Die Sage vom bösen Cholesterin
Die Sage vom bösen CholesterinFr, 13.09.2013 - 12:21 — Inge Schuster
Aus der Annahme mit Cholesterin den wesentlichen Auslöser lebensbedrohender Gefäßerkrankungen entdeckt zu haben, entwickelte sich diese Substanz in den letzten Jahrzehnten zum Schreckgespenst der Medizin. Wie böse ist Cholesterin tatsächlich? Der vorliegende Artikel beschreibt die essentielle Rolle des Cholesterins in Aufbau und Funktion unserer Körperzellen: als unabdingbarer Bestandteil von Zellmembranen, deren Eigenschaften es reguliert, aber auch als Vorläufer bioaktiver Steroide, vor allem der Steroidhormone, welche zentrale Lebensvorgänge - Entwicklung, Fortpflanzung und Stoffwechsel - steuern.Ein um seriöse Auskunft bemühter Laie findet in Medien und Literatur weitestgehend negative Darstellungen des Naturstoffs, die bis hin zur Panikmache gehen. Sind verheerende Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall zwangsläufig Folge eines erhöhten Cholesterinspiegels, können diese effizient verhindert werden, wenn man den Cholesterinspiegel mit dem Produkt X, dem Medikament Y senkt? Über die essentielle Rolle des Cholesterins für die Funktion jeder einzelner Körperzelle und unseres ganzen Organismus wird dagegen kaum berichtet.
Was ist Cholesterin?
Cholesterin, ein starres, hydrophobes (in Wasser praktisch unlösliches) Molekül, ist ein Grundbaustein aller tierischen Organismen. Weil es - im 18. Jahrhundert - erstmals aus Gallensteinen isoliert wurde, erhielt es, wie damals üblich, eine diesem Vorkommen entsprechende, aus griechischen Worten zusammengesetzte Bezeichnung (chole: Galle, stereos: fest).Die chemische Struktur (Abbildung 1) setzt sich aus einem starren Gerüst von 4 Kohlenstoff-Wasserstoffringen (A – D) zusammen und einer flexiblen Kohlenstoff-Wasserstoff (Alkan) -Seitenkette. Eine Hydroxylgruppe (OH-Gruppe) macht Cholesterin zum Alkohol und ist für die spezifische Wechselwirkung mit anderen Biomolekülen wichtig.
Abbildung 1. Die chemische Struktur des Cholesterin besteht aus 3 sechsgliedrigen (A – C) und einem fünfgliedrigen (D) Kohlenstoff-Wasserstoffring der eine flexible Seitenkette trägt.
Das starre 4-Ringsystem war namensgebend für die Stoffklasse der „Steroide“ in welche Cholesterin und mit ihm verwandte Verbindungen fallen. Derartige Steroide - essentielle Bestandteile auch der anderen höheren Lebensformen (Eukaryonten), also der Pilze und Pflanzen - tauchen bereits sehr früh in der Erdgeschichte auf: der Nachweis in 2,7 Milliarden Jahre alten australischen Schiefern markiert den Übergang von einfachen (prokaryotischen) zu höheren (eukaryotischen) Lebensformen.
Cholesterin im Menschen – eine Bilanz
Das Cholesterin im unserem Organismus, beim Erwachsenen mit 100 – 150 g rund 0,15 % des Körpergewichts, stammt zum Großteil aus körpereigener Produktion, wozu praktisch alle Körperzellen in der Lage sind (Abbildung 2). Jedenfalls liegt die tägliche Syntheserate von 1 – 2 g Cholesterin über der Menge dessen, was wir mit der Nahrung aufnehmen (zumeist zwischen 0,1 – 0,3 g, höchstens 0,5 g). Die Eliminierung von Cholesterin aus dem Körper erfolgt im wesentlichen in veränderter – metabolisierter – Form als Gallensäuren (täglich ca. 0,5 g) und u.a. als Abbauprodukte von bioaktiven Cholesterinmetaboliten, in unveränderter Form in Hauschuppen (etwa 0,1 g täglich).
Abbildung 2. Cholesterinbilanz im adulten Menschen - vereinfachte Darstellung. Der Pool von 100 – 150 g Cholesterin im Organismus resultiert zum Großteil aus der körpereigenen Synthese. Etwa 25 % des gesamten Cholesterin finden sich im Hirn, rund 7 % zirkulieren im Blutstrom.
Wo befindet sich das Cholesterin im Körper und welche Funktionen hat es dort?
Cholesterin ist über den ganzen Organismus verteilt: zu mehr als 90 % ist es in den Zellen lokalisiert, im Blutkreislauf zirkulieren bei „normalem Cholesterinspiegel (um die 200 mg/dl)“ nur rund 7 %.
Organspiegel. In den meisten Organen (z.B. Leber, Lunge, Niere) liegen Konzentrationen zwischen 2 und 3 mg Cholesterin/g Gewebe vor. Diese Organspiegel steigen weder bei stark erhöhtem Cholesterin im Blut noch mit zunehmendem Alter erkennbar an. Offensichtlich besteht ein dynamisches Gleichgewicht (eine Homöostase) des zellulären Cholesteringehalts, reguliert von der (über Rezeptoren vermittelte) Aufnahme des Cholesterins aus dem Blutstrom (siehe unten), seiner Neusynthese in der Zelle und der Fähigkeit der Zelle überschüssiges Cholesterin zu eliminieren.
Im Blut zirkuliert das über die Nahrung aufgenommene und das selbst synthetisierte Cholesterin verpackt in Lipoproteine verschiedener Dichte (freies Cholesterin wäre im Plasma unlöslich). Lipoproteine setzen sich aus Lipiden und Proteinen zusammen, die eine micellenartige Struktur bilden: innen sind unpolare Triglyceride und Cholesterin in veresterter Form, in der äußeren Hülle, die mit der wässrigen Phase in Kontakt steht, zeigen sich polare Teile des Proteins, Kopfgruppen der Phospholipide und die Hydroxylgruppe des Cholesterin. Das Low Density Lipoprotein (LDL) transportiert Cholesterin – aber auch andere ansonsten unlösliche Stoffe - zu (nahezu) allen Geweben: LDL dockt hier an seinen in den Zellmembranen lokalisierten, spezifischen Rezeptor (LDLR) an, wird mit diesem zusammen in die Zellen aufgenommen und setzt dort das Cholesterin (und andere transportierte Stoffe) zur Verwendung frei. Im Gegensatz dazu wird überschüssiges Cholesterin aus den Zellen in High Density Lipoprotein (HDL) verpackt zur Leber transportiert („reverser Transport“), dort über spezifische Rezeptoren (HDLR) aufgenommen und zu Gallensäuren abgebaut, die über die Galle in den Darm gelangen (siehe unten).
Das Gehirn hat bezüglich Cholesteringehalt und dessen Regulierung eine Ausnahmestellung unter den Organen: i) bei nur rund 2 % des Körpergewichts enthält es 25 % des gesamten Cholesterin. ii) Da eine sehr effiziente Barriere zwischen dem Blut und dem Hirn („Blut-Hirn Schranke“) die Aufnahme des Cholesterins aus dem Blutstrom verhindert, ist das Hirn auf die eigene Synthese angewiesen. Auch für die Eliminierung überschüssigen Cholesterins aus dem Hirn besteht ein eigener Weg. Der überwiegende Anteil des in den Organen gespeicherten Cholesterin ist essentieller Bestandteil der Zellmembranen.
Barrierefunktion und Modulierung der Membraneigenschaften
Zellmembranen. Alle biologischen Membranen stellen Barrieren zwischen Kompartimenten und deren jeweiliger Umgebung dar und sind strukturell in vergleichbarer Weise aus einer Doppelschicht von Lipiden aufgebaut in die Proteine eingebettet/assoziiert sind (Abbildung 3).
Abbildung 3. Ausschnitt aus einer Zellmembran. Schematische Darstellung. (Bild: modifiziert aus Wikipedia)
Cholesterin ist Grundbaustein aller tierischen Membranen, wobei intrazelluläre Membranen weniger Cholesterin enthalten (3 -6 %) als die Zellmembran (mehr als 20 % des Lipidgehalts). Die Zellmembran ist Permeabilitätsbarriere zwischen Zelle und Umgebung, schützt die Zelle vor dem Eindringen verschiedenartigster Stoffe und pathogener Keime. Cholesterin trägt entscheidend zur Barrierefunktion bei, moduliert die Beweglichkeit (Fluidität) der Lipidmoleküle und damit die Plastizität der Membran. Cholesterin ist dabei nicht gleichmäßig in der Membran verteilt, sondern bildet auch Inseln („rafts“), in welchen Signalmoleküle konzentriert auftreten, deren Funktion Cholesterin moduliert.
Myelin. Von spezieller Bedeutung sind die Zellmembranen, aus denen die sogenannten Myelinscheiden entstehen, welche als Umhüllung und Isolierung der Nervenfasern (Axon) dienen. Dieses Myelin – bis zu 80 % aus Lipiden, davon zu rund 22 % aus Cholesterin bestehend - ermöglicht die höchst effiziente, rasche Weiterleitung des elektrischen Nervenimpulses vom Zellköper einer Nervenzelle (Neuron) entlang seines Axons zur nächsten Nervenzelle. Myelin erscheint optisch weiß - die hohe Dichte an Nervenfasern im Gehirn ergibt die “weiße Substanz” und erklärt so die hohe Cholesterinkonzentration in diesem Organ.
Hornhaut. Auf den gesamten Körper bezogen bildet die oberste Schichte – Hornschichte- unserer Haut eine hochwirksame Barriere, die uns sowohl vor dem Eindringen von Stoffen aus unserer Umgebung und vor Mikroben schützt als auch verhindert, daß zu viel Wasser aus unserem Körper verdunstet. Diese Hornhaut (stratum corneum), besteht aus mehreren Schichten dicht gepackter, mit hochvernetzten, unlöslichen Proteinen gefüllter, abgestorbener Zellen, welche – wie Ziegel im Mörtel - in eine Lipidmatrix eingebettet sind. Diese Lipidmatrix - zu gleichen Teilen aus Cholesterin, Ceramid und Fettsäuren bestehend, unterbindet die Penetration kleiner, vor allem wasserlöslicher Moleküle weitgehend, die großer Moleküle vollständig. (Die Pharmaforschung sucht seit Jahrzehnten nach geeigneten Strategien, um eine effiziente Aufnahme von Arzneimitteln durch die Haut ermöglichen).
Cholesterins ist zentraler Ausgangsstoff bioaktiver Produkte
Cholesterin wird durch spezifische Enzyme, die an definierten Stellen seiner Seitenkette oder an den Ringen angreifen, zu einer Vielzahl und Vielfalt an bioaktiven Produkten umgewandelt (Abbildung 4). Die wichtigsten davon sind:
Abbildung 4. Die zentrale Rolle des Cholesterins als Vorläufer bioaktiver Produkte
Steroidhorme. Cholesterin hat eine zentrale Bedeutung für die hormonelle Kontrolle unserer Lebensvorgänge. In einer Kaskade von Reaktionen wird Cholesterin an verschiedenen Stellen oxydiert und es enstehen daraus in Folge alle Steroidhormone: Corticosteroide, Mineralcorticoide, Androgene, Östrogene und Gestagene. In Summe sind diese Hormone in die Steuerung unseres Stoffwechsels involviert, in die Regulierung der Immunfunktionen, in die Kontrolle des Wasser und Salzhaushalts, in die Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen und in die Fortpflanzung.
Oxysterole. Aus Cholesterin entstehen auch eine Reihe sogenannter Oxysterole. Diese sind u.a. verantwortlich für die Regulierung von Synthese, Aufnahme und Elimination von Cholesterin und sie beeinflussen spezifische Funktionen von Zellen des Immunsystems.
Vitamin D. Die unmittelbare Vorstufe in der Synthese des Cholesterins – 7-Dehydrocholesterin – wird in der Haut durch UV-Licht zu Vitamin D umgewandelt, aus welchem das Hormon entsteht, welches vor allem den Calciumhaushalt und damit u.a. den Aufbau unserer Knochen reguliert, darüber hinaus aber eine Fülle an anderen Aktivitäten auf Zellwachstum- und Differenzierung und auf spezifische Funktionen des Immunsystems zeigt.
Gallensäuren. In der Leber entstehen durch Oxydation aus Cholesterin wasserlösliche Gallensäuren, welche mit der Galle in den Darm ausgeschieden werden und dort – wie Seifen - die aus der Nahrung stammenden Lipide emulgieren – eine Vorbedingung für die Fettverdauung und anschließende Aufnahme in den Organismus.
Ach, was muß man oft vom bösen Cholesterin hören oder lesen!
Der erste Vers aus Max und Moritz - in leicht abgewandelter Form - charakterisiert auch das, was allgemein über Cholesterin berichtet wird. Aus der Annahme mit Cholesterin den wesentlichen Auslöser lebensbedrohender Gefäßerkrankungen entdeckt zu haben, entwickelte sich diese Substanz in den letzten Jahrzehnten zum Schreckgespenst der Medizin. Atherosklerose ist ja durch sogenannte Plaques – fett- und cholesterinreiche Ablagerungen - an der Innenwand der Arterien charakterisiert, die zu deren Verhärtung und Verengung führen, und zum Großteil durch Atherosklerose verursachte Herz-Kreislauferkrankunge stehen in der westlichen Welt an der Spitze der Todesursachen.
Bereits vor 60 Jahren hatte der amerikanische Ernährungsphysiologe Ancel Keys postuliert, daß für die starke Zunahme von Herz-Kreislauferkrankungen in seinem Land der hohe Konsum an fett- und cholesterinreicher Nahrung verantwortlich wäre. Er untermauerte seine Hypothese mit einer breit angelegten klinischen Studie, die eine offensichtlich überzeugende Korrelation zwischen Cholesterinspiegel, Fettkonsum und Sterblichkeit zeigte. Diese (nicht sehr korrekt analysierte) Studie hatte großen Einfluß auf die Fachwelt, auch weil in vielen Tierversuchen und großen klinischen Untersuchungen (wie z.B in der bereits seit 1948 in den US laufenden Framingham Studie http://www.framinghamheartstudy.org/about/history.htm ) eine Korrelation zwischen „westlicher“ fett- und cholesterinreicher Diät, Cholesterinspiegel im Blut und Atherosklerose gezeigt wurde.
Führt also ein hoher Cholesterinspiegel zwangsläufig zur Atherosklerose und ihren Folgen? Dem steht die Tatsache entgegen, daß rund 50 % der Patienten „normale“ Cholesterinwerte, aber ein hoher Anteil gesunder Menschen stark erhöhte Cholesterinwerte aufweisen. Möglicherweise sind ja die „normalen“ Werte zu hoch. Cholesterin im Blut unserer nächsten Verwandten im Tierreich, der Affen ist rund 40 % niedriger, erreicht aber bei „westlicher Diät“ vergleichbare Werte wie der Mensch und die Tiere entwickeln Atherosklerose. Dies trifft auch auf die meisten der anderen untersuchten Tiere, einschließlich unserer Haustiere Hund und Katze, zu.
Sollte man also den Cholesterinspiegel vor allem bei Herz-Kreislauferkrankungen, aber auch zur Primärprevention ganz allgemein zu senken versuchen? Pharma- und Nahrungsmittelindustrie werben in aggressiver Weise für ihre Produkte, schüren die Angst vor dem „bösen Cholesterin“. Die Pharma erzielt mit ihren Cholesterinsenkern – vorwiegend den sogenannten Statinen – enorme Umsätze (allein in Deutschland werden Statine von mehr als 4 Millionen Menschen eingenommen). Das von Pfizer stammende Lipitor erzielte vor dem Auslaufen seines Patents jährlich über 12 Milliarden Dollar.
Statine blockieren sehr effizient die Cholesterinsynthese in einer sehr frühen Stufe und erzielen so eine dramatische Senkung der Cholesterinspiegel (und auch des LDL). Verglichen damit ist die Reduktion von Herzinfarkt, Schlaganfall und Mortalität allerdings eher bescheiden: für die Reduktion um 1 Attacke müssen: 60 Patienten oder - als Präventivmaßnahme - 268 gesunde Menschen jeweils 5 Jahre lang behandelt werden. Mit diesem eher kleinen Nutzen sind allerdings (zumeist reversible) Nebenwirkungen verbunden: Statine blockieren ja nicht nur die Synthese von Cholesterin, sondern auch die Bildung seiner zahlreichen Vorstufen, wie z.B. von Coenzyme Q, das eine essentielle Rolle in der mitochondrialen Energiegewinnung spielt oder von den, für die Entstehung von Glykoproteinen verantwortlichen, Dolicholen. Bis zu 20 % der Statin-Konsumenten leiden an Muskelschwäche- und Schmerzen, die Inzidenz von Diabetes ist deutlich erhöht, ebenso die von Neuropathien und die Reduktion kognitiver Fähigkeiten bis hin zur (reversiblen) Demenz ist evident.
Die Analysen der letzten großen klinischen Untersuchungen und Metaanalysen früherer Untersuchungen legen zudem nahe, daß der (relativ kleine) therapeutische Effekt der Statine gar nicht auf Cholesterinsenkung sondern vielmehr auf deren antientzündlicher Wirkung beruht.
Damit kommen wir zu einem Umdenken: Cholesterin ist nicht Auslöser der Atherosklerose, wohl aber einer der zahlreichen Risikofaktoren. Es sei hier auf einen vor wenigen Wochen im ScienceBlog erschienenen Artikel von Georg Wick verwiesen, der Atherosklerose als Autoimmunkrankheit aufzeigt und überzeugende Hypothesen zur Auslösung dieser Erkrankung und therapeutische Ansätze zu ihrer Behandlung bietet*.
*Georg Wick: Atherosklerose, eine Autoimmunerkrankung: Auslöser und Gegenstrategien.
Weiterführende Links
Zu den im Artikel beschriebenen Themen existiert detaillierte Literatur, die auf Anfrage zur Verfügung gestellt wird.i
Video
3sat nano - Mythos Cholesterin 5:43 min
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Spektrum, 13.1.22: …
Spektrum, 13.1.22:
Cholesterin, weniger böse als gedacht?
https://www.spektrum.de/news/ernaehrung-wie-schaedlich-ist-cholesterin-wirklich/1970140