Schöpfer Zufall — Wie chemische Zufallsprozesse dem Leben Vielfalt schenken

Fr, 14.02.2014 - 06:35 — Gottfried Schatz

Icon BiologieGottfried SchatzZufälle und Fehler beim Kopieren des Erbguts schaffen biologische Varianten, aus denen im Lauf der Evolution immer komplexeres Leben entsteht. Zufällige, nicht vorhersagbare chemische Reaktionen einiger Moleküle können die Erscheinung und das Verhalten eines Lebewesens beeinflussen. Zufälle und Fehler sind Quellen des Neuen, ohne sie wären wir alle noch Bakterien.

Unser Biologielehrer war ein romantischer Naturfreund, für den die lebendige Natur vollkommen war. Sein Credo lautete: «Das Leben ist immer im Gleichgewicht.» Wenn ich heute an ihn denke, erinnert er mich an den deutschen Archäologen und Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), für den Kunst und Philosophie der alten Griechen von «edler Einfalt und stiller Grösse» waren. Als dann aber im Jahre 1872 Friedrich Nietzsche das dionysisch Dunkle in der griechischen Kultur aufzeigte, hatten Charles Darwin und Alfred Wallace auch das Leben bereits seiner Idylle beraubt und als ein gnadenloses Schlachtfeld entlarvt.

Das Leben ist mit seinem Umfeld nie im Gleichgewicht. Es ist so erfolgreich, weil es nie vollkommen ist. Versucht eine Lebensform sich an ihr Umfeld anzupassen, verändert sie es – und muss sich erneut anpassen. Dieses nie endende Streben nach Anpassung zeugt die biologischen Varianten, aus denen die Evolution immer komplexeres Leben schafft. Die Schnelligkeit, mit der ihr dies gelingt, war lange ein Rätsel. Wie entstehen die Varianten, mit denen die Evolution spielt?

Kopieren und überwachen

Die wichtigste Quelle sind Fehler beim Kopieren des Erbmaterials. Wenn sich Zellen vermehren, teilen sie sich in zwei Tochterzellen und kopieren dabei auch ihr Erbmaterial, um jeder Tochterzelle ein vollständiges Exemplar mitzugeben. DNA-Moleküle sind lange Fäden, in denen vier verschiedene chemische Buchstaben in wechselnder Reihenfolge aneinandergekettet sind. Die Buchstabenfolge beschreibt das genetische Erbe des Lebewesens; jeder Kopierfehler kann somit eine erbliche Veränderung – eine «Mutation» – bewirken. Der Kopiervorgang ist für die Zelle eine gewaltige Herausforderung, enthält doch jede menschliche Körperzelle 6,4 Milliarden DNA-Buchstaben. Noch dazu ist jeder DNA-Strang mit einem Partnerstrang verdrillt, der die gleiche Information in spiegelbildlicher Form trägt.

Um einen DNA-Doppelstrang zu kopieren, «entdrillt» ihn die Kopiermaschine der Zelle, fertigt von jedem der beiden Einzelstränge eine spiegelbildliche Kopie an und überwacht den Kopiervorgang gleich dreifach: Zunächst holt sie sich aus dem Zellsaft den entsprechenden chemischen Buchstaben und prüft, ob er der richtige ist. Ist er es nicht, verwirft sie ihn und wiederholt die Suche. Hat sie dann den ausgewählten Buchstaben an die wachsende Kopie angeheftet, prüft sie ihn nochmals – und wenn er sich als falsch erweist, trennt sie ihn wieder ab und beginnt von vorne. Hat sie auf diese Weise mehrere Buchstaben kopiert, vergewissert sie sich ein drittes Mal. Entdeckt sie einen falschen Buchstaben, schneidet sie ihn heraus und ersetzt ihn durch den richtigen. Nach dem ersten Prüfschritt ist immer noch jeder hunderttausendste Buchstabe falsch, nach den beiden weiteren Schritten nur mehr ein Buchstabe unter 100 bis 200 Millionen. Bei 6,4 Milliarden Buchstaben schleichen sich dennoch Dutzende von Fehlern ein. Die meisten sind für die Tochterzelle ohne Folgen, doch einige verändern sie und verwandeln sie in eine biologische Variante.

Zellen könnten die Fehlerrate beim Kopieren ihres Erbguts noch weiter senken. Sie tun dies aber nicht, weil der Kopiervorgang dann zu langsam wäre, zu viel Energie erforderte und zu wenig neue Varianten schüfe. Es ist für Zellen manchmal von Vorteil, die Fehlerquote beim Kopieren ihrer DNA sogar zu erhöhen. Wenn ein krankheitserregendes Bakterium in unseren Körper eindringt, muss es sich gegen unsere Antikörper und Fresszellen wehren, die sich gegen seine Oberfläche richten. Bakterien haben deshalb gelernt, diese schnell zu verändern: Gene für Oberflächenproteine verwirren die DNA-Kopiermaschine des Bakteriums, so dass sie mindestens zehnmal mehr Fehler macht als bei anderen Genen. Dies erhöht die Chance, dass sich unter den eindringenden Bakterien auch eine Mutante findet, deren Oberfläche das Immunsystem übersieht. Dank dieser Tarnkappe überlebt die Mutante und sichert den Erfolg der Infektion.

Der Erreger der afrikanischen Schlafkrankheit, das einzellige Tierchen Trypanosoma brucei, hat diese Tarnkappenstrategie zur hohen Kunst entwickelt: Es ändert seine Oberfläche ohne Unterlass, indem es bereits vorgefertigte Genstücke wie in einem Legospiel untereinander austauscht. Infiziert es uns, muss unser Immunsystem gegen eine stets wechselnde Oberfläche ankämpfen, wobei der Parasit stets einen Schritt voraus ist. Aber auch das Immunsystem «weiß» um die schöpferische Kraft des Zufalls. Es verfügt zwar nur über eine begrenzte Zahl von Genen, kann diese jedoch virtuos nach dem Zufallsprinzip neu aufmischen und, ähnlich pathogenen Bakterien, durch Kopierfehler verändern. So entlockt es diesen Genen ein praktisch unbegrenztes Arsenal verschiedener Immunproteine.

Lawinenartige Entwicklung

Schnell veränderliche «Anpassungsgene» lassen sich deshalb nicht genau kopieren, weil sie mehrmals wiederholte Buchstabenfolgen enthalten, welche die DNA-Kopiermaschine zum «Stottern» bringen. Stotternd gefertigte Genkopien sind dann entweder inaktiv oder, falls die Vorlage inaktiv war, reaktiviert. Auf diese Weise können in erstaunlich kurzer Zeit neue Lebensformen entstehen: Die Hundezucht schuf in nur 150 Jahren eine grosse Vielfalt von Hunderassen, wobei viele der auffälligsten Merkmale wie Schnauzen- oder Pfotenform mit Veränderungen in «Adaptationsgenen» einhergehen. Solche Gene könnten auch erklären, weshalb im Verlauf der Erdgeschichte neue Lebensformen oft explosionsartig auftraten.

Kopierfehler und Austausch von Genstücken sind jedoch nicht die einzigen «Werkzeuge», mit denen das Leben Vielfalt schafft. Es benützt auch den Zufall, der chemische Reaktionen zwischen einer kleinen Zahl von Molekülen prägt. Viele Schlüsselmoleküle – wie Gene oder Proteine, die Gene lesen – sind in einer Zelle in so geringer Stückzahl vorhanden, dass ihre chemischen Reaktionen nicht mehr den statistischen Gesetzen der Chemie, sondern dem Zufall gehorchen. Anstatt vorhersagbarer und graduell abgestufter Resultate gibt es dann nur noch zufällige und nicht vorhersagbare Ja-Nein-Entscheide: Das Molekül reagiert – oder es reagiert nicht. Werden solche «binären» Zufallsentscheide lawinenartig verstärkt, können sie irreversibel werden und die Entwicklung oder das Verhalten eines Lebewesens langfristig prägen. Ein Beispiel dafür wäre eine Balkenwaage, deren Waagschalen durch zwei mit einem Schlauch verbundene Wasserflaschen ersetzt sind. Solange diese Flaschen gleich viel Wasser enthalten, sind sie im Gleichgewicht. Hebt jedoch ein zufälliger Windstoss eine der beiden Flaschen kurzfristig leicht hoch, gibt sie sofort Wasser an die andere ab, worauf diese immer schneller und schliesslich unwiderruflich absinkt. Die winzige Zufallsschwankung hat ein stabiles Ungleichgewicht bewirkt.

Ein molekulares Rauschen

Zellen verwenden verschiedene Strategien, um chemische Zufallsschwankungen zu verstärken und zu fixieren. Bakterien stellen damit sicher, dass die Mitglieder einer hungernden Kolonie nicht gleichzeitig, sondern verzögert und in zufälliger Reihenfolge sterben, wobei die toten Zellen den noch lebenden als Nahrung dienen. So erhöht sich die Chance, dass einige Zellen überleben, wenn plötzlich wieder Nahrung verfügbar wird. Aus ähnlichen Gründen sind genetisch identische Flachwürmer, die unter genau gleichen Bedingungen aufgezogen wurden, nicht identisch: Sie reagieren verschieden auf Umweltreize oder Gifte und leben auch verschieden lange. Fixierte Zufallsentscheide können somit zu unterschiedlichen Erscheinungsformen eines Lebewesens führen, selbst wenn Gene und Umwelt gleich bleiben.

Zufälle spielen auch bei der Entwicklung höherer Tiere eine Rolle. Die Nase einer Maus ist mit etwa tausend verschiedenen Duftsensoren bestückt, wobei jede geruchsempfindliche Nervenzelle nur einen einzigen Sensortyp trägt; hätte sie deren mehrere, würde sie das Gehirn mit widersprüchlichen Geruchsmeldungen verwirren. Bei ihrer Entwicklung wählt jede Zelle einen der tausend Duftsensoren rein zufällig aus und unterdrückt dann die Bildung aller anderen. So muss die Zelle nicht jedes Sensorgen eigens steuern. Ähnliches gilt für die Rot- und Grünsensoren unserer Netzhaut: Die farbempfindlichen Zapfen entscheiden sich bei ihrer Entwicklung zufällig entweder für den Rot- oder den Grünsensor und unterdrücken dann die Bildung des anderen Sensors.

Zufällige und nicht vorhersagbare chemische Reaktionen einiger Moleküle können somit die Erscheinung und das Verhalten eines Lebewesens beeinflussen. Um dieses molekulare Rauschen im Griff zu behalten, setzen Zellen molekulare Rauschfilter ein. Dank ihnen verläuft die Entwicklung eines Lebewesens meist höchst präzise. Gelegentlich ist es für Zellen jedoch von Vorteil, ihr molekulares Rauschen nicht zu dämpfen, sondern zu verstärken. In seinem Streben nach Vielfalt scheut das Leben keine Möglichkeit, um Erbinformation auf verschiedene Weise zu interpretieren.

Zufälle und Fehler sind Quellen des Neuen; wer sie rigoros unterdrückt, wird wenig Neues schaffen. Dies gilt auch für menschliche Gemeinschaften, in denen nackte Gewalt, starre Dogmen oder «political correctness» das Denken knebeln. Die lebendige Natur sollte uns hier ein Beispiel sein: Hätte sie Zufälle und Fehler gescheut, wären wir alle noch Bakterien.


Weiterführende Links

Artikel im ScienceBlog

The Double Helix: Aufklärung der Struktur durch Crick & Watson, alte Archivaufnahmen und Interviews; 16:53 min