Formaldehyd als Schlüsselbaustein der präbiotischen Evolution — Monade in der Welt der Biomoleküle
Formaldehyd als Schlüsselbaustein der präbiotischen Evolution — Monade in der Welt der BiomoleküleFr, 15.11.2013 - 06:07 — Christian Noe
Physik und Chemie reichen aus, um die Entstehung der großen Klassen der Biomoleküle ( der Kohlehydrate, Lipide, Aminosäuren, Nukleinsäuren) aus den in der Uratmosphäre vorhandenen Molekülen zu erklären. Das kleine Molekül des Formaldehyds war auf Grund seiner ihm innewohnenden Reaktivität in der Lage ein nahezu vollständiges Set an präbiotischen Biomolekülen aufzubauen.
Beginnend mit den Pythagoräern, über Gordano Bruno und Gottfried Leibniz bis hin in unsere Zeit verwenden Philosophen den Begriff Monade – abgeleitet vom griechischen „monas“: die Einheit - um „elementare Einheiten“ zu beschreiben, aus denen die Erscheinungen der Wirklichkeit zusammengesetzt sind. Auch, wenn Bedeutungen und Deutungen der Monaden unterschiedlich ausfallen, so ist es deren gemeinsames Charakteristikum , daß sie nicht nur kleinste physische Einheiten, sondern auch deren Funktionen definieren.
Ein „verstaubter“ Begriff in der modernen Biologie?
Unsere heutige Zielsetzung strebt an Lebensformen in holistischer Weise als Systeme (systembiologisch) erfassen und verstehen zu wollen. In diesem Sinne erscheint die Metapher „Monade“ durchaus passend:
in einem derartigen sytembiologischen Ansatz steht die Monade dann für die kleinste Einheit, welche im Kern bereits die Anlage für das Funktionieren des ganzen Systems enthält.
Auf Biomoleküle angewandt wäre eine Monade ein kleinstes Biomolekül, dessen ureigene Reaktionsbereitschaft ausreicht um ein anfängliches („primordial“) metabolisches System aufzubauen, aus welchem sich in Folge das eigentliche Stoffwechselsystem entwickeln kann. Dieses stellt neben der Kompartmentalisierung, der Aufrechterhaltung eines stationären Zustands (einer Homöostase) und der Reproduktion eines der funktionellen Charakteristika lebender Organismen dar.
Wie Untersuchungen auch aus unseren Forschungslabors während der letzten drei Jahrzehnte zeigten*, ist das kleine, aus vier Atomen bestehende Molekül des Formaldehyds auf Grund seiner ihm innewohnenden Reaktivität in der Lage ein nahezu vollständiges Set an präbiotischen Biomolekülen aufzubauen.
Formaldehyd und die Uratmosphäre
Von den sechs wichtigsten chemischen Elementen aus denen unsere Biomoleküle zusammengesetzt sind - Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Sauerstoff (O), Stickstoff (N), Phosphor (P) und Schwefel (S) – enthält Formaldehyd drei Elemente C, H und O. (Abbildung 1). Kohlehydrate – d.i. vor allem Zucker und Stärke –, die aus eben diesen Atomen bestehen, sind offensichtlich aus der Kondensation von Formaldehyd-Molekülen hervorgegangen.
Abbildung 1. Chemische Struktur des Formaldehyds. Im Kugel-Stab-Modell (rechts oben) sind die Atome als Kugeln und die Bindungen als Stäbchen maßstabgerecht dargestellt.
In der Uratmosphäre lagen die Elemente C, H, O und N vorwiegend in der Form der Moleküle CO2, H2O und N2 vor, daneben auch als Methan (CH4), Ammoniak (NH3) und Wasserstoff (H2). (Diese Moleküle finden sich beispielsweise auch in vulkanischer Asche.) Die Frage ob auch bereits Formaldehyd zur Verfügung stand, wird durch die Tatsache bestätigt, daß Formaldehyd als eine der am häufigsten vorkommenden chemischen Verbindungen im interstellaren Raum und als eine Hauptkomponente im Eis der Kometen nachweisbar ist und daß er experimentell, in Versuchen, die diverse präbiotische Bedingungen simulieren, aus unterschiedlichen Gasgemischen entsteht. (Dazu gehören die berühmten Versuche von Stanley Miller und Harold Urey in den 1950er Jahren, in denen aus den Gasen NH3, H2, CH4 und Wasserdampf mit Hilfe elektrischer Entladungen eine „Ursuppe“ organischer Verbindungen - von Formaldehyd und Hydrogencyanid (HCN) bis hin zu Aminosäuren – erzeugt wurde.)
Vom Formaldehyd zu den Biomolekülen
Seit der Entdeckung vor rund 160 Jahren wurde die Reaktion des Formaldehyds mit sich selbst – die sogenannte Formose-Reaktion - intensivst untersucht - einerseits unter dem Aspekt eine neue Quelle zur Erzeugung von Nährstoffen generieren zu können, andererseits um die Rolle des Formaldehyds in der präbiotischen Evolution aufzuklären.
Erste Analysen der aus der Formose Reaktion hervorgegangenen Produkte zeigten, daß aus Formaldehyd ein überaus komplexes Reaktionsgemisch entsteht, in welchem auch biologisch relevante Zucker, wie z.B. Glukose, vorkommen. In der weiteren Folge wurden die Mechanismen, die den einzelnen Schritten in dem Gesamtprozeß zugrundeliegen, aufgeklärt:
Der erste Schritt – die Kondensation von 2 Formaldehyd Molekülen – führt zum sogenannten Glykolaldehyd, der als einfachster Zucker („Diose“) betrachtet werden kann. Der Mechanismus dieser Reaktion basiert auf der Fähigkeit des Formaldehyds seine Partial-Ladungsverteilung so „umzupolen“, daß der Kohlenstoff eines Moleküls an den Kohlenstoff eines zweiten Moleküls addiert, eine C-C Bindung entsteht.
Der Weg zu den Kohlehydraten
Aus Glykolaldehyd entstehen durch Selbstkonstituierung Zuckermoleküle: 3 Moleküle ergeben Zucker mit einem Gerüst aus 6 C-Atomen, die sogenannten Hexosen, zu denen u.a. Glukose („Traubenzucker“), Galaktose und Mannose gehören. Ein typisches Ergebnis einer derartigen Trimerisierung ist in Abbildung 2 aufgezeigt. Das Produktgemisch verschiebt sich dabei mit fortschreitender Reaktionszeit hin zur Glukose als Hauptprodukt.
Abbildung 2. Typischer Verlauf der Selbstkondensation von Glykolaldehyd (nur Hauptprodukte sind gezeigt). Reaktion in Äther unter alkalischen Bedingungen, bei Raumtemperatur. Details: siehe CR Noe et al., 2013.
In Gegenwart von Formaldehyd bilden sich aus Glykolaldehyd Zucker mit einem Gerüst aus 5 C-Atomen, die sogenannten Pentosen, wobei als Hauptprodukt zunächst Ribose entsteht – einer der essentiellen Bausteine der Nukleinsäuren -, und das Gleichgewicht sich in der Folge langsam zum Holzzucker Xylose verlagert.
Vom Formaldehyd zur ersten Aminosäure
Die oben erwähnte Fähigkeit des Formaldehyds zur „Umpolung“ seiner Ladungsverteilung kann auch eine Verknüpfung des Formaldehyds-Kohlenstoffs mit anderen Molekülen der Uratmosphäre bewirken, wie dem Ammoniak oder Hydrogencyanid, und damit zum Selbst-Aufbau der Aminosäuren führen.
Die Addition von Cyanid an Formaldehyd führt zur Bildung eines sogenannten Cyanohydrins, welches – hydrolysiert – Glykolsäure, die einfachste alpha-Hydroxycarbonsäure ergibt. Zusätzliche Addition von Ammoniak führt nach Hydrolyse zur einfachsten Aminosäure, dem Glycin.
Ebenso wie der ubiquitäre Formaldehyd sind auch Glykolaldehyd und weitere organische Verbindungen im interstellaren Raum vorhanden: Als der Murchinson Meteorit 1969 auf die Erde fiel, ergab die chemische Analyse, daß er 18 Aminosäuren enthielt.
Entstehung „chiraler“ Verbindungen
Glykolaldehyd polymerisiert sehr leicht und bildet dabei stets schraubenförmige Ketten. Es können links drehende Schrauben oder rechts drehende Schrauben auskristallisieren, in welchen die Atome (-O-C-) ähnlich angeordnet sind, wie etwa jene in Quarzkristallen (-O-Si-). Aus der Addition von Cyanid an den Glykolaldehyd entsteht als Produkt ein Molekül, welches an einem der Kohlenstoffatome vier verschiedene Substituenten (-CN, -OH, –H und -CH2OH) trägt, die häufigste strukturelle Voraussetzung, um in organischen Molekülen Asymmetrie zu bewirken. Es sind zwei unterschiedliche räumliche Anordnungen der Substituenten möglich, die resultierenden Moleküle sind unterscheidbar, können wie Bild und Spiegelbild (oder linke und rechte Hand), nicht zur Deckung gebracht werden können – es ist eine sogenannte chirale (von griechisch: „cheir“ die Hand) Verbindung entstanden.
Chiralität chemischer Verbindungen ist ein fundamentales Prinzip der Biochemie: in den großen Klassen der Biomoleküle, wie Kohlehydrate, Aminosäuren, Nukleinsäuren, ist (nahezu) ausschließlich jeweils nur eine der chiralen Formen vorhanden. Auch alle Proteine, die spezifisch mit einem Partner reagieren – Enzyme, Rezeptoren, Transporter – bevorzugen diesen in einer chiralen Form. Wir konnten zeigen, dass jene Effekte, welche zu schraubenförmigen Anordnung des Polyformaldehyds führen, auch bei der Trimerisierung von Glykolaldehyd zur Wirkung kommen. Man darf grundsätzlich erwarten, dass bei dieser Reaktion Traubenzucker in einheitlicher räumlicher Anordnung das überwiegende Hauptprodukt sein kann. Damit sind diese (stereoelektronischen) Effekte zugleich eine zentrale Basis für die Ausrichtung der Amplifikation der Chiralität in den lebenden Systemen, welche im Laufe der Evolution durch Proteine und Enzyme schließlich perfektioniert wird.
Formaldehyd in der präbiotischen Evolution
Selbstkondensation und Reaktionen mit anderen Molekülen der Uratmosphäre haben zu den großen Klassen der Biomoleküle, u.a, von Kohlehydraten, Aminosäuren, Komponenten von Nukleinsäuren und Stoffwechselsystemen geführt. Ein stark vereinfachtes Bild der Reaktionen von Formaldehyd ist in Abbildung 3 gegeben. Abbildung 3. Die Rolle des Formaldehyds in der präbiotischen Evolution. Durch Selbstkondensation entsteht Glykolaldehyd und aus diesem in Folge Kohlehydrate (liks). Addition von Cyanid und Ammoniak an Formaldehyd generieren alpha-Hydroxycarbonsäuren und Aminosäuren (rechts). Addition von Cyanid an Glykolaldehyd .führt zur Bildung chiraler Verbindungen (Mitte unten)
Man kann also davon ausgehen, daß weder D-Glukose noch L-Aminosäuren als Bausteine der Proteine, oder die Komponenten der RNA „Leben“ zu ihrer Entstehung benötigen. Dementsprechend lässt sich natürlich aus deren Vorhandensein ebensowenig auf die Existenz von „Leben“ schließen. Es ist vielmehr die inhärente Reaktivität des „Urmoleküls“ Formaldehyd, welches – abhängig von äußeren Bedingungen - über Selbstkonstituierung und Addition anderer „Urmoleküle“ bzw. „Monaden des Biosystems“ zum Aufbau einer übersehbaren Palette von durch ihre Reaktivität verbundenen Biomolekülen geführt hat.
Mit dem Einschließen solcher durch rein chemische Evolution geschaffenen Ur-Biomolekülsysteme in Kompartimente wurde in der Folge eine weitere Stufe in der Evolution erreicht. Im geschlossenen Kompartiment entsprach das Gleichgewicht der vorhandenen Biomoleküle im Prinzip der Homöostase einer Zelle. Es waren prä-metabolische Systeme entstanden. Ein wesentliches Kriterium des Lebens bestand nun in der Möglichkeit der lebenden Zelle, auf Störungen der Homöostase zu reagieren. Mit der Ausbildung prä-metabolischer Systeme in zellulären Kompartimenten war die Voraussetzung dazu eröffnet.
Natürlich bleiben bei diesen Schritten der chemischen Evolution weiterhin viele Fragen ausgeblendet. Weder die Mechanismen der zellulären Antwort, noch die Integration mit der RNA-Welt sind unmittelbar angesprochen. Es ist allerdings zu zweifeln, dass es nur reiner Zufall war, dass sich aus diesen Protozellen „Leben“ entwickeln konnte. Man sollte es hier eher mit dem Statement des Philosophen Baruch Spinoza halten, der meinte, daß wir dann eine Sache als „Zufall“ ansehen, wenn wir sie nicht verstehen. (At res aliqua nulla alia de causa contingens dicitur nisi respectu defectus nostrae cognitionis.)
* Details und Literatur zu diesem Essay finden sich in einem aktuellen, online frei zugänglichem Reviewartikel des Autors: C.R. Noe et al., Formaldehyde—A Key Monad of the Biomolecular System, Life 2013, 3, 486-501.
Weiterführende Links
Sutter's Mill: Meteorit enthielt Bausteine für Leben „Mit einem gewaltigen Knall ging der Meteorit Sutter's Mill im April 2012 in den USA nieder. Nun haben Wissenschaftler in den Bruchstücken komplexe Kohlenstoffverbindungen nachgewiesen - wichtige Bausteine für die Entstehung von Leben auf der Erde.“ http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/meteorit-sutter-s-mill-liefer...
U. Kutschera: Was sind Ursprungstheorien? (Tatsache Evolution) (2011) Die Gesetze der Physik und Chemie reichen aus, um im Prinzip den Ursprung der ersten Vorläufer-Zellen zu verstehen, obwohl noch viele Detailfragen zur chemischen Evolution ungelöst und daher Gegenstand der Forschung sind. 10:35 min Artikel: Jack W. Szostak und Alonso Ricardo (2010) „Wie das Leben auf die Erde kam“ Im Labor wiederholen Forscher die tastenden Schritte, mit denen einst aus unbelebter Materie die ersten Organismen entstanden. Harald Lesch: Wasser - Grundbaustein des Lebens (2012) 11:17 min. Harald Lesch: Alpha centauri – Wie dünn war die Ursuppe? Folge 54 (2012) 14.15 min. Entstehung des Lebens - Abiogenese 10 min. Im ScienceBlog: P. Schuster: Zum Ursprung des Lebens — Konzepte und Diskussionen