Spurensuche — Wie der Kampf gegen Viren unser Erbgut formte

Spurensuche — Wie der Kampf gegen Viren unser Erbgut formte

Fr, 03.05.2013 - 05:29 — Gottfried Schatz

Icon BiologieGottfried SchatzInfektionen mit Retroviren haben seit jeher Spuren im Erbgut höherer Organismen hinterlassen. Mit rund 8 % der Sequenzen im menschlichen Erbgut nehmen fossile Überreste von Retroviren wesentlich mehr Raum ein als unsere eigenen Protein kodierenden Gene. Der Kampf gegen diese Eindringlinge, aber auch die Koexistenz mit diesen, hat zur Evolution der Spezies beigetragen.

Woher kommen wir? Welche geheimnisvolle Kraft schuf die hoch geordnete Substanz, die mich Mensch sein lässt? Die Suche nach den Antworten gebar unsere Mythen, doch heute wissen wir, dass viele Antworten im Erbgut unserer Zellen schlummern.

Jede meiner Körperzellen besitzt etwa 25 000 Erbanlagen (Gene), die in einer chemischen Schrift auf den fadenförmigen Riesenmolekülen der DNS niedergeschrieben sind. Die Gesamtheit meiner DNS-Fäden ist mein «Erbgut». Könnte ich an meinen DNS-Fäden entlangwandern, träfe ich nicht nur auf meine eigenen Gene, sondern auch auf etwa drei Millionen wahllos verstreute und verstümmelte Gene von Viren, die zusammen fast ein Zehntel meines Erbguts ausmachen. Diese genetischen Fossilien zeugen von erbitterten Kämpfen, die unsere biologischen Vorfahren vor Jahrmillionen gegen eindringende Viren geführt haben. Diese Kämpfe haben das Erbgut unserer Vorfahren aufgewühlt und so vielleicht mitgeholfen, sie zu Menschen zu machen.

Viren sind keine Lebewesen, sondern wandernde Gene, die sich zu ihrem Schutz mit Proteinen und manchmal auch noch mit einer fetthaltigen Membran umhüllen. Da sie keinen eigenen Stoffwechsel besitzen, müssen sie in lebende Zellen eindringen, um sich zu vermehren. Einige von ihnen – die «Retroviren» – schmuggeln dabei sogar ihr eigenes Erbgut in das der Wirtszelle ein. Wenn diese Zelle sich dann teilt, gibt sie die fremden Gene zusammen mit den eigenen an alle Tochterzellen weiter. Sie kann die fremden Gene jedoch nicht an die nächste Generation des infizierten Tieres oder Menschen weitergeben – es sei denn, sie ist eine Ei- oder Samenzelle. In diesem Fall vererbt sie die eingebauten Virusgene getreulich an die kommenden Generationen, so dass die fremden Gene feste Bestandteile im Erbgut des Organismus werden.Zellinfektion durch Retrovirus, schematisch

Abbildung 1. Schema: Infektion einer Wirtszelle mit einem Retrovirus. Aufnahme eines Retrovirus in die Wirtszelle, reverse Transkription der viralen RNA in DNA, deren Integration ins Wirtsgenom und Trankription in mRNA, Expression der viralen Proteine ribosomale Proteinsynthese, Assemblierung neuer Viruspartikel und Freisetzung. (Bild modifiziert nach Wikipedia).

Unterwanderung

In einer Zelle schlummernde Retroviren sind tickende Zeitbomben. Sie können aus dem Erbgut des Wirts wieder herausspringen und freie Viren bilden, die dann aus der Wirtszelle ausbrechen, in andere Zellen eindringen und sich nun in deren Erbgut einnisten. So folgt ein Infektionszyklus dem anderen. Was bewegt schlummernde Retroviren, plötzlich wieder zu erwachen und zu neuen Eroberungen aufzubrechen? Darüber wissen wir fast nichts. Doch wir wissen einiges darüber, wie wir uns gegen eindringende Retroviren zur Wehr setzen.

Wie mittelalterliche Städte und Burgen setzen wir dafür mehrere Verteidigungsringe ein. In den äussersten Ringen versuchen wir, das Virus mit unserer immunologischen Abwehr zu überwältigen oder ein Anheften des Virus an unsere Zellen zu verhindern. Versagt diese Abwehr, versuchen wir die Freisetzung der Virusgene aus ihrer Verpackung oder das Einschleusen dieser Gene in unser Erbgut abzublocken. Wenn das Retrovirus auch diese Verteidigungsringe überwältigt hat, bleibt uns nur noch der zermürbende Grabenkrieg: Wir versuchen, die unerwünschten Virusgene Schritt für Schritt zu zerstören. Diese Taktik erfordert zwar Geduld, war aber für unsere Vorfahren und auch für unsere Spezies bisher meist erfolgreich: Nach einer Million Jahren sind von den eingedrungenen Virusgenen gewöhnlich nur noch Bruchstücke übrig, die als genetische Fossilien im breiten Strom unseres Erbguts von Generation zu Generation treiben.

Unser Erbgut ist also nicht nur Quelle des Lebens, sondern auch ein immenses genetisches Totenhaus. Wenn wir dieses Totenhaus mit den Werkzeugen der Molekularbiologie durchsuchen, lässt es uns tief in unsere Vorzeit blicken und erahnen, welche Kräfte das Erbgut unserer Vorfahren geformt haben. Der Kampf zwischen Zellen und Retroviren tobt seit mehreren hundert Millionen Jahren. Es ist also nicht erstaunlich, dass wir im Erbgut aller Säugetiere so viele fossile Virusreste finden. Der Kampf ist noch nicht entschieden, denn infektiöse Retroviren nisten immer noch im Erbgut fast aller Säugetiere, bis hinauf zu unserem engsten Verwandten, dem Schimpansen.

Und seit wir eine eigene Spezies sind, ist es mehr als hundert verschiedenen Stämmen von Retroviren geglückt, in unsere Ei- oder Samenzellen einzudringen und unser Erbgut zu unterwandern. Doch wir Menschen scheinen als erste Spezies den Kampf gegen vererbte Retroviren gewonnen zu haben: Alle Virusgene, die wir in unserem heutigen Erbgut ausmachen können, sind mit höchster Wahrscheinlichkeit zu verstümmelt, um wieder infektiöse Viren bilden zu können. Nur bei einem einzigen integrierten Retrovirus sind wir uns nicht ganz sicher, ob es nicht doch in einzelnen Menschen seine Infektionskraft bewahrt hat und Krankheiten verursachen könnte.

Aber selbst Virusfossilien, die nicht mehr infektiöse Viren bilden können, schlummern nicht immer friedlich. Einige von ihnen, die fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind, springen in unserem Erbgut immer noch ziellos und ohne ersichtlichen Grund von einem Ort zum anderen und hinterlassen dabei bleibende Spuren. Diese Spuren sind – wie so viele andere Spätfolgen eines Krieges – meist schädlich und verursachen etwa 0,2 Prozent aller Mutationen, die unser Erbgut im Laufe unseres Lebens unweigerlich erleidet. In einigen Menschen schädigte eine solche Mutation ein für die Blutgerinnung notwendiges Protein und machte diese Menschen zu «Blutern», für die selbst kleine Wunden lebensbedrohlich sind.

Waren uns Retroviren nützlich?

Aber durch springende Virustrümmer verursachte Mutationen können, wie alle Mutationen, gelegentlich auch nützlich sein. Ein springendes Virusfossil landete vor langer Zeit in der Nähe eines Gens, das die Entwicklung menschlicher Eizellen fördert, und erhöhte damit zufällig die Fruchtbarkeit - und so die Chancen für das Überleben - unserer Spezies. Und wenn wir die Angriffe von Retroviren anhand der genetischen Fossilien zurückverfolgen, erkennen wir, dass die plötzliche Entwicklung der Säugetiere vor 170 Millionen Jahren mit einer gewaltigen Invasionswelle von Retroviren einherging. Eine weitere Welle ereignete sich vor 6 Millionen Jahren, kurz bevor wir Menschen uns vom Schimpansen verabschiedeten.

Diese biologischen Kriegswirren haben die Zellen unserer Vorfahren wahrscheinlich dazu gezwungen, ihr Erbgut auf vielfältige Weise zu verändern, um neuartige Waffen gegen die Eindringlinge zu schmieden. Handelt es sich hier nur um zeitliche Zufälle - oder haben diese Infektionswellen plötzliche Entwicklungssprünge ausgelöst? Könnte es sein, dass Retroviren die Entwicklung unserer menschlichen Spezies gefördert haben? Erfüllen einige dieser verstümmelten Virusgene Aufgaben, von denen wir heute noch nichts wissen? Und sind die Virustrümmer in meinem Erbgut nur überwältigte Eindringlinge – oder ein wichtiger Teil von mir?

 


Weiterführende links

Evolutionsbeweis durch endogene Retroviren. Video 8:25 min Dazu die Webseite Evolutionsbeweis durch endogene Retroviren Evolution: Genetic Evidence – Endogenous Retrovirus Video 5:75 min (Englisch) Endogenous Retroviruses: Life-Cycle and Ancestral Implications Video 9:43 min M. Emerman, H.S. Malik (2010) Paleovirology—Modern Consequences of Ancient Viruses. PLOS Biology 8 (2) (PDF – freier Download, Englisch)


 

inge Fri, 03.05.2013 - 05:29