Alkoholkonsum: Gibt es laut WHO keine gesundheitlich unbedenkliche Menge?
Alkoholkonsum: Gibt es laut WHO keine gesundheitlich unbedenkliche Menge?So, 04.08.2024— Inge Schuster
Eine neue Metaanalyse widerspricht der weit verbreiteten Annahme, dass mäßiger Alkoholkonsum zu einem gesünderen und längeren Leben führt. Demnach hatte die Gruppe der wenig bis mäßig Alkohol Trinker keinen gesundheitlichen Vorteil gegenüber der abstinenten Gruppe gezeigt. Allerdings hat der Vergleich ein Manko: Auch wenn keine alkoholischen Getränke konsumiert werden, ist Ethanol ein (natürlicher) Bestandteil der menschlichen Nahrungsmittel und wird darüber hinaus auch endogen durch Mikroorganismen im Darm erzeugt. Die Abstinenzler nahmen wahrscheinlich auch mehrere Gramm Alkohol täglich über die Nahrung zu sich, gehörten also ebenfalls in die Gruppe der wenig bis mäßigen Alkoholtrinker.
A glass wine the day keeps the doctor away
Diese auf zahlreichen Untersuchungen basierende alte Volksweisheit scheint ausgedient zu haben.
Bereits im Jänner 2023 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO im Fachjournal The Lancet Public Health eine Erklärung veröffentlicht, deren Fazit lautet: "Beim Alkoholkonsum gibt es keine gesundheitlich unbedenkliche Menge" {1]. Und die WHO argumentiert dies mit: "Es wurden die mit Alkoholkonsum verbundenen Risiken und Schäden über die Jahre systematisch evaluiert und sind hinreichend dokumentiert." Dies gilt laut WHO insbesondere für die cancerogenen Eigenschaften des Ethanols: "Mit steigendem Alkoholkonsum erhöht sich das Krebsrisiko erheblich. Die neuesten verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass die Hälfte der dem Alkohol zurechenbaren Krebsfälle in der Europäischen Region der WHO durch „leichten“ bis „moderaten“ Alkoholkonsum – weniger als 1,5 Liter Wein oder 3,5 Liter Bier oder 450 Milliliter Spirituosen pro Woche – verursacht werden" [1].
Eine vor wenigen Tagen erschienene (allerdings bereits seit Anfang des Jahres online verfügbare) neue Untersuchung geht nun als Topmeldung durch alle Medien und unterstützt offensichtlich die Erklärung der WHO. Eine kanadische Forschergruppe unter Tim Stockwell (vom Canadian Institute for Substance Use Research) hat eine Metaanalyse von insgesamt 107 veröffentlichten Studien über Trinkgewohnheiten und Langlebigkeit durchgeführt und festgestellt, dass nur in den Studien von "minderer Qualität" ein Zusammenhang von leichtem bis mäßigem Alkoholkonsum und gesundheitsfördernder Wirkung gefunden wurde [2]. Als leicht bis mäßig wurde dabei ein Konsum zwischen einem Drink pro Woche und 2 Drinks täglich angesehen, entsprechend einer täglichen Dosis von 1,3 g bis 20 g reinem Ethanol. Der wesentliche Kritikpunkt in den von den Autoren als qualitativ schlechter eingestuften Studien war, dass ältere Teilnehmer (>56 Jahre alt), die aus gesundheitlichen Gründen auf Alkohol verzichtet hatten, als Abstinenzler den moderaten Trinkern gegenübergestellt worden waren." Die Autoren der Studie folgern: "Scheinbare gesundheitliche Vorteile können immer wieder durch Studien erzeugt werden, bei denen die Referenzgruppe der Abstinenzler in Richtung eines schlechten Gesundheitszustands verzerrt wird. Die relativ wenigen veröffentlichten Studien, die minimale Qualitätskriterien erfüllen, um dieses Problem zu vermeiden, zeigen kein signifikant geringeres Sterberisiko für Trinker mit niedrigem Konsum [2]."
Ist Abstinenz gleichbedeutend mit Null Alkoholkonsum?
Dies kann mit Sicherheit verneint werden, da in vielen Nahrungsmitteln des täglichen Konsums Alkohol - wenn auch in geringen Konzentrationen - enthalten ist. Alkohol entsteht ja auf natürliche Weise durch Gärung in Zucker und/oder Stärke enthaltenden Produkten - überall dort, wo Hefen oder andere Mikroorganismen hingelangen oder im Produktionsprozess zugesetzt werden. Dies ist bei Früchten und Fruchtsäften der Fall, ebenso bei der Herstellung von vergorenen Nahrungsmitteln wie u.a. Joghurt, Kefir, Essig, Gemüse, Sojasauce oder von Backwaren aus Hefeteig. Alkohol wird in kleinen Mengen auch bei der Herstellung von Fertigprodukten zugesetzt z.B. als Trägerstoff für Aromen oder als Konservierungsmittel (und braucht dann nicht als Inhaltsstoff angegeben werden). Als geschmacksgebende Zutat findet sich Alkohol in diversen Kuchen, Süßigkeiten, Eis, Milchbrötchen, etc., ebenso wie in vielen Fertigsuppen, Fertiggerichten, Saucen und Salatdressings - bei verpackten Produkten findet sich dann der Hinweis darauf auf dem Etikett im Kleingedruckten, bei offen verkauften Waren (z.B. in Bäckereien, Konditoreien) und in Restaurants fehlen solche Hinweise.
Bei Getränken muss Alkohol nur deklariert werden, wenn mehr als 1,2 Volumenprozent enthalten sind. Getränke mit weniger als 0,5 Volumenprozent dürfen sogar als „alkoholfrei“ beworben werden, etwa Biere oder Bier-Mixgetränke wie Radler. Dazu gehören auch die bei Kindern beliebten Malzbiere.
Konkrete Angaben zum Alkoholgehalt von Lebensmitteln sind in der publizierten Literatur nur spärlich zu finden und weisen zudem große Variabilität auf. Beispielsweise bei Fruchtsäften: Je nachdem ob vor der Pressung Obst schon leicht zu gären begonnen hat, enthalten Fruchtsäfte mehr oder weniger Alkohol, werden diese nach Öffnung noch gelagert, so kann der Alkoholgehalt massiv ansteigen. Kürzlich hat das Bayrische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) im Rahmen eines Schwerpunktprojekts den Ethanolgehalt in über 1200 marktüblichen, potentiell alkoholhaltigen Lebensmitteln untersucht [3]. Eine Zusammenstellung der Daten nach Produktgruppen in der nebenstehenden Tabelle zeigt die jeweilig gemessenen Minima und Maxima, die bis um das Tausendfache variieren können.
Detaillierte Angaben zu einzelnen häufig konsumierten Produkten rücken vor allem zwei Hefeteigbackwaren in den Vordergrund: Brioche (Croissant) mit einem Alkoholgehalt von 1,21 g/100g und Burger-Brötchen mit 1,28 g/100g [4]. Pizza enthält auch nach dem Backvorgang bei hoher Temperatur noch Alkohol (LGL-Messung: 0,15 g/100 g).
Welche Alkoholmenge kann nun eine abstinente Person nur über die Nahrung zu sich nehmen?
Dazu ein Zahlenbeispiel: Nehmen wir an ein Erwachsener beginnt den Tag mit 2 Croissants zum Frühstück oder isst zwei Burger-Brötchen zu Mittag, trinkt über den Tag verteilt 1 l Fruchtsaft oder Erfrischungsgetränk und verzehrt 2 überreife Bananen, so schlägt dies schon mit rund 4 g Alkohol zu Buche. Mit sogenannten alkoholfreien Getränken und mit in Süßwaren, Saucen und Fertiggerichten verstecktem Alkohol kann sich der Alkoholkonsum noch wesentlich erhöhen. Restaurantbesuche sind hier noch nicht berücksichtigt.
Ein derartiger Konsum fällt in der oben erwähnten Metaanalyse aber bereits unter die Definition "leichter bis mäßiger Alkoholkonsum (1,3 - 20 g Alkohol/Tag)" [2].
Alkohol entsteht auch durch die Tätigkeit der Mikroorganismen im Darm
Ethanol ist nicht nur in vielen Lebensmitteln enthalten, es wird auch bei fast allen Menschen im Darm, vor allem im proximalen Colon erzeugt: Ein weites Spektrum von dort ansässigen Bakterien und Pilzen fermentiert für uns unverdaubare Kohlenhydrate - Ballaststoffe, Cellulose, Hemicellulose, Pektin, etc. Neben kurzkettigen Fettsäuren entsteht auch Ethanol und CO2 [5, 6].
Führt Alkohol in Maßen genossen also nicht zu einem längeren und gesünderen Leben?
Dies lässt sich - meiner Meinung nach - aus der neuen Metaanalyse nicht klar beantworten. Es hatte die Gruppe der leicht bis moderat Trinkenden (1,3 bis 20 g Alkohol/Tag) zwar keine gesundheitlichen Vorteile gegenüber der Referenzgruppe der Abstinenzler erkennen lassen, allerdings nahmen Letztere wahrscheinlich auch mehrere Gramm Alkohol täglich über die Nahrung zu sich, gehörten also ebenfalls in die Gruppe der wenig bis mäßigen Alkoholtrinker. Es wurden also zwei zu wenig unterschiedliche Gruppen verglichen.
Alkohol über die Nahrung aufzunehmen ist in vielen Fällen unvermeidlich und die Menschheit ist seit alters her daran gewöhnt damit und auch mit der endogenen Alkohol-Produktion im Darm umzugehen. Wir verfügen über mehrere Enzymsysteme (Alkoholdehydrogenasen, CYP2E1, Katalase und Aldehyd-Dehydrogenasen) die - solange sie nicht überlastet oder gestört sind - Ethanol effizient und schnell zu unschädlichen Produkten abbauen. Bessere Kenntnisse über diese Abwehrsysteme könnten auch eine Revidierung der WHO-Erklärung "Beim Alkoholkonsum gibt es keine gesundheitlich unbedenkliche Menge" ermöglichen.
[1] WHO: Beim Alkoholkonsum gibt es keine gesundheitlich unbedenkliche Menge . Press release, 04-01.2023. https://www.who.int/europe/de/news/item/28-12-2022-no-level-of-alcohol-consumption-is-safe-for-our-health.
[2] Tim Stockwell et al., Why Do Only Some Cohort Studies Find Health Benefits From Low-Volume Alcohol Use? A Systematic Review and Meta-Analysis of Study Characteristics That May Bias Mortality Risk Estimates. Journal of Studies on Alcohol and Drugs, 85(4), 441–452 (2024). doi:10.15288/jsad.23-00283. (Published Online: January 30, 2024)
[3] Bayrische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit: Versteckter Alkohol in Lebensmitteln. https://www.lgl.bayern.de/lebensmittel/warengruppen/wc_32_alkoholfreie_getraenke/jb22_alkohol_lebensmittel.htm.
[4] Gorgus, E., Hittinger, M., & Schrenk, D. (2016). Estimates of ethanol exposure in children from food not labeled as alcohol-containing. Journal of analytical toxicology, 40(7), 537-542.
[5] Ivan Šoša (2023).The Human Body as an Ethanol-Producing Bioreactor—The Forensic Impacts. Fermentation, 9, 738. https://doi.org/10.3390/fermentation9080738.
[6] George T. Macfarlane and Sandra Macfarlan (2012). Bacteria, Colonic Fermentation, and Gastrointestinal Health. Journal of AOAC International Vol. 95, No. 1, DOI: 10.5740/jaoacint.SGE_Macfarlane.