Grundlagenforschung in Österreich: Exzellenzstrategie – Mehr als ein Lippenbekenntnis?
Grundlagenforschung in Österreich: Exzellenzstrategie – Mehr als ein Lippenbekenntnis?Fr, 03.07.2011 - 00:00 — Peter Schuster
Forschung wird als eine Ware oder besser als ein Produkt verstanden, welches die Öffentlichkeit dem Forschenden oder der Institution, in welcher der Wissenschaftler arbeitet, durch Zuwendungen „abkauft“. Der Wert des Produktes setzt sich aus verschiedenen Beiträgen zusammen: aus dem Kulturgut Wissenschaft, aus dem Prestigegewinn des Landes bei erstrangiger Spitzenforschung und aus dem kommerziellen Nutzen im Falle erfolgreicher Anwendung der Ergebnisse. Von diesen Werten und ihrer Mehrung durch gezielte Strategien soll am Beispiel der österreichischen Grundlagenforschung in Mathematik und Naturwissenschaften die Rede sein.
Obwohl die Problematik in anderen Wissensgebieten ähnlich gelagert ist, gelten dort zumeist andere Maßstäbe der Bewertung. Grundlagenforschung wird hier als selbstbestimmte Forschung verstanden, im Unterschied zu Forschung, die auf vorgegebene Ziele ausgerichtet ist. Exzellente Forschung ist heute überall anwendungsoffen, sie kann mögliche Anwendungen in der nahen Zukunft erkennen lassen, oder zur Zeit anwendungsfern erscheinen. Langfristige Prognosen über mangelnde Nutzbarkeit von Forschungsergebnissen haben sich nahezu immer als falsch herausgestellt. Selbst abstrakte Gebiete der Mathematik, wie die Zahlentheorie, finden wichtige Anwendungen.
Zahlen und Fakten
Wissenschaft und Forschung nehmen in den Gesellschaften aller entwickelten und an Entwicklung interessierten Länder einen breiten Raum ein. Die öffentliche Hand teilt den Budgetposten Bildung und Wissenschaft beachtliche Summen zu. Seit dem Jahre 1998 sind in Österreich die Ausgaben des Bundes zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung ständig gestiegen. Auch die Bundesländer haben ihre Ausgaben auf diesem Sektor erhöht. Ungeachtet der Finanz- und Wirtschaftkrise gab es auch in den Jahren 2009 und 2010 Steigerungen in den Ausgaben des Bundes, welche allerdings im Wesentlichen nur den Rückgang der industriellen Forschungsausgaben kompensierten (siehe Tabelle). Der Auslandsbeitrag blieb nahezu konstant und so ergab sich in Summe eine geringe Steigerung der Forschungsquote in Prozenten des Bruttonationalprodukts (BIP).
2009 | 2010 | |||
---|---|---|---|---|
Herkunft der Gelder | Mrd Euro | % | Mrd Euro | % |
Wirtschaft | 3,44 | 45 | 3,38 | 43,3 |
Öffentlicher Sektor | 2,95 | 38,6 | 3,22 | 41,2 |
davon Bund | 2,55 | 33,3 | 2,82 | 36,1 |
Länder | 0,40 | 5,2 | 0,40 | 5,1 |
Ausland | 1,13 | 14,8 | 1,17 | 15,0 |
Sonstige | 0,13 | 1,7 | 0,04 | 0,5 |
Gesamt | 7,65 | 2,73 % BIP | 7,81 | 2,76 % BIP |
*) Quelle: Statistik Austria, 22.04.2010. Die Zahlen für 2010 entstammen einer Globalschätzung
Der geringe Anteil der Industrie an der Forschung ist in der Tat das Hauptproblem der Forschungslandschaft Österreichs: Den 43,3% an industriellem Forschungsanteil in Österreich stehen etwa 67,7% in Deutschland und 71% in den USA gegenüber.
Forschung und Entwicklung umfassen ein breites Spektrum von wissenschaftlichen und technologischen Aktivitäten. Welcher Anteil der genannten Aufwendungen in die Grundlagenforschung geflossen ist, ist nicht ganz einfach zu beantworten, da an den Universitäten die Aufwendungen für Forschung und Lehre nicht sauber getrennt sind. Die Statistik Austria spricht von 0,41% des BIP in Österreich im Jahre 2009 verglichen mit 0,53% in den USA und 0,83% in der Schweiz. Der Faktor zwei im Prozentsatz des BIP, welches pro Kopf im Jahre 2009 laut Weltwährungsfonds in der Schweiz mit US$ 67.600 deutlich über dem österreichischen Wert von US$ 46.000 lag, erklärt bereits die wesentlich schlechtere finanzielle Situation der Grundlagenforschung an den österreichischen akademischen Institutionen.
Eine noch bessere Illustration der Problematik ermöglichen die absoluten Zahlen, und ein Vergleich der Mittel für die Grundlagenforschung in Österreich und der Schweiz ist angebracht, da die beiden Staaten in den Bevölkerungszahlen ungefähr gleich groß sind:
Der schweizerische Nationalfonds (SNF) vergibt Bundesmittel in der Höhe von etwa 460 Millionen EUR für die Grundlagenforschung gegenüber den 135 Millionen EUR Budget des österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF). Die Schweizer Forscher im akademischen Bereich haben um einen Faktor 3,4 mehr Mittel zur Verfügung als ihre österreichischen Kollegen.
Dem stehen 90 Millionen EUR in der Schweiz aber 210 Millionen EUR in Österreich gegenüber, die über die Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) in die Industrie fließen. Darüber hinaus ist die geringere Schweizer Summe nur den Universitäten zugänglich, wenn sie mit Unternehmen gemeinsame Forschungen durchführen. Der Präsident des SNF, Dieter Imboden, sagte in einem Interview mit dem Titel "Wir machen seit hundert Jahren dasselbe" in der Tageszeitung ‚Der Standard‘ vom 21. April 2010: „Die Schweiz scheut sich, direkt in Unternehmen zu investieren. … Das ganze Potential der Pharmaindustrie ist aus sich heraus gewachsen, ohne Geld des Bundes.“ Ende des Zitats.
Dessen ungeachtet liegt die Schweiz in der Anwendung von Forschungsergebnissen im Spitzenfeld: Der EU-Innovationsanzeiger führt die Schweiz weltweit als Nummer eins. Abgesehen von den Details aller Zahlen können wir eines festhalten: Der FWF hat zu wenig Geld, um die akademische österreichische Forschung so zu unterstützen und zu gestalten, wie dies in den erfolgreichen europäischen Ländern Europas der Fall ist. Es ist sehr schmeichelhaft, wenn die Österreichische Akademie der Wissenschaften mit ihren Forschungsinstituten als ‚Leuchtturm‘ apostrophiert wird.
In den Budgets der letzten beiden Jahre – von 2006 bis 2009 saß ich am Verhandlungstisch – haben sich die wissenschaftlichen Leistungen der Akademieinstitute nicht gespiegelt. Hervorragende Evaluierungen konnten nicht in von den Wissenschaftlern zu recht erwartete Budgetsteigerungen für die erfolgreichen Institute umgesetzt werden. Um zur Metapher zurückzukehren: Was nützt ein Leuchtturm in der rauhen See, wenn er keine Energie zum Betrieb seiner Lampen hat? In die österreichische Grundlagenforschung fließen leider weit weniger Mittel, als Ankündigungen und freudige Meldungen manchmal erwarten lassen. Wissen und Anwendung
Selbstbestimmte Forschung ist primär auf Wissenserwerb ausgerichtet und wird sinnvoller Weise nicht (nur) an der Erreichung von Zielvorgaben gemessen. Zum Unterschied davon streben zielorientierte Forschung und Entwicklung die Lösung vorgegebener Aufgaben an und sind erfolgreich, wenn die vorgegebenen Ziele erreicht, wenn die ‚Milestones‘ passiert wurden; ihr Erfolg ist dementsprechend einfach messbar: entweder wurden die Vorgaben erfüllt oder nicht. Auf Erkenntnisgewinn ausgerichtete Grundlagenforschung, das Vordringen in wissenschaftliches Neuland ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass wir nicht wissen, wohin die Reise geht:
Neuland ist nur Neuland, wenn man es nicht schon von vornherein kennt. Würden Sie den Entdecker Christoph Kolumbus als gescheitert betrachten, weil er einen unbekannten Kontinent entdeckte, und damit das vorgegebene Ziel, Indien auf dem Seeweg nach Westen zu erreichen, verfehlte? Es ist unbestritten, dass die objektive Bewertung von echt innovativen Projekten im heute üblichen konventionellen Peer Review-System schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist. Um eine Beurteilung unkonventioneller Vorhaben zu bewerkstelligen, sind Forschungspolitik und Wissenschaft gefordert.
Eine triviale Lösung des Problems wäre, Grundlagenforschung zu einem „Hobby“ der Wissenschaftler zu degradieren, wie es von einigen Extremisten in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gefordert wurde: „Wozu weitere Grundlagenforschung, wir wissen doch schon genug!“ war das Motto, und es hat sich auf allen Gebieten ad absurdum geführt. In Erinnerung rufen möchte ich einen Fünfjahresplan für die wissenschaftliche Forschung in der DDR aus jener Zeit. Der Plan, an den ich denke, legte unter anderem fest, dass die Forschungsvorhaben an Hochschulen nützliche Anwendungen finden müssen, und dass die Projekte gemeinsam mit den Industriebetrieben der DDR durchgeführt zu werden haben. Aus meinem eigenen Fach läßt sich berichten, dass die theoretische Chemie in der DDR vor der Verpflichtung zur Anwendbarkeit durchaus mit dem Leistungsniveau im westlichen Europa vergleichbar war, dann aber während des anwendungsbestimmten Fünfjahresplanes stark zurückfiel und sich bis zur Wende nicht mehr erholte.
Ergänzend sei hier noch ein Ausspruch zitiert, der auf Max Planck zurückgeht und von der Max-Planck-Gesellschaft in das Mission-Statement aufgenommen wurde: „Wissen muss der Anwendung vorausgehen“. Dies ist ein sehr tiefer und wichtiger Gedanke, denn es fehlt nicht an Beispielen, bei denen die Anwendung dem Wissen vorausging und gewaltige Schäden verursachte. Es seien hier nur drei Beispiele angeführt:
- Die Entdeckung der hochenergetischen Strahlung und ihre frühen Anwendungen. Radiumpräparate wurden einige Zeit lang als Schönheitsmittel empfohlen, in der Literatur findet sich auch ein Bericht über den Versuch, Dunkelhäutige mit Radiumpräparaten zu bleichen [1] und die Älteren unter uns erinnern sich sicherlich noch an die Uhren mit radioaktiv strahlenden Leuchtziffern.
- Das Märchen vom gesunden Spinat. Weit weniger schädlich ist dieses bekannte Beispiel mangelnder Wissensübermittlung aus den Ernährungswissenschaften: Im Jahre 1890 veröffentlichte der Schweizer Physiologe Gustav von Bunge Daten über den Eisengehalt verschiedener Gemüsesorten. Im Fall des Spinats bezog er den Eisengehalt auf getrocknete Spinatblätter und dieser ist, da 90 Gewichtsprozent Wasser fehlen, um etwa eine Zehnerpotenz größer als bei den anderen Pflanzen, für welche die Bestimmung auf Frischgewicht durchgeführt wurde [2]. ‚Popeye the Sailor‘ wäre ohne diese Fehlinterpretation der Daten niemals kreiert worden und vielen Millionen von Kindern wäre die Fütterung mit Spinat erspart geblieben.
- Das Märchen vom bösen Cholesterin. Dieses letzte Beispiel ist zweifelsohne weniger harmlos und gleichzeitig höchst aktuell: Der allgemein akzeptierte Zusammenhang zwischen der Konzentration des Cholesterins im Blut und dem Auftreten von Arteriosklerose sowie deren Folgen, Herzinfarkt und Schlaganfall, wurde durch eine Reihe von groß angelegten Untersuchungen in Frage gestellt und ist gegenwärtig Gegenstand intensiver Diskussion (Gegensätzliche Standpunkte sind in drei Monographien behandelt [3, 4, 5]. Angesichts der Tatsache, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung eine Langzeitbehandlung mit Cholesterinsenkern aus der Gruppe der Statine verschrieben bekommt, welche beachtliche Nebenwirkungen aufweisen, erhält die Debatte um die Bedeutung von Cholesterin für Herz-Kreislauferkrankungen eine volksgesundheitliche Dimension (einige Ärzte haben vor Jahren sogar angeregt, Statine den Grundnahrungsmitteln beizumischen!). Die Notwendigkeit, mehr Wissen durch intensive Grundlagenforschung zu erwerben, tritt im Fall der gesundheitlichen und ernährungsphysiologischen Bedeutung von Cholesterin zwingend zu Tage.
Dieser Artikel ist der erste Teil der ausführlichen Fassung eines Referates, das anlässlich des von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten Symposiums „Wa(h)re Forschung“ gehalten wurde. Dieses Symposium hatte den sich in allen Bereichen der Wissenschaft vollziehenden Paradigmenwechsel zum Thema: „Weg von der erkenntnisorientierten Grundlagenforschung und hin zur Anwendungsorientierung“ und ist eben in Buchform erschienen („Wa(h)re Forschung – Change of Paradigms?“ Präsidium ÖAW Hsg, Friedrich VDV, 4020 Linz; 2011..
Teile 2 bis 4 des Referats finden sich unter:
- Teil 2, 21.07.2011: Grundlagenforschung in Österreich: Erkennen von Exzellenz
- Teil 3, 11.08.2011: Grundlagenforschung in Österreich: Rekrutierung von Spitzenkräften
- Teil 4, 08.09.2011: Grundlagenforschung in Österreich: Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
Literatur
[1] Maria Rentetzi. 2007. Trafficking materials and gendered experimental practices. Columbia University Press, New York
[2] Mike Sutton. 2010. Spinach, iron and Popeye: Ironic lessons from biochemistry and history on the importance of healthy eating, healthy skepticism, and adequate citation. Internet Journal of Criminology. March 2010
[3] Uffe Ravnskov. 2000. The cholesterol myths: Exposing the fallacy that saturated fat and cholesterol cause heart disease. New Trends Publishing Co., Washington, D.C., USA
[4] Anthony Colpo. 2006. The great cholesterol con. Why everything you’ve been told about cholesterol, diet and heart disease is wrong! Second Ed. Anthony Colpo, Melbourne, AUS.
[5] Daniel Steinberg. 2007. The cholesterol wars: The skeptics vs. the preponderance of the evidence. Academic Press, San Diego, CA, USA