Wird die künstliche Intelligenz helfen können, schwere Erdbeben vorherzusagen?

Wird die künstliche Intelligenz helfen können, schwere Erdbeben vorherzusagen?

Do, 04.01.2024 — Redaktion

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Icon Geowissenschaften

Das Beben der Stärke 7,5 in Japan unterstreicht die Notwendigkeit von Erdbebenvorhersagen - eine Wissenschaft, die ihren "unseriösen" Ruf ablegt und sich der Realität annähert. Ein neuer Ansatz, Erdbeben mit Hilfe künstlicher Intelligenz vorherzusagen, hat Hoffnungen geweckt, dass die Technologie eines Tages eingesetzt werden könnte, um die Auswirkungen von Erdbeben auf Leben und Wirtschaft zu begrenzen. Der von Forschern der University of Texas in Austin entwickelte KI-Algorithmus hat während eines siebenmonatigen Versuchs in China 70 % der Erdbeben eine Woche vor ihrem Auftreten korrekt vorhergesagt.*

In Japan begann das neue Jahr mit einer Katastrophe: Am Montag, dem 1. Jänner erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,5 die Halbinsel Noto im Westen des Landes. Dutzende weiterer Nachbeben, viele mit einer Stärke zwischen vier und sechs, erschütterten in den folgenden Stunden die Umgebung des Epizentrums an der Küste, und Wissenschaftler warnen, dass in den kommenden Tagen noch weitere Beben erwartet werden. Die Japan Meteorologic Agency gab für weite Teile der Präfektur Ishikawa, in der sich das Beben ereignete, eine Tsunami-Warnung heraus, hat diese aber inzwischen auf eine Empfehlung reduziert. Bis Dienstagnachmittag wurde bestätigt, dass mindestens 55 Menschen ums Leben gekommen sind.

Japan ist mit mehr als 2 000 aktiven Verwerfungslinien eines der erdbebengefährdetsten Länder der Welt und hat eine lange Reihe tragischer Erdbeben hinter sich. Daher hat Japan, wie viele andere gefährdete Länder, in den letzten Jahrzehnten massiv in katastrophensichere Gebäude und Erdbebenwarnsysteme investiert.

Vorhersage des Zeitpunkts eines Bebens.....

Im Mittelpunkt der Erdbebenvorsorge steht jedoch der wohl umstrittenste Forschungsbereich: die Vorhersage des Zeitpunkts eines Bebens. Viele Wissenschaftler haben die Vorhersage von Erdbeben lange Zeit für unmöglich gehalten - oder sie sind ihr bestenfalls mit äußerst verhaltenem Optimismus näher gekommen. Abbildung 1.

Abbildung 1.Die Market Street in San Francisco nach dem katastrophalen Erdbeben - Friscobeben - im Jahr 1906. Mehr als 3000 Menschen starben. (Foto: gemeinfrei)

Noch im Jahr 2013 "galt das Thema Erdbebenvorhersage als unseriös und lag so außerhalb des Bereichs der Mainstream-Forschung wie die Jagd nach dem Ungeheuer von Loch Ness", schreibt die Seismologin Allie Hutchison im Fachjournal MIT Technology Review [1]. Und der U.S. Geological Survey (USGS) behauptet, dass "weder der USGS noch andere Wissenschaftler jemals ein großes Erdbeben vorhergesagt haben" [ 2] .

Angesichts der jüngsten Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz haben jedoch einige Forscher untersucht, ob sich dies ändern könnte. "Ich kann nicht sagen, dass wir das ändern werden, aber ich bin viel zuversichtlicher geworden, dass wir in den nächsten Jahrzehnten große Fortschritte machen werden. Ich habe jetzt mehr Hoffnung als je zuvor.", hat Paul Johnson im Jahr 2019 dem Smithsonian Magazine berichtet; Johnson ist ein Seismologe, der am Los Alamos National Laboratory mit maschinellem Lernen arbeitet [3].

.....erste Vorhersagen mit Hilfe von KI

Im vergangenen Herbst haben Forscher der University of Texas in Austin solchen Hoffnungen für die Erdbebenvorhersage mit einem siebenmonatigen Versuch in China neue Nahrung gegeben. In ihrer Studie, die im September im Bulletin of the Seismological Society of America veröffentlicht wurde, hat ein KI-Algorithmus 70 Prozent der Erdbeben eine Woche vor ihrem Auftreten korrekt voraus gesagt [4 ]. Das Team hat die künstliche Intelligenz anhand von seismischen Aufzeichnungen aus fünf Jahren (2016 - 2020; Anm. Redn.) trainiert und dann von ihr verlangt, bevorstehende Beben anhand der aktuellen seismischen Aktivität zu lokalisieren.

Insgesamt konnte der Algorithmus 14 Erdbeben vorhersagen, die jeweils weniger als 200 Meilen von ihrem tatsächlichen Epizentrum entfernt waren. Ein Beben wurde hingegen übersehen und acht vorhergesagt, die aber nicht stattfanden. Abbildung 2.

Abbildung 2. Die Karte zeigt die Lage der von der KI vorhergesagten Erdbeben in China (blaue Punkte), die durch eine rote Linie mit dem Ort verbunden sind, an dem das jeweilige Erdbeben tatsächlich stattfand (rote Punkte). Die Zahlen geben die Woche an, in der das Erdbeben stattfand. Während des 30-wöchigen Versuchs verpasste die von der UT Austin entwickelte KI nur ein Erdbeben. (Bild © Yangkang Chen / Jackson School of Geosciences)

Die Studie war Teil eines internationalen KI-Wettbewerbs, einer der wenigen Veranstaltungen dieser Art, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden, um Technologien zur Erdbebenvorhersage voranzubringen [5].

"Die Vorhersage von Erdbeben ist der heilige Gral", sagt Sergey Fomel, Geowissenschaftler an der UT Austin und Mitglied des Forschungsteams, in einer Erklärung. "Wir sind noch nicht so weit, dass wir Vorhersagen für die ganze Welt machen können, aber das, was wir erreicht haben, zeigt uns, dass das, was wir für ein unmögliches Problem hielten, im Prinzip lösbar ist."

Möglichkeiten der KI

"Darüber hinaus könnte maschinelles Lernen Seismologen dabei helfen, verborgene Muster in Daten zu erkennen oder mehr Daten zu sammeln, um die Erdbebenvorhersage zu verbessern", schreibt Hutchison im MIT Technology Review. Einige Forscher zeigen zum Beispiel, wie die KI Aufzeichnungen von einem bestimmten seismischen Ort nutzen könnte, um die Stärke eines Erdbebens vorherzusagen. Ein Team hat neuronale Netzwerke entwickelt und trainiert, um vorherzusagen, wo nach einem Erstbeben Nachbeben auftreten könnten. Andere setzen maschinelles Lernen ein, um seismische Wellen - die Vibrationen, die sich bei tektonischen Aktivitäten durch die Erde ausbreiten - zu erkennen und aus einer verrauschten Aufzeichnung anderer Erschütterungen im Boden zu extrahieren.

Laut der Focus Group on A.I. for Natural Disaster Management der Weltorganisation für Meteorologie machen Erdbeben 21,8 Prozent aller Naturkatastrophen aus, bei denen zwischen 2018 und 2021 KI-Modelle zur Risikominderung eingesetzt wurden. Die zunehmende Forschung im Bereich der Erdbebenvorhersage weckt die Hoffnung der Wissenschaftler, dass weitere Durchbrüche möglich sind.

"Es gibt in unserer Gemeinschaft eine große Skepsis, und das aus gutem Grund", sagt Johnson gegenüber MIT Technology Review. "Aber ich denke, dass uns dies erlaubt, Daten zu sehen, zu analysieren und zu erkennen, was diese Daten enthalten, in einer Weise wie wir uns es nie hätten vorstellen können."


 [1] Allie Hutchison: How machine learning might unlock earthquake prediction. https://www.technologyreview.com/2023/12/29/1084699/machine-learning-earthquake-prediction-ai-artificial-intelligence/

[ 2 ] USGS: Can you predict earthquakes? https://www.usgs.gov/faqs/can-you-predict-earthquakes

[3] M.Berger: Could Machine Learning Be the Key to Earthquake Prediction? https://www.smithsonianmag.com/science-nature/could-machine-learning-be-key-earthquake-prediction-180972015/)

[4] O.M. Saad et al., Earthquake Forecasting Using Big Data and Artificial Intelligence: A 30‐Week Real‐Time Case Study in China. Bulletin of the Seismological Society of America (2023) 113 (6): 2461–2478. https://doi.org/10.1785/0120230031

[5] AETA Earthquake Prediction AI Algorithm Competition 2021. https://competition.aeta.io/


 *Der vorliegende Artikel von Christian Thorsberg ist unter dem Titel "Could A.I. Help Seismologists Predict Major Earthquakes?

https://www.smithsonianmag.com/smart-news/ai-help-seismologists-predict-major-earthquakes-180983519/ am 2. Jänner 2024 im Smithsonian Magazin erschienen. Der Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu übersetzt.

Smithsonian Institution (Smithsonian, https://www.si.edu/) ist eine bedeutende US-amerikanische Forschungs- und Bildungseinrichtung, die auch zahlreiche Museen, Galerien und den Nationalzoo betreibt. Das Smithsonian stellt seine komplette Sammlung nach und nach in elektronischer Form (2D und teilweise 3D) unter der freien CC-0-Lizenz kostenlos zur Weiterverbreitung zur Verfügung. Das Smithsonian Magazine (aus dem der obige Artikel stammt) bringt eine Fülle faszinierender, leicht verständlicher Artikelaus allen Bereichen der Natur und der Gesellschaften. https://www.smithsonianmag.com/?utm_source=siedu&utm_medium=referral&utm_campaign=home.


Anmerkungen der Redaktion:

  • Die Meinung der NASA zur Erbebenvorhersage

     "Daher möchte natürlich jeder wissen, ob Wissenschaftler Erdbeben vorhersagen können. Die kurze Antwort lautet nein. Aktuelle Smartphone-Apps können nur wenige Sekunden vor einem bestimmten Gebiet warnen, und Wissenschaftler können die Wahrscheinlichkeit abschätzen, dass eine Verwerfung irgendwann in den nächsten Jahrzehnten ausbricht, aber niemand kann genau vorhersagen, wann ein Erdbeben stattfinden wird":

      NASA Understanding Earthquakes: https://www.jpl.nasa.gov/topics/-earthquakes

  • EU-Project (2021 - 2026):

     Das EU-finanzierte Projekt EARLI wird KI einsetzen, um schwache, frühe seismische Signale zu erkennen und so die Frühwarnung voranzubringen sowie Möglichkeiten der Erdbebenprognose zu erforschen:

    Detection of Early seismic signal using ARtificiaL Intelligence: https://cordis.europa.eu/project/id/949221/de

  • Eine neue Technologie

    Am Center for High Energy Geophysics Research des Earthquake Research Institute (University of Tokyo) wird die Vulkanmyografie eingesetzt, ein neuer Ansatz für die Erforschung von Vulkanologie und Naturkatastrophen. Es ist eine Visualisierungstechnik, die sich der Myonen bedient, Elementarteilchen mit einer hohen Durchschlagskraft, die sogar Gestein von mehreren Kilometern Dicke durchdringen und die Dichteverteilung im Inneren massiver Strukturen - beispielsweise die Dynamik der Magma-Konvektion - aufzeigen können.

    Blick ins Innere der Erde mit Hilfe von Elementarteilchen: https://www.u-tokyo.ac.jp/focus/en/features/f_00059.html


 

inge Thu, 04.01.2024 - 01:18