Bedrohtes Erbe — Wie unbeständige Datenspeicher unsere Kultur gefährden
Bedrohtes Erbe — Wie unbeständige Datenspeicher unsere Kultur gefährdenDo, 24.05.2012- 00:00 — Gottfried Schatz
Die digitale Revolution lässt uns mit der exponentiell steigenden Informationsflut scheinbar mühelos Schritt halten. Auch wenn wir gigantische Datenmengen blitzschnell speichern, verbreiten, ordnen und untersuchen können, sind diese Informationen keineswegs langfristig gesichert, da die heutigen digitalen Speicher nicht beständig sind.
«This is a present from a small, distant world, a token of our sounds, our science, our images, our music, our thoughts and our feelings. We are attempting to survive our time, so we may live into yours.» – «Dies ist ein Geschenk einer kleinen und fernen Welt, ein Zeugnis unserer Klänge und Geräusche, unserer Wissenschaft, unserer Bilder, unserer Musik, unserer Gedanken und unserer Gefühle. Wir versuchen, unsere Zeit zu überdauern, um in der euren fortzuleben.»
Diese bewegende Botschaft, in englischer Sprache in eine vergoldete Kupferscheibe geritzt, trug die Raumsonde Voyager 1 mit sich ins All, als sie am 5. September 1977 die Erde verließ (Abbildung 1).
Abbildung 1. Goldene Platte der Voyager-2-Sonde. Hülle mit Anweisungen zur Dekodierung der Datenplatte.
Die Sonde sollte den äussersten Rand unseres Sonnensystems erkunden und sich dann auf einer Reise ohne Wiederkehr in den Tiefen des Universums verlieren. Vielleicht würde sie nach Jahrmillionen lichtloser Einsamkeit dem Lockruf der Schwere einer Planeten-umringten fernen Sonne folgen und intelligenten Wesen von uns Menschen künden.
Die vergoldete Scheibe könnte im Weltraum einige hundert Millionen Jahre überdauern. Sie trägt eine Datenspur mit hundertfünfzehn Bildern sowie Klang-, Musik- und Sprachproben, zeigt den Abstand unserer Erde vom Zentrum unserer Milchstrasse sowie von vierzehn weit sichtbaren pulsierenden Sternen; und sie enthält eine Hülle mit Anweisungen, wie die Botschaften der Platte zu entziffern sind. Dass dies je geschieht, ist höchst unwahrscheinlich – und dennoch ist diese kleine Scheibe eines der erhebendsten Werke von Menschenhand.
Hyperbolisches Wachstum
Dem Genius unserer Spezies wird sie allerdings kaum gerecht: Ungezählte Scheiben wären nötig, um unser gesamtes geistiges Erbe aufzuzeichnen. Demetrius von Phaleron hat dies im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung im Auftrag des ägyptischen Königs Ptolemäus I. versucht, als er in Alexandrien einen gewaltigen Bibliothekskomplex gründete. Doch obwohl dieses «Mouseion» zuletzt eine halbe Million Papyri beherbergte, konnte es – mit wenigen Ausnahmen – nur Werke in griechischer Sprache berücksichtigen. Und die unersetzlichen Verluste, die es in Grossbränden erlitt, erinnern noch heute daran, wie schwer sich geistiges Erbe sichern lässt.
Heute, da sich dieses Erbe gewaltig vergrössert hat, ist dies noch um vieles schwieriger. Vor allem naturwissenschaftlich-technologische Informationen begannen um die Mitte des 18. Jahrhunderts exponentiell, ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar hyperbolisch anzuwachsen und würden um die Mitte dieses Jahrhunderts ins Unendliche explodieren, müsste nicht ihr Anwachsen, wie jedes nichtlineare Wachstum, schon vorher an seine Grenzen stossen und sich verlangsamen.
Die digitale Revolution lässt uns mit dieser steigenden Informationsflut scheinbar mühelos Schritt halten und gigantische Datenmengen blitzschnell speichern, verbreiten, ordnen und untersuchen. Die Zahl der Transistoren in den Gehirnen unserer Computer hat sich in den letzten vier Jahrzehnten alle achtzehn Monate verdoppelt, und dieser exponentielle Anstieg dürfte sich noch jahrzehntelang fortsetzen.
Ähnliches gilt für das Fassungsvermögen elektronischer Speicher, die heute auf wenigen Quadratzentimetern ganzen Bibliotheken Platz bieten.
Und obwohl elektronische Gehirne und Speicher sich derzeit ihren physikalischen Grenzen nähern, werden sich diese mit neuen Erfindungen überwinden lassen. Licht anstatt Elektrizität, einzelne Moleküle anstatt Transistoren oder genau positionierte einzelne Atome anstatt optisch oder magnetisch markierter Flächen sind nicht mehr Träume, sondern bereits weit fortgeschrittene Forschungsprojekte. Dank immer leistungsfähigeren digitalen Werkzeugen werden wir die unaufhörlich anschwellende Informationsflut auch in Zukunft beherrschen können.
Damit sind diese Informationen jedoch keineswegs gesichert, denn die heutigen digitalen Speicher sind nicht beständig. Magnetbänder, Festplatten und optische Medien können je nach Hersteller, Lagerung und Anwendung schon nach einigen Monaten oder Jahren einen Teil ihrer mechanischen Festigkeit, ihrer Magnetisierung oder ihrer optischen Markierungen verlieren, so dass sie die ihnen anvertraute Information nur selten länger als einige Jahrzehnte sicher bewahren.
Abbildung 2. Eine Seite aus dem Domesday Book von 1085.
Das «Domesday Book», ein 1085 von Wilhelm dem Eroberer in Auftrag gegebenes Reichsgrundbuch, kann in seiner sorgfältig klimatisierten Museumsvitrine in Kew noch heute bewundert werden (Abbildung 2), doch seine digitalisierte Version aus dem Jahre 1986 überdauerte nur zwei Jahrzehnte.
Sinkende Schiffe
Bedrucktes säurefreies Papier oder herkömmliche Mikrofilme können zwar Jahrhunderten trotzen, sind jedoch für die Speicherung, Übertragung und Analyse digitaler Informationen wenig geeignet. Auf der Suche nach beständigen Speichern versucht man derzeit, analoge oder digitale Daten mit einem feinen Strahl elektrisch geladener Atome auf hochbeständige Metalloberflächen zu gravieren, als winzige Eisenkristalle in ebenso winzigen Röhrchen aus reinem Kohlenstoff zu fixieren oder in Form geordneter Silberkörner auf neuartigen Mikrofilmen zu speichern.
Doch bis diese Technologien ausgereift sind, müssen wir unsere gespeicherten Informationen unablässig durch Umkopieren «auffrischen» – und so gleichsam von einem sinkenden Schiff auf ein anderes umladen, das ebenfalls bald sinken wird. Doch selbst beständige Speicher würden Informationen nicht langfristig sichern, da zukünftige Computer sie nicht mehr lesen könnten. Schon heute wissen unsere Computer mit zehn bis zwanzig Jahre alten Datenträgern nichts mehr anzufangen. Sollen wir gespeicherte Daten laufend in die neuesten Formate umschreiben, jeweils in das für sie gültige Betriebs- und Leseprogramm «verpacken» oder gar Archive alter Computer, Lesegeräte und Betriebssysteme anlegen? Und welche Bibliothek könnte sich dies wohl leisten?
Auch der wachsende Energiehunger unserer Speichersysteme gibt Anlass zur Sorge. Das Ausmass dieses Problems ist noch umstritten, denn die Betreiber grosser Datenspeicher halten Typ und Energieverbrauch ihrer Geräte streng geheim. In den USA verbrauchen solche Speicher mit Kühlung und Beleuchtung heute etwa ein Prozent der gesamten Elektrizität; und Computer, Bildschirme sowie das Internet dürften diesen Anteil auf das Mehrfache erhöhen. Vielleicht ist dies nur ein Anfang – schliesslich beansprucht unser Gehirn nicht weniger als ein Fünftel unserer Körperenergie. Allerdings liefert es sich diese selbst und atmet deshalb intensiver als andere Gewebe unseres Körpers.
Wissen erschafft uns
Information bereichert uns jedoch nur, wenn wir sie zu Wissen veredeln und dieses an kommende Generationen weitergeben. Um die Zukunft unserer Kultur zu sichern, genügt es also nicht, zukunftssichere Speicher zu entwickeln. Es gilt vor allem, immer wieder schöpferische Menschen zu suchen und zu fördern, die das Gemeinsame scheinbar zusammenhangloser Informationen intuitiv erkennen und so neues Wissen schaffen oder überliefertes Wissen als falsch erkennen. Dank ihnen schlummert gespeichertes Wissen nie friedlich, sondern entwickelt sich unablässig nach Gesetzen, die sich unserem Einfluss entziehen.
Wohin wird dieses Wissen uns noch treiben?
Was Jean-Paul Sartre über den Krieg sagte, gilt auch für Wissen: Nicht wir erschaffen Wissen – Wissen erschafft uns. Könnte dies der Grund sein, weshalb heute eine vergoldete Scheibe in sechzehn Milliarden Kilometern Ferne durch die Weiten des Universums zieht?
Weiterführende Links
Die Webseite der NASA - Voyager-Mission (englisch)