Das Human Brain Project ist nun zu Ende - was wurde erreicht?

Das Human Brain Project ist nun zu Ende - was wurde erreicht?

Do. 09.011.2023— Arvid Leyh

Arvid LeyhIcon Gehirn

Bis zu einer Milliarde Euro war die enorme Summe, welche die EU einem einzigen Projekt der Hirnforschung, dem Human Brain Project (HBP), im Jahr 2013 in Aussicht stellte - einem Flagship-Projekt, einem Aushängeschild der europäischen Forschungsleistung, das 10 Jahre andauern sollte. Das Human Brain Project ist nun zu Ende – und bis zum Ende blieb es umstritten. Mit Ablauf seiner Laufzeit ist das Human Brain Project wieder in den Medien. Meist in der Rückschau, doch tatsächlich werden Teile überdauern. Arvid Leyh, Chefredakteur der Plattform www.dasgehirn.info gibt einen Überblick.*

 

 

 

 

 

 

 

Der Vorlauf: grandios!

In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts war die Hirnforschung der unbestrittene Popstar der Wissenschaft. Die funktionelle Magnetresonanztomographie fMRT lieferte permanent neue Bilder von Areal xy, das bei Aufgabe z beteiligt war; das Bewusstsein war zumindest gefühlt kurz davor, auf neuronale Korrelate festgenagelt zu werden; Computerchips nach Vorbild neuronaler Verschaltungen lagen auf diversen Reißbrettern und sollten die Leistung unserer Rechner revolutionieren. Es gab die Neuropädagogik, das Neuromarketing und sogar eine Neurotheologie. Die mediale Omnipräsenz der Hirnforschung machte nicht zuletzt Hoffnung auf wirksame Therapien für die großen psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen, besonders die Demenzen, die – und das ist auch heute noch so – in den kommenden Jahrzehnten zunehmend mehr Menschen betreffen werden. So war es im Grunde nur konsequent, dass neben der EU auch die USA und Japan ihre Big-Brain - Projekte auf den Weg brachten. Nur der Vollständigkeit halber – 2022 hat China eine eigene, wenn auch inhaltlich bislang unscharfe Version gestartet. Budget: 746 Mio. Dollar.

2013 also startete das Human Brain Project unter der Leitung des prominenten Hirnforschers Henry Markram, der bereits mit dem Blue Brain Project in Lausanne die rund 10.000 Neurone eines winzigen Areals aus dem Rattencortex auf einem Supercomputer simuliert hatte. Dass dabei fantastische Bilder entstanden, die regelmäßig für Schlagzeilen sorgten, hat bei der Vergabe bestimmt nicht geschadet. Dass andererseits Markram selbst im Vorfeld als Berater der EU für genau dieses Flagship-Format tätig war, hatte ein gewisses „G´schmäckle“. Dennoch: Markram schien tatsächlich der richtige Mann zu sein – nicht zuletzt dank seiner datentechnischen Erfahrung im Blue Brain Project.

Und er lieferte der Öffentlichkeit eine fantastische Vision: Diesmal sollte das menschliche Gehirn in seiner Gesamtheit simuliert werden. Eine solche Simulation könnte, wie er in einem TED-Talk im Jahr 2009, 4 Jahre vor Beginn des HBP, spekulierte, womöglich sogar zu eigenem Bewusstsein fähig sein. Zusätzlich sollten neuromorphe Chips die Consumer-Industrie in Europa vorantreiben. Und nicht zuletzt sollte eine Plattform geschaffen werden, die neurowissenschaftliche Daten auch über das HBP hinaus sammeln, bündeln und allgemein verfügbar machen sollte.

Dieser letzte Punkt klingt zwar einfach, doch „Neurowissenschaft“ ist ein Plural – sie besteht aus diversen Disziplinen mit unterschiedlichen Standards, unterschiedlichen Modellen, unterschiedlichem Vokabular. Und vor allem fehlt es schlicht an einer vereinheitlichten Theorie, einem integrierten Modell des Gehirns. Markram hoffte, auf dem Weg auch dieses Problem zu lösen.

Der Start: holprig

So großartig die Vision war, so stockend entwickelte sich die Umsetzung zu Beginn. Zum einen gab es massiven Gegenwind aus der wissenschaftlichen Community selbst: Zu unrealistisch seien die Versprechungen, zu groß die Lücken im bekannten Wissen über Neurone, Netzwerke und Systeme – wie sollten wir das ganze Gehirn verstehen, wenn wir noch nicht einmal einzelne Schaltkreise komplett durchschauen? Ein Großteil der Community fürchtete, dass Versprechungen dieser Größenordnung der Hirnforschung zwangsläufig auf die Füße fallen mussten. Als wir auf der Jahrestagung der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft 2013 die Forscher in Göttingen nach ihrer Meinung fragten, überwog die Skepsis bei Weitem. Daneben gab es auch einen ganz praktischen Grund: Ein großer Teil der Hirnforscher befürchtete, dass mit diesem großen Projekt Forschungsgelder für kleinere Projekte nicht mehr zur Verfügung stehen würden.

Doch auch innerhalb des HBP rumorte es: Da die Drittmittel nicht so freigiebig flossen, wie erwartet, musste von Anfang an gekürzt werden. Das führte zu einer Kollision zwischen der Realität des Machbaren und der Versprechung der groß angelegten Simulation. Viele starke Führungspersönlichkeiten, gleichzeitig in der Verwaltung – wie der Vergabe der Mittel – als auch in der Forschung tätig … Das führte zum Knatsch. Dabei erwies sich Markram als wenig talentierter Diplomat und bereits 2014 gab es einen offenen Brief, der sowohl die Führung als auch die Entscheidungsfindung im HBP massiv kritisierte. Die in der Folge eingesetzte Schlichtungskommission bestätigte die meisten Vorwürfe, Markram wurde abgewählt und das HBP seit 2016 von der Jülicher Neuroanatomin Katrin Amunts geleitet.

Phase II

Mit Katrin Amunts stellte sich das HBP auf neue Füße: strategisch genauso wie strukturell, ruhiger und seriöser im Angang. Die Datentechnik rückte in den Vordergrund, die Simulation wurde ein Werkzeug von vielen, wenn auch weiterhin in zentraler Position. Parallel wurde die kognitive Neurowissenschaft stärker berücksichtigt und das HBP um vier neue Projekte erweitert. Denn im Zentrum stand immer noch das menschliche Gehirn, und die elementaren Ebenen des Molekularen und Zellulären können die Prozesse der großen Netzwerke, wie etwa die Sprache, nicht erklären. Dazu braucht es Forschungsprojekte, die über sämtliche Skalen des Gehirns dessen Funktion untersuchen – hier liegt eine große Herausforderung der Zukunft.

Nach wie vor galt es auch, die vielen verschiedenen Ansätze und Disziplinen der Hirnforschung zusammenzubringen und dazu noch eine gemeinsame Sprache mit den weiteren beteiligten Disziplinen zu finden: Medizin, Informatik, Physik. Denn auch wenn eine vereinheitlichte Theorie noch in weiter Ferne liegt: Ein gemeinsames Modell kann nur entstehen, wenn sich Daten, Methoden und Modelle nahtlos integrieren lassen – auch das eine enorme Herausforderung, die zumindest innerhalb des HBP inzwischen recht gut gelöst wurde.

Das Erbe

aus dem oben erwähnten TED-Talk von 2009 könnte man meinen, das Vorhaben sei krachend gescheitert. Vergleicht man aber den TED-Talk von Markram mit den tatsächlichen Zielen des Projekts zum Start – die technischen Grundlagen für ein neues Modell der IT-gestützten Hirnforschung zu schaffen, die Integration von Daten und Wissen aus verschiedenen Disziplinen voranzutreiben und eine Gemeinschaftsanstrengung zu katalysieren … – wurden viele davon tatsächlich erreicht. Und was die TED-Talks angeht: Auch bei der US-amerikanischen BRAIN-Initiative, nur Tage nach dem HBP durch den damaligen Präsidenten Barak Obama angekündigt, lag die Latte unrealistisch hoch: Der Fluss „jedes Spikes in jedem Neuron“ solle kartiert werden. Im Rückblick ist diese Vorstellung ebenso naiv. Auf der anderen Seite erklärt der Cambridger Neurowissenschaftler Timothy O’Leary in einem bilanzierenden Nature-Artikel, dass ohne eine solche Naivität – genauer: einem „ridiculously ambitious goal“ – das HBP wohl nie gestartet wäre.

Ob es ein Erfolg war oder eher nicht, darüber scheiden sich die Geister. Doch mit der Neuausrichtung wurden Projekte angestoßen, die über das HBP hinausgehen, nicht nur seine DNA in die nächste Phase tragen, sondern sie auch zukunftstauglich unter der Plattform EBRAINS anbieten. Abbildung 1.

Abbildung 1. EBRAINS eine 2021 geschaffene digitale Forschungsinfrastruktur; sie ist öffentlich zugängig, führt Daten, Werkzeuge und Rechenanlagen für die Hirnforschung zusammen und in ihrem Zentrum steht die Interoperabilität . https://www.ebrains.eu/

Dabei handelt es sich um einen gut gefüllten Werkzeugkasten für die Gesamtheit aller Neurowissenschaftler – und einige Tools sind echte Hingucker. Zum Beispiel The Virtual Brain, eine Simulationsplattform von Viktor Jirsa und Fabrice Bartolomei, die aktuell von Chirurgen für die Vorbereitung von Operationen bei Epilepsie-Patienten in einer groß angelegten klinischen Studie getestet wird. Denn gefüttert mit den Daten des Patienten kann sie helfen, die Operationsplanung zu verbessern. Da bei schweren Fällen der Epilepsie der Ausgangsort der pathologischen Gehirnaktivität – der Herd – operativ entfernt werden muss, ist hier eine genaue Planung extrem wichtig. Zu viel oder zu wenig entferntes Gewebe entscheiden über den Erfolg des Eingriffs.

Ein weiteres Erbe des HBP stammt direkt von Katrin Amunts: Der Julich Brain Atlas, entstanden aus 24.000 hauchdünnen Schnitten von 23 menschlichen Gehirnen, die digital wieder zusammengesetzt wurden – umfangreicher und detaillierter als alles Vorherige. Mit ihm folgt sie ihrer Profession als Leiterin des Cécile und Oskar Vogt Instituts für Hirnforschung der Universität Düsseldorf. Ähnlich wie die Vogts mit ihrem berühmten Mitarbeiter Korbinian Brodmann Karten des Cortex entwickelten und bereits im Jahr 1909 entlang der histologischen Unterschiede einzelne Areale identifizierten, hat Amunts etwas entwickelt, was sie als „Google Maps“ für das Gehirn beschreibt: Zum einen lässt sich von der Zellebene aus sowohl in die Tiefen von Genexpression und Molekülen gehen, doch nach oben sind Netzwerke und Areale in erreichbarer Nähe. Abbildung 2.

Abbildung 2. Benutzeroberfläche des interaktiven dreidimensionalen Viewer (siibra-explorer) für den Zugriff auf den Multilevel-Gehirnatlas auf https://atlases.ebrains.eu/viewer. (Bild aus: Zachlod et al. (2023). Biol. Psychiatry 93(5):471-479. Lizenz cc-by)

Fast noch wichtiger ist die Offenheit der EBRAINS Plattform: Alle Daten im Julich Brain Atlas sind öffentlich zugänglich. Forscher können ihre Daten hochladen und sogar eigene Skripte, die diese Daten bearbeiten. Das ist keine „citizen science“, eher eine „community science“, doch in jedem Fall offen für den Ausbau – und genau diese auf professionellem Datenmanagement basierende allgemeine Vergleichbarkeit und Nutzbarkeit ihrer Ergebnisse braucht die Hirnforschung. Neben funktionellen, genetischen und molekularen Daten werden auch die Metadaten wie Autor und DOI erfasst. Der Gedanke ist, die Daten der breiten Community der Hirnforschung zu sammeln und dabei eben auch die Standards in der Breite zu entwickeln, an denen es den unterschiedlichen Disziplinen mangelt.

Ein solcher Atlas hat bereits jetzt praktischen Wert, aber für viele Labore nicht weniger attraktiv dürfte das Angebot sein, über EBRAINS direkten Zugang auf Supercomputer zu bekommen und so datenintensive Aufgaben deutlich schneller zu erledigen, als das im heimischen Labor machbar wäre.

Die Hoffnung

Der Blick auf dieses Erbe entbehrt nicht einer gewissen Ironie: In den letzten Jahren hat das HBP die Grundlage dessen geschaffen, was es am Anfang gebraucht hätte. Denn die Vision von Henry Markram war bei allen Fehlern und Übertreibungen nicht ganz falsch: Eine große Community, eine gemeinsame Sprache, eine tragfähige Theorie des Gehirns, eine gemeinsame Plattform – nichts weniger braucht es, um das Gehirn zu entschlüsseln. Dazu noch der Blick über den Tellerrand des rein Neuronalen – Stichwort Gliazellen; oder die Systeme Herz-Hirn und Darm-Hirn, aber damit wäre die Latte vielleicht etwas zu hoch gehängt. Es wäre zu wünschen, dass die Community sich nicht von der Vergangenheit abschrecken lässt und das Angebot von EBRAINS nutzt, füllt und weiterentwickelt.


 *Der Artikel ist erstmals am 6.November 2023 unter dem Titel "Das Human Brain Project: Rückschau/Vorschau" auf der Website https://www.dasgehirn.info/ erschienen https://www.dasgehirn.info/grundlagen/kommunikation-der-zellen/das-human-brain-project-rueckschauvorschau Mit Ausnahme des Titels und des Abstracts wurde der unter einer CC-BY-NC-SA Lizenz stehende Text unverändert in den Blog gestellt, Abbildung 1 und 2 wurden von der Redaktion eingefügt.

Die Webseite https://www.dasgehirn.info/ ist eine exzellente Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe).


Weiterführende Links

EBRAINS powered by the EU-cofunded Human Brain Project ©2023 ebrains.eu

Human Brain Project - Spotlights on major achievements. https://sos-ch-dk-2.exo.io/public-website-production-2022/filer_public/74/94/74948627-6a92-4bed-91e0-3fab46df511d/hbp_spotlights_achievements_2023.pdf

The path to understanding the brain: Henry Markram at TEDxCHUV (28.06.2012) TED-talk 15:21 min. https://www.youtube.com/watch?v=n4a-Om-1MrQ

Artikel im ScienceBlog


 

 

 

 

 

inge Thu, 09.11.2023 - 18:15