Wie körperliche Bedürfnisse und physiologische Zustände die sensorische Wahrnehmung verändern
Wie körperliche Bedürfnisse und physiologische Zustände die sensorische Wahrnehmung verändernDo, 11.05.2017 - 07:06 — Ilona Grunwald Kadow
Körperliche Verfassung und Lebensumstände können sowohl die Wahrnehmung als auch die Reaktion auf den Geruch oder Geschmack bestimmter Nahrung verändern. Was diese Veränderung jedoch auslöst, ist noch unklar. Die Autorin (ehem. Forschungsgruppenleiterin am MPI für Neurobiologie, jetzt Professor für Nervensystem und Metabolismus an der TU München) konnte zeigen, dass befruchtete Weibchen der Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) nach der Befruchtung polyaminreiche Nahrung bevorzugen und diese mittels bestimmter Geruchs- und Geschmacksrezeptoren identifizieren. Körperliche Bedürfnisse können also die Sinne und letztlich das Verhalten beeinflussen.*
Sinneseindrücke wie Geruch und Geschmack bilden die Basis für unser Verhalten, unsere Entscheidungen und unsere Präferenzen. Sie sind entscheidend bei der Wahl unserer Nahrung und ermöglichen es, Toxine, Bakterien, Pilze oder sonstige Verunreinigungen zu vermeiden. Unsere Sinne verändern sich aber auch je nach physiologischem Zustand und Bedürfnislage. Hunger erhöht nicht nur unser Interesse an Nahrung, sondern sensibilisiert auch unseren Geruchs- und Geschmackssinn.
Andere wichtige physiologische Veränderungen, zum Beispiel eine Schwangerschaft, beeinflussen ebenfalls die Wahrnehmung von Geruch und Geschmack. Eine große Frage in der neurobiologischen Forschung ist daher, wie der Körper mit dem Nervensystem kommuniziert, um unser Verhalten und unsere Nahrungspräferenzen an solche Zustandsveränderungen anzupassen. Nach wie vor ist unklar, wie die Sinnesveränderungen mit den physiologischen und metabolischen Bedürfnissen des Körpers verbunden sind. Diese Mechanismen haben die Neurobiologen am Max-Planck-Institut in Martinsried/München in der Fruchtfliege untersucht. In zwei aktuellen Arbeiten konzentrierten sie sich auf Polyamine, die ein essentieller Nahrungsbestandteil mit wichtiger Bedeutung für den tierischen und menschlichen Körper sind.
Polyamin-Rezeptoren fördern das Überleben und den Reproduktionserfolg
Polyamine tragen so charakteristische Namen wie Cadaverin, Spermin oder Putrescin (lateinisch putridus bedeutet faulig). Abbildung 1 (von Red. eingefügt).
Abbildung 1. Einige wichtige Polyamine. Es sind kleine, stark basische Verbindungen, die in allen lebenden Zellen vorkommen und essentielle physiologische Funktionen ausüben. (Bild von Red. eingefügt)
Was für uns Menschen und viele Tiere gerade in höheren Konzentrationen durchaus unangenehm riecht, ist gleichzeitig überlebenswichtig. Ein Mangel an Polyaminen wird mit neurodegenerativen Erkrankungen, Altern und Abnahme der Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht. Neue Daten zeigen, dass Polyamine als Nahrungsergänzung das Herz schützen und so lebensverlängernd wirken können. Zu viel an bestimmten Polyaminen scheint hingegen bei der Entstehung von Krebs eine Rolle spielen. Obwohl der Körper Polyamine zum Teil selbst herstellt und ein weiterer Teil durch Darmbakterien produziert wird, muss ein variierender Anteil über die Nahrung aufgenommen werden. Mit fortschreitendem Alter sinkt die körpereigene Produktion, sodass die Aufnahme von Polyaminen mit der Nahrung dann immer wichtiger wird.
Das führte zu unserer Hypothese, dass die Polyaminaufnahme an die aktuellen Bedürfnisse des Körpers angepasst sein müsste. Ob und wie Polyamine erkannt werden und wie der Körper die Aufnahme an die jeweilige Bedürfnislage anpasst, war noch weitgehend unerforscht. Anhand des Modells der Fruchtfliege untersuchten die Neurobiologen daher, wie Tiere Polyamine wahrnehmen und welchen Einfluss Körper und Physiologie haben.
Verhaltensstudien an Fliegen...
Wie Verhaltensversuche zeigten, werden Fliegen vom Polyamingeruch stark angezogen; sie legen ihre Eier lieber auf polyaminreiche, ältere Früchte als auf frische. Durch eine Reihe von genetischen Experimenten fanden die Wissenschaftler heraus, dass Fliegen die Polyamine mit dem Geruchs- und Geschmackssinn wahrnehmen. Welche Geschmacks- und Geruchssinneszellen dabei aktiv wurden, zeigte sich unter dem Mikroskop (Abbildung 2).
Abbildung 2. Die chemosensorischen Nervenzellen im Bein der Fruchtfliege werden aktiv, wenn zwei evolutionär sehr alte Rezeptoren Polyamine erkennen. © MPI für Neurobiologie/Loschek
...kombiniert mit genetischen Studien
Durch die Kombination der Verhaltensstudien und genetischen Untersuchungen konnten die Forscher drei Rezeptoren identifizieren, die zu derselben Rezeptorklasse gehören und in den Sinneszellen den Geruch und Geschmack von Polyaminen vermitteln. Diese Rezeptoren gehören zu einer evolutionär sehr alten Klasse von Proteinen, den sogenannten ionotropischen Rezeptoren (IRs). Diese sind mit Rezeptoren verwandt, welche die synaptische Aktivität von Nervenzellen kontrollieren. Interessanterweise werden auch diese synaptischen Rezeptoren durch Polyamine, die unter anderem in synaptischen Vesikeln enthalten sind, beeinflusst. Warum bestimmte Geschmacks- und Geruchsrezeptoren nur spezifische Geschmäcke oder Gerüche erkennen, ist unklar. Die Ähnlichkeit zwischen IRs und synaptischen Rezeptoren könnte helfen, zu verstehen, warum Polyamine von IRs erkannt werden.
Die Ergebnisse zeigen, dass Fliegen eine polyaminreiche Nahrungsquelle zunächst über zwei dieser IRs (IR76b und IR41a) anhand des Geruchs finden (Abbildung 3). Dort hingelangt, erkennen die Geschmacksnervenzellen über den IR76b-Rezeptor zusammen mit einem Bitter-Rezeptor (GR66A)die Qualität der gefundenen Polyamine. Ähnlich wie bei uns Menschen scheint eine zu hohe Polyamin-Konzentration die Fliegen eher abzuschrecken. Sie fraßen oder legten ihre Eier nur dann auf polyaminreiches Futter, wenn zusätzliche Futterkomponenten wie zum Beispiel Zucker den bitteren Geschmack der Polyamine überdeckten.
Abbildung 3. Jeweils zwei Rezeptoren ermöglichen es der Fruchtfliege, die überlebenswichtigen Polyamine in der Nahrung aufzuspüren. © MPI für Neurobiologie/Gompel
Es ist denkbar, dass das Erkennen von Polyaminen mithilfe dieser Rezeptoren bereits früh in der Entwicklungsgeschichte das Überleben von Tieren verbessert hat, da wichtige Nahrungskomponenten gefunden und in der richtigen Menge aufgenommen werden konnten.
Die Untersuchungen der Forscher zeigten auch, dass sich zumindest Mücken vom Geruch der Polyamine ähnlich angezogen fühlen wie Fliegen. Während vergleichbare Mechanismen somit auch bei anderen Tierarten möglich sind, könnten die Ergebnisse ebenfalls bei der Bekämpfung für den Menschen gefährlicher Arten - wie z. B. der Asiatischen Tigermücke (Stegomyia albopicta) - interessant sein.
Neuropeptide verändern Wahrnehmen und Verhalten
Polyamine werden besonders bei körperlicher Belastung vermehrt gebraucht. Eine besonders große Herausforderung für den Organismus ist die Trächtigkeit/Schwangerschaft. Um die heranwachsenden Nachkommen optimal zu versorgen und gleichzeitig die eigenen, gesteigerten Körperfunktionen aufrecht zu erhalten, muss sich die Ernährung auf die geänderten Anforderungen umstellen.
Ähnlich wie beim Menschen oder der Maus wirken sich zusätzliche Polyamine in der Nahrung positiv auf den Reproduktionserfolg von Fliegen aus. So legten Tiere, die eine Nahrung mit hohem Polyaminanteil zu sich nahmen, mehr Eier und produzierten mehr Nachwuchs. Diese Daten legten die Vermutung nahe, dass tragende Weibchen ein höheres Interesse an dieser Art von Nahrung zeigen müssten. Tatsächlich fanden die Forscher, dass Fruchtfliegenweibchen nach der Paarung Nahrung mit einem höheren Polyamin-Anteil stärker bevorzugten als vor der Paarung. Eine Kombination aus Verhaltensstudien und physiologischen Untersuchungen ergab, dass die veränderte Anziehungskraft der Polyamine auf die Fliegen vor und nach der Paarung durch den Neuropeptid-Rezeptor SPR (Sex Peptid Rezeptor) und seinen Bindungspartner MIP (myoinhibitorisches Peptid) ausgelöst wird. Überraschenderweise bewirkte die Aktivierung des SPR nicht nur, dass die Weibchen überhaupt Eier legten, wie in vorangegangen Studien bereits gezeigt wurde, sondern sie veränderte direkt die Nervenübertragung in den Sinneszellen, die für die Erkennung von Polyamin-Geschmack und –Geruch zuständig sind. Diese Veränderung war ausreichend, um die Verhaltensänderung der Tiere zu erklären.
Neuropeptide verändern die Reizbarkeit oder Übertragungsleistung von Nervenverbindungen. Sie spielen in vielen wichtigen Prozessen eine Rolle. Zum Beispiel verändert sich die Wahrnehmung in Tieren, wenn sie hungrig sind, oder sich in einem bestimmten emotionalen oder physischen Zustand befinden. Die neuen Ergebnisse zeigen nun, dass in trächtigen Weibchen deutlich mehr SPR-Neuropeptid-Rezeptoren in die Oberflächen von polyaminsensitiven, chemosensorischen Nervenzellen eingebaut werden. Polyamine werden so bereits am Eingang der Verarbeitungskette von Gerüchen und Geschmäckern verstärkt wahrgenommen. Die Bedeutung des Rezeptors zeigte sich vor allem, als die Forscher durch eine genetische Modifikation das SPR-Vorkommen in Geruchs- und Geschmacksneuronen nicht-trächtiger Weibchen steigerten: Die Veränderung reichte aus, um die Nervenzellen von jungfräulichen Fliegen stärker auf Polyamine reagieren zu lassen. Letztendlich führte dies dazu, dass die Weibchen ihre Vorlieben änderten und wie ihre verpaarten Artgenossinnen die polyaminreiche Nahrungsquelle anflogen.
Zusammenspiel von Körper und Gehirn
Die Ergebnisse der Neurobiologen weisen auf einen Mechanismus hin, wie körperliche Veränderungen (hier Trächtigkeit oder Schwangerschaft) die chemosensorischen Nervenzellen modifizieren und so die Wahrnehmung wichtiger Nährstoffe und die Reaktion darauf verändern können (Abbildung 4).
Abbildung 4. Das Nervensystem und die inneren Organe interagieren, um beispielsweise physiologische Zustände zu kommunizieren. IR76b Nerven innervieren nicht nur das Gehirn und die Sinnesorgane, sondern auch die inneren Organe. Blau: Ovar, Rot: IR76b Nerven, Grün: Darm. © MPI für Neurobiologie/Loschek.
Welche Nervenverbindungen das Körperinnere, wie Darm und Reproduktionsorgane, mit dem Gehirn verbinden und wie sie genau kommunizieren, wollen die Forscher in weiteren Studien klären. Möglicherweise spielen Geschmacks- oder andere Rezeptormoleküle, die direkt Moleküle aus der Nahrung oder in den Reproduktionsorganen erkennen, eine Rolle. Da Geruch und Geschmack in Insekten und Säugetieren ähnlich verarbeitet werden, könnte ein entsprechender Mechanismus auch beim Menschen dafür sorgen, dass das heranwachsende Leben optimal versorgt ist.
* Der unter dem Titel " Wie körperliche Bedürfnisse und physiologische Zustände die sensorische Wahrnehmung verändern" im Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 2017 erschienene Artikel (https://www.mpg.de/10957858; ) wurde mit freundlicher Zustimmung der Autorin und der MPG-Pressestelle ScienceBlog.at zur Verfügung gestellt. Er erscheint ungekürzt, geringfügig für den Blog adaptiert (Abbildung 1 wurde von der Redaktion eingefügt und ebenso einige Absätze und Untertitel für's leichtere Scrollen), allerdings ohne Literaturangaben. Die großteils nicht frei zugänglichen Veröffentlichungen sind im Jahrbuch ersichtlich und können auf Wunsch zugesandt werden.
Weiterführende Links
Max-Planck-Institut für Neurobiologie http://www.neuro.mpg.de/
Wie der Geruchssinn funktioniert (Animationen): Max-Planck-Film 3:15 min. https://www.mpg.de/785777/Riechen https://www.mpg.de/785777/
Riechen Ulrich Pontes (2013) Riechen und Schmecken – oft unterschätzt. https://www.dasgehirn.info/wahrnehmen/riechen-schmecken/riechen-und-schm...
Im ScienceBlog
Themenschwerpunkt Sinneswahrnehmung/ Riechen und Schmecken: http://scienceblog.at/sinneswahrnehmung-riechen-schmecken