Auf der Suche nach einem Religiositätsgen
Auf der Suche nach einem ReligiositätsgenDo, 26.01.2023 — Ricki Lewis
Prädisponieren uns unsere Gene dazu, dass wir vielleicht asozial sind, die Einsamkeit suchen, politischen Ideologien anhängen und möglicherweise, dass wir religiös sind? Zu letzterer Frage hat die US-amerikanische Genetikerin Ricki Lewis unter den Stichworten "Vererbung" und "Religiosität" in Google Scholar nach entsprechenden Berichten gesucht. Was Google Scholar dazu an Untersuchungen aufzeigte, stammte hauptsächlich aus den Sozialwissenschaften. Im Folgenden referiert Lewis kritisch über fünf zwischen 1996 und 2021 veröffentlichte Studien, die der Frage nachgingen, ob Religiosität in unseren Genen steckt.*
Der erste Funke: Der Garten Eden trifft auf die Doppelhelix. (Harishbabu Laguduva). Lizenz: cc-by-sa |
Ich habe etwas Naturwissenschaftliches gesucht - bringt religiös zu sein einen Vorteil für Überleben zur Reproduzierung, das die treibende Kraft der natürlichen Selektion eines adaptiven vererbten Merkmals ist?
Das normale Google und die Mainstream-Medien ließ ich beiseite, weil ich ja nach Daten und nicht nach Meinungen suchte, und gab als Stichworte "Vererbung" und "Religiosität" ein. Für mich bedeutet Vererbung Gene, die für Proteine kodieren, welche den Phänotyp (Merkmal oder Krankheit) beeinflussen. Vererben bedeutet aber auch, dass von den Eltern etwas an die Nachkommen weitergegeben wird, wie beispielsweise Geld, Hab und Gut oder Wertvorstellungen.
Sicherlich hatte irgendjemand schon eine Genomweite Assoziationsstudie (GWAS) für "Religiosität" durchgeführt. Eine "GWAS" ist eine Untersuchung der Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) in einem Genom, d.i. Variationen in einzelnen Basenpaaren bei unterschiedlichen Individuen. Derartige Studien gibt es bereits seit zwei Jahrzehnten; sie versuchen für Eigenschaften wie antisoziales Verhalten, Vereinsamung und sogar politische Ideologien eine genetische Basis zu finden.
Heute verwenden die Forscher einen abgekürzten "polygenen Risikoscore" (PRS), um sogenannte komplexe Merkmale zu beschreiben, d. h. solche, die sowohl von mehreren Genen als auch von Umweltfaktoren beeinflusst werden. Im Gegensatz zu einer Entweder-Oder-Diagnose wie im Fall der Mukoviszidose umfasst ein PRS die Varianten vieler Gene, die zu einem Merkmal oder einer Krankheit beitragen.
Was Google Scholar an Untersuchungen aufzeigte, stammte eher aus den Sozialwissenschaften und verwendete eine Sprache, mit der ich zugegebenermaßen nicht vertraut bin. Hier ist eine kurze Beschreibung von fünf Studien in chronologischer Reihenfolge, die der Frage nachgingen, ob Religiosität in unseren Genen steckt.
1996: "Ein interaktives Modell der Religiositätsvererbung: Die Bedeutung des familiären Kontextes"
In diesem Bericht im Journal American Sociological Review hat Scott M. Myers von der Penn State University "das Ausmaß der Vererbung von Religiosität anhand von Interviews mit 471 Eltern im Jahr 1980 und ihren erwachsenen Nachkommen im Jahr 1992" abgeschätzt [1]. Sein Befund, dass die Religiosität einer Person von der elterlichen Religiosität abhängt, ist wenig überraschend. Verblüffend ist aber die antiquierte Sprache, die ja aus dem noch nicht so lange zurückliegenden Jahr 1996 stammt:
"Eine glückliche Ehe der Eltern, Unterstützung des Kinds durch die Eltern, angemessene Strenge und ein berufstätiger Ehemann/nicht berufstätige Ehefrau erhöhen die Fähigkeit der Eltern, ihre religiösen Überzeugungen und Gebräuche weiterzugeben." Du lieber Himmel!
2004: "Das Gottes-Gen: Wie der Glaube in unseren Genen fest verdrahtet ist"
Mit dem Konzept eines Gottes-Gens hat sich der Genetiker Dean Hamer in seinem viel zitierten Buch "Das Gottes-Gen" auseinander gesetzt. Es handelt sich um den am National Cancer Institute (Bethesda) tätigen Forscher, der bereits 1993 mit seiner inzwischen widerlegten Entdeckung eines "Schwulen-Gens" Schlagzeilen gemacht hat [2].
Im "Das Gottes-Gen" führt Hamer die "Veranlagung von Menschen zu spirituellen oder mystischen Erfahrungen" auf Varianten eines Gens, nämlich des für den vesikulären Monoamintransporter 2 (VMAT2) kodierenden Gens, zurück (VMAT2 transportiert in der Nervenzelle Monoamine aus dem Cytosol in Vesikel; Anm. Redn.). Laut Online Mendelian Inheritance in Man (d.i. der "Bibel" der Humangenetik) ist die korrekte Funktion des Gens "unerlässlich für die einwandfreie Leistung der monoaminergen Systeme, die bei etlichen neuropsychiatrischen Störungen des Menschen eine Rolle spielen. Der Transporter ist ein Wirkort für wichtige Medikamente".
Zu den Monoamin-Neurotransmittern gehören Serotonin, Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin, die starke Auswirkungen auf die Gemütslage haben. Können also Variationen im Monoamin-Feld tatsächlich für religiöse Gedanken und sogar Visionen verantwortlich sein?
Hamers Kandidat des Gens für ein höheres Wesen tauchte 2017 in einem Bericht von Linda A. Silveira (von der University of Redlands) in der Zeitschrift Life Sciences Education wieder auf: "Experimentieren mit Spiritualität: Analyse des Gottes-Gens in einem Laborkurs". Die Studenten haben Varianten in ihren VMAT2-Genen untersucht. Die Autorin bewertete die Übung als ein Lehrmittel. Und das war es auch, denn die Klasse widerlegte die Hypothese, dass Varianten des Gens etwas mit dem Bekenntnis zu einer Religion zu tun haben.
2011: "Religion, Fruchtbarkeit und Gene: Ein Modell der Dualen Vererbung"
In einer Veröffentlichung der Royal Society untersuchte der Wirtschaftswissenschaftler Robert Rowthorn von der University of Cambridge anhand eines Modells die evolutionären Auswirkungen der Tatsache, dass religiöse Menschen im Durchschnitt mehr Kinder haben als ihre säkularen Pendants" [4]. Diese Aussage ist nicht belegt und wird als Allgemeinwissen dargestellt.
Rowthorn legte seine Annahmen dar: (1) die Kultur bestimmt die Fruchtbarkeit und (2) die "genetische Veranlagung" beeinflusst die Neigung zur Religion. "Menschen, die ein bestimmtes 'Religiositäts'-Gen besitzen, werden überdurchschnittlich oft religiös oder bleiben religiös", erklärte er. Dies ist eine Abwandlung der allzu simplen "a-gene-for"-Mentalität, auch bekannt als genetischer Determinismus.
Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, was ein Religionsgen eigentlich sein könnte? Ein DNA-Abschnitt, der für eine Hämoglobinvariante kodiert? Eine Form von Kollagen? Ein Blutgerinnungsfaktor? Ein Verdauungsenzym? Ist es vielleicht doch die abgelehnte VMAT2-Variante von Hamer?
Rowthorn schreibt: "Die Arbeit betrachtet die Auswirkungen von religiösen Übertritten und Exogamie auf die religiöse und genetische Zusammensetzung der Gesellschaft."
Ich wusste, dass Endogamie in der Genetik die Paarung innerhalb einer Gruppe bedeutet. Daher war ich nicht überrascht, als ich entdeckte, dass Exogamie "die soziale Norm ist, außerhalb der eigenen sozialen Gruppe zu heiraten". In der Biologie bedeutet Exogamie Auskreuzung (Tiere) oder Fremdbestäubung (Pflanzen). Einzeller wie Bakterien, Amöben und bestimmte Schleimpilze, die keine sozialen Normen haben, wachsen einfach und teilen sich dann.
Der Wirtschaftswissenschaftler versuchte, die Wissenschaft hinter seiner Hypothese des "Religiositätsgens" zu erklären, wobei er unbewusst die Konzepte der natürlichen Selektion und der genetischen Verknüpfung berührte:
"Sich von der Religion Lossagende verringern den Anteil der Bevölkerung mit religiöser Zugehörigkeit und verlangsamen die Ausbreitung des Religiositätsgens. Wenn jedoch der Unterschied in der Fruchtbarkeit bestehen bleibt, und Menschen mit religiösem Bekenntnis sich hauptsächlich mit Gleichgesinnten paaren, wird das Religiositätsgen trotz einer hohen Lossagungsrate schließlich überwiegen. Dies ist ein Beispiel einer "Gen-Kultur Koevolution'', in der sich ein Gen ausbreitet, weil es in der Lage ist, sich an ein kulturelles Brauchtum mit hoher Fitness anzuhängen."
(Nach Darwin bedeutet Fitness explizit: lange genug zu überleben, um sich fortzupflanzen.)
Rechnerische Modellierungen, so Rowthorns Schlussfolgerung, stützen seine "theoretischen Argumente" über die Ausbreitung eines Religiositätsgens.
2017: "Religiöse Wahnvorstellungen bei Schizophrenie"
Eine im Journal European Neuropsychopharmacology veröffentlichte Studie stößt in den Bereich der diagnostischen Medizin vor [5]. Forscher aus Deutschland haben polygene Risikoscores verwendet, um einen Zusammenhang zwischen "starker religiöser Aktivität" und einem erhöhten Schweregrad der Schizophrenie aufzuzeigen.
"Von 271 Patienten (217 Christen, 9 Muslime, 45 ohne religiöses Bekenntnis) erlebten 102 (38 %) religiöse Wahnvorstellungen während der Krankheitsepisoden", so die Forscher. "Die bloße Zugehörigkeit zu einer Religion korrelierte nicht mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von Wahnvorstellungen, wohl aber eine "starke religiöse Aktivität".
"Andere untersuchte Faktoren - Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Familienstand und sogar die Frage, ob ein Patient während der Befragung mitten in einem Wahnzustand war - schienen keine Rolle zu spielen. Und je höher die angegebene Religiosität war, desto größer war das Risiko von Wahnvorstellungen", so die Schlussfolgerung der Forscher.
Aber auch das Vorhandensein von mehr prädisponierenden Genen (höhere PRS) korrelierte mit der Wahrscheinlichkeit von Wahnvorstellungen. "Unsere Ergebnisse legen nahe, dass das Auftreten religiöser Wahnvorstellungen bei Schizophrenie und schizoaffektiven Störungen sowohl mit Umwelteinflüssen als auch mit genetischen Faktoren zusammenhängt. Eine moderate religiöse Aktivität scheint jedoch keine negativen Auswirkungen zu haben und könnte sogar hilfreich sein, um mit diesen Störungen fertig zu werden", so die Forscher.
2021: "Die Ursprünge des religiösen Unglaubens: Ein Ansatz der Dualen Vererbung"
Eine Studie in der Fachzeitschrift Social Psychological and Personality Science befasst sich mit den Hintergründen des Nichtglaubens [6]. Der Artikel beginnt mit der Beschreibung von Atheisten, als wären wir Außerirdische.
In dieser sozialwissenschaftlichen Untersuchung werden "theoretische Rahmenbedingungen für die wichtigsten Prädiktoren des religiösen Unglaubens" erörtert. Wir Atheisten "erleben weniger glaubwürdige kulturelle Hinweise auf religiöses Engagement, ... gefolgt von einem reflektierenden kognitiven Stil, ... und einer weniger fortgeschrittenen Mentalisierung."
Da meine Mentalisierung anscheinend zurückgeblieben ist, dachte ich, ich würde das mal genauer untersuchen. Die Wikipedia-Definition ist stumpfsinnig: "Mentalisierung kann als eine Form der imaginativen mentalen Aktivität betrachtet werden, die es uns ermöglicht, menschliches Verhalten in Form von intentionalen mentalen Zuständen wahrzunehmen und zu interpretieren."
Die Definition eines Begriffs sollte den Begriff nicht verwenden, etwas, das ich in dieser kleinen Auswahl der Soziologie-Literatur zuhauf fand. Ich denke, dass meine mangelnde Mentalisierung bedeutet, dass ich nicht unvoreingenommen bin, was vielleicht ein Umweg ist, um zu sagen, dass ich wie ein Naturwissenschaftler denke - ich ziehe Beweise der Phantasie und den Gefühlen vor.
Diesem Bericht zufolge ist Atheismus eher bei Menschen anzutreffen, die "kulturell relativ wenig mit Religion in Berührung kommen". Eine verblüffende Erkenntnis!
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Meine Eltern haben mich mit unserer Religion vertraut gemacht. In der dritten Klasse habe ich mittwochs nach der Schule den "Religionsunterricht" besucht.
In der ersten Stunde habe ich aufmerksam der Geschichte der Schöpfung zugehört und in meinem Kopf die Drittklässler-Version eines Stammbaums aufgebaut. Ich war konsterniert. Woher kamen die Frauen von Kain und Abel?
Ich stellte diese Frage und man sagte mir, ich solle still sein. Aber ich hob immer wieder meine Hand. Gehörten die Ehefrauen von Kain und Abel zur Gattung Australopithecus, waren sie Neandertaler oder Schimpansen? Ich hatte die faszinierende Ausstellung von Hominidenköpfen im American Museum of Natural History vor Augen.
Ich bin nicht mehr zum "Religionsunterricht" zurückgekehrt. Meine Mutter wollte die angeborene Neugierde eines zukünftigen Wissenschaftlers nicht unterdrücken.
Wenn es ein Gen für Religiosität gibt, dann ist meines sicherlich gelöscht. Aber das ist in Ordnung.
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[1] Scott M. Myers: An Interactive Model of Religiosity Inheritance: The Importance of Family Context. American Sociological Review Vol. 61, No. 5 (Oct., 1996), pp. 858-866. https://doi.org/10.2307/2096457
[2] Ricki Lewis: Retiring the Single Gay Gene Hypothesis. 29.09.2019. https://dnascience.plos.org/2019/08/29/retiring-the-single-gay-gene-hypothesis/
[3] Linda A. Silveira: Experimenting with Spirituality: Analyzing The God Gene in a Nonmajors Laboratory Course. (2017) CBE—Life Sciences EducationVol. 7, No. 1. https://doi.org/10.1187/cbe.07-05-0029
[4] Robert Rowthorn: Religion, fertility and genes: a dual inheritance model.(2011). Proc. Royal Soc. https://doi.org/10.1098/rspb.2010.2504 . .
[5] Heike Anderson-Schmidt et al., T41 - Dissecting Religious Delusions In Schizophrenia: The Interplay Of Religious Activity And Polygenic Burden. . European Neuropsychopharmacology Volume 27, Supplement 3, , 2017.
[6] Will M.Gervais et al., The Origins of Religious Disbelief: A Dual Inheritance Approach. (2021)SAGE journals 12,7. https://doi.org/10.1177/1948550621994001
* Der Artikel ist erstmals am 22. Dezember 2022 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "In Search of a Religiosity Gene"https://dnascience.plos.org/2022/12/22/in-search-of-a-religiosity-gene/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgen.