100 Jahre Vitamin D und der erste klinische Nachweis, dass Vitamin D-Supplementierung das Risiko für Autoimmunerkrankungen verringert

100 Jahre Vitamin D und der erste klinische Nachweis, dass Vitamin D-Supplementierung das Risiko für Autoimmunerkrankungen verringert

Sa. 05.02.2022  — Inge Schuster

Inge Schuster Icon Medizin Zum 100. Geburtstag von Vitamin D ist eine klinisch überaus bedeutsame Wirkung von Vitamin D nachgewiesen worden. In einer Begleitstudie zur 5 Jahre dauernden, randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten VITAL-Studie mit 25.871 Teilnehmern konnte erstmals gezeigt werden, dass Supplementierung mit Vitamin D vor Autoimmunerkrankungen schützt. Diese zu den häufigsten Erkrankungen zählenden Defekte sind derzeit unheilbar und können die Lebensqualität enorm beeinträchtigen. Die Prävention mit dem billigen, ungefährlichen und chemisch stabilen Vitamin D bietet einen neuen Zugang zur Bewältigung von Autoimmundefekten.

Ein kurzer Rückblick

Vor 100 Jahren wurde die antirachitische Wirkung einer Komponente - des sogenannten Vitamin D - im Lebertran entdeckt (Abbildung 1). Etwa zeitgleich konnte gezeigt werden, dass die schwere, auf eine gestörte Mineralisation der Knochen zurückzuführende Erkrankung durch Bestrahlung mit UV-Licht verhindert und geheilt werden kann. Auch hier wird die Wirkung durch Vitamin D hervorgerufen: dieses entsteht in der Haut aus der unmittelbaren Vorstufe des Steroidmoleküls Cholesterin durch UV-Licht, wie es auch im Sonnenlicht enthalten ist.

Abbildung 1: Vor 100 Jahren hat der amerikanische Biochemiker Elmer McCollum die antirachitische Wirkung einer im Lebertran enthaltenen Substanz beschrieben, die er als Vitamin D bezeichnete (Screenshot aus J.Biol. Chem 53: 293-312 (1922),cc-by-Lizenz)

Vitamin D ist Vorstufe zu einem Hormon mit diversen Funktionen

Das vom Körper selbst produzierte Vitamin D allerdings noch nicht die eigentlich wirksame Substanz; dies haben drei voneinander unabhängige Forscherteams vor 50 Jahren festgestellt. Sie haben gezeigt, dass aus Vitamin D in zwei aufeinanderfolgenden Schritten das Hormon Calcitriol entsteht, das - gebunden an seinen spezifischen Rezeptor - in der Weise von Steroidhormonen die Expression diverser Gene reguliert. Mit Hilfe neuer effizienter Methoden konnte in den 1990er Jahren dann untersucht werden, um welche Gene es sich dabei handelt: insgesamt sind es hunderte Gene - rund 3 % aller unserer Gene -, die direkt oder indirekt durch Calcitriol reguliert werden können.

Neben Genen, welche die klassische Rolle von Vitamin D in der Mineralisierung des Skeletts, im Wachstum und Umbau der Knochen und insgesamt im Calciumhaushalt erklären, gibt es eine Fülle weiterer Gene, die Schlüsselfunktionen in Wachstum und Differenzierung von Zellen innehaben, die diverse neurophysiologische Prozesse steuern und wichtige Rollen in der Regulierung der angeborenen und erworbenen Immunantwort spielen und viele andere mehr. Über diese sogenannten pleiotropen Funktionen des hormonell aktiven Vitamin D wurde bereits ausführlich im Blog berichtet [1].

Vitamin D-Mangel

Unterversorgung mit Vitamin D führt zu den eingangs erwähnten, altbekannten Störungen des Calciumhaushalts, des Knochenaufbaus und -Umbaus. Wieweit durch Vitamin D Mangel andere Funktionen des Hormons gestört werden und damit das Risiko für weitere Erkrankungen steigt, wird intensiv erforscht. Tatsächlich wird ja bei vielen Krankheiten ein Zusammenhang mit niedrigen Vitamin D- Spiegeln geortet: Dazu zählen u.a. Krebserkrankungen, Erkrankungen des Immunsystems, des kardiovaskulären Systems, metabolische Defekte, neuronale Erkrankungen und Infektionen.

Die primäre Quelle für das in unserem Organismus zirkulierende Vitamin D ist die Eigenproduktion in der dem Sonnenlicht ausgesetzten Haut; mit Ausnahme von fettem Fisch enthalten die meisten unserer Nahrungsmittel viel zu wenig Vitamin D, um nennenswerte Mengen davon aufzunehmen. Durch Lebensumstände und Gewohnheiten bedingt kommt es in der westlichen Welt häufig zu Vitamin D Mangel. Der Vitamin D-Status wird dazu an Hand der Blutspiegel des als Marker dienenden Vitamin D Metaboliten 25(OH)D bestimmt. Vitamin D-Mangel, der die Knochen-/Muskel-Gesundheit beeinträchtigt , wird allgemein (beispielsweise von der European Food Safety Authority) mit 25(OH)D -Blutspiegeln unter 20 ng/ml (50 nmole/l) definiert, wobei schwerer, zu Rachitis bei Kindern und Osteomalazie bei Erwachsenen führender Mangel vorliegt, wenn25(OH)D den Grenzwert von 10 - 12,5 Nanogramm/ml (25 - 30 nmole/l) unterschreitet. Testungen des Vitamin D-Status haben in den letzten Jahren eine enorme Steigerung erfahren. Eine rezente Metaanalyse von weltweit dazu erfolgten Studien zeigt auf, dass ein beträchtlicher Anteil der Menschheit von Vitamin D-Mangel betroffen ist: 25(OH)D -Blutspiegel unter 20 ng/ml weisen im Schnitt rund 40 % der Europäer, 37 % der Kanadier, dagegen nur 24 % der US-Amerikaner (die ja einige mit Vitamin D angereicherte Nahrungsmittel konsumieren) auf. Schweren Vitamin D-Mangel mit 25(OH)D-Spiegeln unter 10 - 12,5 ng/ml haben im Schnitt 13 % der Europäer, 7,4 % der Kanadier und 5,9 % der US-Amerikaner [2].

Dass Supplementierung von Vitamin D vor Erkrankungen des Muskel-/Knochensystems schützt, ist erwiesen. Wieweit kann Vitamin D aber auch vor den oben angeführten weiteren Krankheiten schützen? Und in welchen Dosierungen müsste Vitamin D angewandt werden, um Wirksamkeit ohne schädliche Nebenwirkungen zu erzielen?

Zu diesen Themen wurden und werden weltweit nahezu unzählige klinische Studien unternommen, die meisten davon sind in der US-amerikanische Datenbank https://clinicaltrials.gov/ gelistet: Unter dem Stichwort "vitamin D deficiency" finden sich dort insgesamt 791 Studien, von denen rund 500 bereits abgeschlossen sind. Die meisten dieser Studien leiden allerdings unter methodischen Schwächen. Abgesehen von häufig zu niedrigen Teilnehmerzahlen, kann die wesentlichste Frage nicht beantwortet werden: wie unterscheiden sich die Ergebnisse der Vitamin-D supplementierten Kohorte von denen einer Placebo-Kohorte - d.i. Vitamin D-Mangel -Kohorte?  An Letzterer sind aus ethischen Gründen ja keine Langzeitstudien verantwortbar.

Die VITAL-Studie

Das Fehlen einer solchen Vitamin D-Mangel-Gruppe trifft auch auf die bislang größte Placebo kontrollierte, randomisierte klinische Studie zu. Diese sogenannte VITAL-Studie zur präventiven Wirkung von Vitamin D3 auf Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs wurde in dem der Harvard Medical School angegliederten Brigham and Women’s Hospital in Boston ausgeführt, deren Ergebnisse Ende 2018 publiziert. In diese Studie waren insgesamt 25 871 anfänglich gesunde Personen im Alter über 50 (Männer) bzw. 55 Jahren (Frauen) involviert, die über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren täglich hochdosiertes Vitamin D3 (2 000 IU = 50 µg) oder Placebo und/oder parallel dazu 1 g Omega-3 Fettsäuren erhielten. Über diese Studie und ihr Ergebnis habe ich in [3] berichtet. Zum besseren Verständnis der neuen, darauf aufbauenden Begleitstudien wird das Design von VITAL nochmals in Abbildung 2 dargestellt.

Abbildung 2. Das Design der VITAL-Studie. Die primäpräventive Wirkung von Vitamin D3 und von Fischöl (EPA + DHA) auf kardiovaskuläre Ereignisse (Infarkt, Schlaganfall, CV-Tod) sowie auf invasive Krebserkrankungen wurden im Vergleich zu Placebo in randomisierten Gruppen mit N Teilnehmern untersucht. EPA: Eicosapentaensäure, DHA: Docosahexaensäure. (Bild aus [3] übernommen, Daten aus: JoAnn Manson et al.,: Vitamin D Supplements and Prevention of Cancer and Cardiovascular Disease. NEJM (10.11.2018) DOI: 10.1056/NEJMoa1809944)

Die Placebo-Gruppe wies - wie erwähnt - keinen Vitamin D-Mangel auf; es war ihr erlaubt bis zu 800 IU (20 µg) Vitamin D täglich zu sich nehmen (eine Reihe von Nahrungsmittel in den US sind ja Vitamin D supplementiert); dies entspricht der von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfohlenen Tagesdosis für ausreichende Vitamin D-Versorgung. Demzufolge lagen die Blutspiegel der Placebo-Gruppe im Schnitt bei 30,8 ng/ml (78 nM); nur 12,7 % der Teilnehmer hatten Spiegel unter 20 ng/ml, d.i. fielen unter die Definition Vitamin D-Mangel.

Das Ergebnis der Studie war enttäuschend. Die Supplementierung mit Vitamin D3 (und/oder mit Omega-3 Fettsäuren) hatte zwar eine Erhöhung der 25(OH)D-Spiegel auf etwa 41.8 ng/ml (104 nmole/l) zur Folge, im Vergleich zur Placebo-Gruppe konnte jedoch kein signifikanter Schutz vor kardiovaskulären Ereignissen oder Krebserkrankungen beobachtet werden [3]. Es ist nicht auszuschließen, dass in der Placebo-Gruppe Vitamin D seine Wirkung bereits voll entfalten konnte und ein rund 40 %iger Anstieg der Blutspiegel kaum mehr eine Steigerung der Effekte erbrachte.

Begleitende Studien zu VITAL

Design und Durchführung der VITAL-Studie haben einen enormen Aufwand bedeutet, dabei aber auch die Möglichkeit für Begleitstudien geboten, welche die Auswirkung von Vitamin D und/oder Omega-3-Fettsäuren auf andere Gesundheitsrisiken untersuchen konnten. Dabei nahm man ein weites Spektrum von Krankheiten ins Visier, das von Depression, Gedächtnisverlust, kognitivem Verfall über Infektionen bis hin zur großen Gruppe der Autoimmunerkrankungen reichte (unter "VITAL, vitamin D" sind 66 Studien in https://clinicaltrials.gov gelistet).

Autoimmunerkrankungen

Mehr als hundert unterschiedliche Autoimmunerkrankungen sind derzeit bekannt und rund 4 % der Weltbevölkerung sind davon betroffen. Zu den bekanntesten Autoimmundefekten zählen u.a. Typ 1-Diabetes, multiple Sklerose, Psoriasis, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, rheumatoide Arthritis, Polymyalgie und autoimmune Schilddrüsenerkrankung. In der industrialisierten Welt gehören Autoimmunerkrankungen zu den häufigsten Krankheitsursachen. Einer aktuellen Umfrage der Plattform Statista zufolge sind an die 7 % der US-Amerikaner, 6 % der EU-Bürger und 5 % der Chinesen daran erkrankt (https://www.statista.com/statistics/418328/diagnosed-autoimmune-conditions-prevalence-in-selected-countries/). Die Inzidenz von Autoimmunerkrankungen steigt stark an - zum Teil dürfte da auch die höherer Informiertheit und eine verbesserte Diagnostik beitragen.

Ausgelöst werden Autoimmunerkrankungen durch ein fehlgeleitetes Immunsystem , das Komponenten des Körpers als fremd ansieht und attackiert. Autoreaktive T-Zellen und B-Zellen richten sich gegen Antigene, die aus körpereigenen Proteinen stammen. Es werden gesunde Zellen angegriffen - organspezifisch, wie im Fall von Typ1-Diabetes im Pankreas oder auch Zellen im gesamten Körper, wie im Fall des systemischen Lupus erythematodes. Was im Einzelnen zur Fehlleistung des Immunsystems führt, ist noch nicht hinreichend bekannt - eine Rolle spielen offensichtlich genetische Veranlagung, Infektionen, Ernährung und Exposition zu Umweltstoffen.

Autoimmundefekte sind chronische Erkrankungen, die derzeit nicht heilbar sind und deren Behandlung mit Immunsuppressiva von schweren Nebenwirkungen begleitet werden kann. Es wird daher nach Möglichkeiten zur Prävention dieser Erkrankungen gesucht.

VITAL-Studie zeigt: Vitamin D-Supplementierung reduziert das Risiko von Autoimmunerkrankungen

(Design der Studie: siehe Abbildung 2)

Eine der VITAL-Begleitstudien zur Auswirkung auf Autoimmunerkrankungen haben Forscher des Brigham and Women's Hospital (Boston, MA, US), an dem die VITAL-Studie gelaufen war, durchgeführt; die vielversprechenden Ergebnisse wurden kürzlich publiziert [4].

Die Studienteilnehmer hatten in jährlichem Abstand Fragebögen erhalten, in denen sie u.a. angaben, ob, wann und welche Autoimmunerkrankungen neu aufgetreten und ärztlich bestätigt worden waren. Dabei wurden explizit rheumatoide Arthritis, rheumatische Polymyalgie, autoimmune Schilddrüsenerkrankung, Psoriasis und entzündliche Darmerkrankungen angeführt , zusätzlich konnten alle anderen neu diagnostizierten Autoimmunerkrankungen eingetragen werden. Für die einzelnen Krankheiten spezialisierte Fachärzte prüften die Krankenakten und bestätigten die noch geblindeten Angaben (d.i. ohne Kenntnis ob sie aus der Vitamin D oder Placebo-Gruppe stammten) oder lehnten sie ab.

Es zeigte sich, dass Personen, die mit Vitamin D oder Vitamin D plus Omega-3-Fettsäuren supplementiert wurden, eine signifikant niedrigere Inzidenz von Autoimmunerkrankungen aufwiesen als Personen der Placebo-Gruppe. So wurden während der 5-jährigen Studiendauer bei 123 Teilnehmern in der Vitamin D-Gruppe Autoimmunerkrankungen neu diagnostiziert, in der Placebogruppe dagegen bei 155 Teilnehmern - entsprechend einer Reduktion um 22 % (Abbildung 3).

Abbildung 3. Inzidenz von Autoimmunerkrankungen in der VITAL-Studie. Kumulierte Inzidenzen in der Vitamin D-Gruppe (blau) verglichen mit der Plazebo.Gruppe (gelb).(Bild modifiziert nach J. Hahn et al., 2022 [4], Lizenz cc-by-nc.).

Autoimmunerkrankungen entwickeln sich langsam, die hemmende Wirkung von Vitamin D beginnt erst nach 2 Jahren sichtbar zu werden und könnte bei über die 5 Jahre hinaus dauernder Supplementierung noch stärker ausfallen. Werden nur die letzten 3 Jahre der VITAL-Studie betrachtet, so ergibt sich eine Reduktion der Krankheitsfälle um fast 40 %. (Was die alleinige Supplementierung mit Fettsäuren betrifft, so ergab sich eine leichte Reduktion der Erkrankungsrate, die aber erst für die letzten 3 Jahre mit 10 % Signifikanz erlangte. Auch hier ist möglicherweise erst nach längerer Anwendungsdauer eine stärkere Wirkung zu erwarten.)

Fazit

Autoimmunerkrankungen zählen zu den häufigsten Erkrankungen; sie vermindern die Lebensqualität, erhöhen die Mortalitätsrate, ihre Behandlung verursacht enorme Kosten (laut Statista wurden 2019 global US $ 140 Milliarden ausgegeben) und sie sind bis jetzt nicht heilbar. Dass Supplementierung mit Vitamin D einen Schutz vor Autoimmunerkrankungen bietet, ist von hoher klinischer Bedeutung. Bei Vitamin D handelt es sich ja um eine stabile, billige Substanz, die chronisch auch in höherer Dosis angewandt werden kann, ohne schwere Nebenwirkungen zu verursachen.


[1] Inge Schuster, 10.05.2012: Vitamin D — Allheilmittel oder Hype?

[2] Karin Amrain et al., Vitamin D deficiency 2.0: an update on the current status worldwide. Eur. J.Clin. Nutrition (2020) 74:1498–1513. https://doi.org/10.1038/s41430-020-0558-y

[3] Inge Schuster, 15.11.2018: Die Mega-Studie "VITAL" zur Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen oder Krebs durch Vitamin D enttäuscht

[4] Jill Hahn et al., Vitamin D and marine omega 3 fatty acid supplementation and incident autoimmune disease: VITAL randomized controlled trial. BMJ 2022;376:e066452 | doi: 10.1136/bmj-2021-066452


inge Sat, 05.02.2022 - 16:29