass man sie nicht gleichzeitig bei der Arbeit beobachten kann“, sagt André Fiala von der Universität Göttingen. „In der Fliege hingegen können wir zugleich auf die Details der einzelnen Nervenzelle mit ihren Synapsen schauen und auf das, was im Netzwerk passiert.“

Flexible Neurone

Dabei zeigt sich, dass unterschiedliche Synapsen in ein und derselben Zelle je nach Geruch unterschiedlich aktiv sind – und dass diese Aktivitätsmuster sich verändern, wenn die Fliege lernt, einen Duft mit einem negativen Reiz, beispielsweise Schmerz zu verknüpfen. Diese Veränderungen gibt die Kenyonzelle an die an den jeweiligen Synapsen verknüpften Neurone weiter, die nun selbst verändert auf die stärkeren oder schwächeren Signale reagieren, die an dieser Synapse empfangen. Das Gelernte ist damit als messbare Gedächtnisspur fixiert worden. „Interessant ist, dass das Gedächtnis hier nicht in ganzen Zellen, sondern in einzelnen Zellabschnitten codiert wird“, erklärt Fiala. Aktuell untersucht sein Team, wie diese abschnittsweise Regulierung der Aktivität auf der molekularen Ebene funktioniert.

Es gibt noch viele weitere offene Fragen zur Verhaltenssteuerung, bei deren Beantwortung die Pilzkörper der Fliege helfen könnten. Was verändert sich zum Beispiel, wenn Gedächtnisspuren vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis wandern? Wie genau lernt man, dass bestimmte Nahrungsmittel giftig oder verdorben waren, wenn zwischen der Aufnahme und unangenehmen Symptomen etwas Zeit verstreicht? Wie unterscheiden sich Lernprozesse, bei denen ein bestimmtes Ereignis mit einer angenehmen Belohnung verbunden wird von solchen, bei denen man „nur“ einer unangenehmen Situation entkommt? Und was geschieht, wenn das Altern oder neurodegenerative Erkrankungen die Funktion von Zellen und Schaltkreisen, die am Lernen und Gedächtnis beteiligt sind, beeinträchtigt?

Mit Hilfe von Drosophila und einem gut gefüllten molekularbiologischen Werkzeugkasten lassen sich Antworten finden und in Computermodelle übersetzen, die auch für Menschen relevante Vorhersagen darüber erlauben, wie die raum-zeitliche Dynamik von Molekülen, Zellen und Netzwerken im Gehirn Lernprozesse und die Steuerung von Verhalten. Solche Modelle könnten sogar im Bereich Künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen, um Maschinen effektiver lernen zu lassen. Welche Erkenntnisse aus der Fliegenwelt dann wirklich auch für den Menschen gelten, bleibt abzuwarten. Um das, was sie von der Fliege gelernt haben, auf die nächste Ebene zu bringen, setzen Forscher auch auf weitere, näher mit dem Menschen verwandte Modellorganismen, wie Zebrafische und Mäuse, sowie auf Studien mit menschlichen Zellkulturen und Gewebeproben. Ein aus Mensch und Fliege verschmolzenes Mischwesen wie in Neumanns Horrorfilm braucht es zur Klärung dieser Fragen zum Glück nicht.


* Der Artikel stammt von der Webseite www.dasGehirn.info, einer exzellenten Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe). Im Fokus des Monats Dezember steht das Thema "Fliege". Der vorliegende Artikel ist am 6.12.2022 unter dem Titel: "Fliegen? Wieso Fliegen?" https://www.dasgehirn.info/entdecken/die-fliege/fliegen-wieso-fliegen   erschienen. Der unter einer cc-by-nc-sa Lizenz stehende Artikel wurde unverändert in den Blog gestellt, die Abbildungen von der Redaktion eingefügt.


 Weiterführende Links

Arvid Ley (dasGehirnInfo): Die Fliege. (12.2022) Video 5:07 min. https://www.youtube.com/watch?v=oH0Fy3lp7Zg

Arvid Ley (dasGehirnInfo): Im Kopf der Fliege. (12.2022) Video 36:06 min. https://www.youtube.com/watch?v=BBQZd-fKCh0&t=50s

Zum Weiterlesen

• Hales KG, Korey CA, Larracuente AM, Roberts DM. Genetics on the Fly: A Primer on the Drosophila Model System. Genetics. 2015 Nov;201(3):815-42. DOI: 10.1534/genetics.115.183392

• Bellen HJ, Tong C, Tsuda H. 100 years of Drosophila research and its impact on vertebrate neuroscience: a history lesson for the future. Nat Rev Neurosci. 2010 Jul;11(7):514-22. doi: 10.1038/nrn2839

• Bilz, F., Geurten, B.R.H., Hancock, C.E., Widmann, A., and Fiala, A. (2020). Visualisation of a distributed synaptic memory code in the Drosophila brain. Neuron, 106, 1–14. DOI: 10.1016/j.neuron.2020.03.010

• https://www.annualreviews.org/doi/10.1146/annurev-cellbio-113015-023138.https://doi.org/10.1146/annurev-cellbio-113015-023138

https://journals.biologists.com/dmm/article/9/3/235/20105/Drosophila-tools-and-assays-for-the-study-of-human

https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0092867418307876

https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(18)30787-6

Fliegen im ScienceBlog

Jacob w.Gehring, 25.10.2012: Auge um Auge — Entwicklung und Evolution des Auges

Gottfried Schatz, 13.12.2013: Wider die Natur? — Wie Gene und Umwelt das sexuelle Verhalten prägen

Bill S. Hansson, 19.12.2014: Täuschende Schönheiten

Gero Miesenböck, 23.02.2017: Optogenetik erleuchtet Informationsverarbeitung im Gehirn

Nora Schultz, 30.12.2021: Sinne und Taten - von der einzelnen Sinneszelle zu komplexem Verhalten


 

 

 

 

 

inge Fri, 30.12.2022 - 00:37