Eine Dokumentation zur Geschichte der Wiener Vorlesungen 1987 - 2017

Eine Dokumentation zur Geschichte der Wiener Vorlesungen 1987 - 2017

Do, 12.07.2018 - 09:01 — Inge Schuster Inge SchusterIcon Politik & Gesellschaft

Die "Wiener Vorlesungen" stellen ein bis jetzt wohl einzigartiges Projekt der Wissensvermittlung dar [1]. Sie sind einzigartig in Hinblick auf das ungeheuer breite Spektrum an behandelten Themen - von Kultur über Wirtschaft, Politik, Religion, Sozialwissenschaften bis hin zu Naturwissenschaften und Medizin -, außerordentlich, was die sehr hohe Qualität der Vorträge betrifft und die riesige Zahl der Veranstaltungen, die in den 30 Jahren des Bestehens dieser Initiative stattfanden. Hirn, Herz und Motor der "Wiener Vorlesungen" finden sich in der Person von Hubert Christian Ehalt. Der Historiker, Soziologe und Wissenschaftsreferent der Stadt Wien hat diese Veranstaltungen 1987 ins Leben gerufen und bis 2017 mit Kreativität und enormen Enthusiasmus organisiert und moderiert. Nun fasst er die Geschichte dieser Vorlesungen in Form eines reichbebilderten Buchs zusammen; die Titel der Vorträge und die Bilder von den Veranstaltungen spiegeln die kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Strömungen der letzten dreißig Jahre wider.

Sapere Aude

Die "Wiener Vorlesungen" sollten ein "intellektuelles Scharnier zwischen den Wiener Universitäten und dem Rathaus" werden. Sie sollten Wissen vermitteln, Volksbildung sein, aufklären, kritikfähig machen und Utopien Raum geben.

Mit diesen ambitionierten Zielvorstellungen startete Christian Ehalt - als Wissenschaftsreferent der Stadt Wien für Wissenschaft und Forsuchung zuständig - die "Wiener Vorlesungen" im Mai 1987. Ehalt war damals jung, künstlerisch hochbegabt, er hatte Wirtschafts-, Sozialgeschichte und Soziologie studiert und sich darüber hinaus ein sehr breites transdisziplinäres Wissen angeeignet. Es sind 10 Ziele, die Ehalt mit den "Wiener Vorlesungen" erreichen wollte:

  • Aufklärung statt Vernebelung
  • Differenzierung statt Vereinfachung
  • Analyse statt Infotainment
  • Tiefenschärfe statt Oberflächenpolitur
  • Empathie statt Egomanie
  • Utopien statt Fortschreibung
  • Widerspruch statt Anpassung
  • Auseinandersetzung statt Belehrung
  • Gestaltungswille statt Fatalismus
  • Werte statt anything goes"

Eine Zeitreise

Als Ehalt im Mai 1987 sein Projekt startete, existierte noch der eiserne Vorhang. Vorträge und Vortragende reflektieren die politische Landschaft, die sich in den folgenden dreißig Jahren dann völlig ändern sollte (unter den Vortragenden war u.a. auch Gorbatschow zu finden), sie reflektierten den Wandel der Wirtschaftssysteme, Finanzkrisen, das Erstarken von Religionen und von religiösem Fanatismus (dazu gab es mehrere Vorträge von Basam Tibi), aufkommende Migrationsbewegungen, usw, usf. Die Vorlesungen setzten sich ebenso mit dem kulturellen Erbe unseres Landes und dessen Zukunft auseinander. Für den ScienceBlog besonders interessant: Ein ansehnlicher Teil der Vorlesungen widmete sich auch naturwissenschaftlich/technischen und medizinischen Themen und zeigte die rasante Entwicklung in diesen Disziplinen.

Das eben erschienene Buch "Wiener Vorlesungen 1987 - 2017 Standortbestimmung, Aufklärung, Navigation" (Abbildung 1) fasst nun alle Veranstaltungen zusammen, zeigt eine Fülle von Fotos und nennt alle (zum Teil höchst renommierten) Vortragenden und die Titel ihrer Vorträge. Aus diesen Titeln erkennen wir, welche Fragen in den letzten 30 Jahren als wichtig angesehen wurden, welche Probleme sich bereits frühzeitig angedeutet hatten und welche Lösungswege man vielleicht einschlagen hätte können. In allen Disziplinen gab es auch Visionäre, die statt eines (in Österreich so gern geübten) Rückblicks auf die "glorreiche" Vergangenheit Utopien für eine fruchtbare Zukunft in den Raum stellten, die zum Teil viel, viel schneller Realität wurden, als man es erträumte (beispielsweise die Digitalierung).

Abbildung 1. Die Geschichte der Wiener Vorlesungen. Wiener Vorlesungen 1987 – 2017. Standortbestimmung, Aufklärung, Navigation. Hubert Christian Ehalt (Hsg), Susanne Strobl und Andrea Traxler (redaktionelle Mitarbeit). Enzyklopädie des Wiener Wissens, Band XXX. (Verlag Bibliothek der Provinz A-3970 Weitra) ISBN 978-3-99028-757-6

Einige Zahlen

In den 30 Jahren ihres Bestehens, gab es rund 1500 Veranstaltungen der "Wiener Vorlesungen" mit teilweise mehreren Vortragenden, sodass insgesamt etwa 5000 Vortragende resultierten. Viele Vortragende gehörten zu den Spitzen in ihren Disziplinen. An die Vorträge schlossen sich zumeist Diskussionen an (sehr häufig von Christian Ehalt moderiert) - insgesamt dauerten Vorträge und Diskussionen 5000 Stunden.

Die Zahl der Veranstaltungen stieg anfänglich steil an und erreichte um 1998 einen Plateauwert von durchschnittlich 50/Jahr (nur in den letzten beiden Jahren gab es einen Rückgang). Auch der anfangs "unterbelichtete" Anteil an naturwissenschaftlich/technischen und medizinischen Themen steigerte sich auf rund 20 % der Veranstaltungen in den letzten 15 Jahren. Abbildung 2.

Abbildung 2. Wiener Vor­les­ungen (Mai 1987 - Oktober 2017). Nach einer Anfangsphase hat sich die Zahl der jähr­li­chen Ver­an­stal­tun­gen auf rund 50 ein­ge­pen­delt. Erfreulicherweise liegt der Anteil natur­wissen­schaft­lich/medizinischerThemen bei rund 20 % aller Ver­an­stal­tun­gen (ak­tua­li­sier­te Darstellung der Ab­bild­ung 1 aus [1]; Daten wurde zusammengestellt aus den Vortragstiteln in: https://www.wien.gv.at/kultur/abteilung/vorlesungen/Veranstaltungsarchiv und dem Buch in Abbildung 1).

Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen,
Und jedermann erwartet sich ein Fest.

Die Vorträge waren kostenlos und meistens sehr gut besucht; fanden sie im Festsaal des Rathauses statt, so waren Tausend und mehr Besucher keine Seltenheit. Das Publikum vermittelte dabei den Eindruck eher im Theater oder in einem Konzertsaal zu sitzen als in einem Vortragsaal - dies ist zweifellos durch den Festsaal und auch schon durch den Aufgang zu diesem bedingt, der Veranstaltungen eine fast feierliche Aura verleiht. Abbildung 3. Abbildung 3. Feststiege (links) und der volle Festsaal (rechts) des Wiener Rathauses. (Bilder: links Wikipedia, rechts Uni Wien cc-by-nc-nd)

Insgesamt schätzt man, dass etwa 600 000 Besucher aus allen Bevölkerungsschichten an den Veranstaltungen teilgenommen haben. Als ab 2011 die Wiener Vorlesungen von den TV-Sendern ORFIII und OKTO gezeigt wurden, erhöhte sich die Reichweite der Wissensvermittlung auf das Dreifache (leider können wissenschaftliche Veranstaltungen auch bei höchster Reichweite nicht mit Popkonzerten oder Sportevents Schritt halten).

Wie machen wir's, daß alles frisch und neu
Und mit Bedeutung auch gefällig sei?

Zweifellos ist es gelungen Referenten zu rekrutieren, die zur Weltspitze der Philosophen, Künstler, Politiker und Wissenschafter in In-und Ausland zählen. Es waren Vortragende zum Anfassen - die Form der Veranstaltung ermöglichte es dem Publikum mit den Vortragenden auf Augenhöhe diskutieren.

Insbesondere sind hier acht Nobelpreisträgerseminare zu erwähnen, die von dem Physiker Helmuth Hüffel (Univ. Wien) organisiert wurden und in den Jahren 2006 bis 2013 stattfanden; fünf dieser Seminare waren naturwissenschaftlichen Gebieten gewidmet und insgeamt 20 Nobelpreisträger trugen vor. Es waren dies absolute Highlights und der Festsaal des Rathauses war jedes Mal bis auf den letzten Platz gefüllt. (Leider gab es einige Redner, die nicht bedachten, dass viele Zuhörer völlige Laien waren). Im Folgenden sind die Namen der Redner und - in Klammer - das Jahr, in dem sie die Auszeichnung erhielten, sind im Folgenden gelistet:

  • 2006 war das Seminar dem Vermächtnis des 100 Jahre zuvor verstorbenen österreichischen Physikers Ludwig Boltzmann gewidmet. Es trugen vor : Claude Cohen-Tannoudji (Physik 1997), Roy Glauber (Physik 2005), Walter Kohn (Chemie 1998) und Chen Ning Yang (Physik 1957).
  • 2007 lag der Schwerpunkt auf Physiologie, Gentechnologie und Biochemie. Es sprachen Tim Hunt (Medizin 2001), Roger Kornberg (Chemie 2006) und Richard Roberts (Medizin 1993)
  • 2009 lag der Schwerpunkt auf Chemie (der Biomoleküle). Es sprachen Robert Huber (Chemie 1988), Jean-Marie Lehn (Chemie 1987), Roger Tsien (Chemie 2008), Kurt Wüthrich (Chemie 2002), Ahmed Zewail (Chemie 1999)
  • 2011 war wieder die Physik dran mit Theodor W. Hänsch(Physik 2005), Gerardus T. Hooft (Physik 1999) und Geirge F. Smoot (Physik 2006)
  • 2012 ging es um biologische Prozesse mit Sidney Altman (Chemie 1989), Elizabeth Blackburn (Medizin 2009), Günter Blobel (Medizin 1999), Martin Evans (Medizin 2007) und Thomas Steitz und Ada Yonath (beide Chemie 2009).

Wie geht es weiter?

Die "Wiener Vorlesungen" wurden unter Christian Ehalt zur Erfolgsgeschichte. Dieser hat nach seiner Pensionierung im vergangenen Jahr auch die Organisation der Wiener Vorlesungen niedergelegt. Seine Nachfolge hat heuer Daniel Löcker, Wissenschaftsreferent der Stadt Wien, angetreten. Löcker will die Wiener Vorlesungen umkrempeln - modernisieren, wie er sagt. Medienmeldungen vom 9. Jänner zufolge (https://wien.orf.at/news/stories/2888441/) will Löcker stärker an „unerwartete Orte“ in die Bezirke statt ins Rathaus gehen, die Anzahl der Veranstaltungen merkbar auf 12 - 15 pro Jahr reduzieren, u.a. auf "lustig oder originell anmutende" Formate setzen und die "Wiener Vorlesungen" außerdem verjüngen - und zwar nicht nur, was das Publikum betrifft. Im Zuge einer ab Herbst geplanten Reihe in Kooperation mit dem Radiokulturhaus sollen junge Talente vor den Vorhang gebeten werden. Ab sofort soll esein Jahresthema geben, das gewissermaßen den inhaltlichen Rahmen vorgibt. Heuer ist dies das Gedenkjahr 1918 bzw. 100 Jahre Republik.

Dass es mit diesen Änderungen zu einer Reduzierung der Reichweite und damit der Wissensvermittlung kommen wird, ist offensichtlich. Ob die für die Entwicklung unserer Gesellschaft enorm wichtigen, in Medien und Bildungstandards aber völlig unterrepräsentierten Naturwissenschaften noch in die "inhaltlich und formal neuen Akzente" der "Wiener Vorlesungen" passen, erscheint eher fraglich.


[1] Inge Schuster, 20.10.2016: Wissensvermittlung - Wiener Stil. 30 Jahre Wiener Vorlesungen.


Weiterführende Links

Wiener Vorlesungen - das Dialogforum der Stadt Wien

Publikationen der Wiener Vorlesungen: https://www.wien.gv.at/kultur/abteilung/vorlesungen/publikationen.html 61 Videos diverser Vorlesungen

Hubert Christian Ehalt in ScienceBlog

inge Thu, 12.07.2018 - 09:01