Anders wirtschaften - Wachstumsmodelle und das Problem das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln

Anders wirtschaften - Wachstumsmodelle und das Problem das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln

Do, 01.09.2022 — Caspar Dohmen

Caspar Dohmen

Icon Politik & Gesellschaft

Passt ein Ökonomie-Artikel in den ScienceBlog? Sicherlich, denn ohne neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen werden sich die gravierenden aktuellen Probleme nicht lösen lassen. Im ersten Jahr der Pandemie 2020 ist die Weltwirtschaft wohl geschrumpft, in Deutschland um fünf Prozent. Dennoch ist die globale Wirtschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts exorbitant gewachsen. Hauptursachen waren die Schaffung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, technologische Erfindungen und die Nutzung fossiler Energie. Das hat einen enormen Zuwachs an Wohlstand für viele Menschen ermöglicht. Aber die Nebenwirkungen sind schwer – das zeigen unter anderem die Klimakrise und das Artensterben. Die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, ob sie Wachstum und den Erhalt natürlicher Lebensgrundlagen in Einklang bringen wird. Caspar Dohmen, Ökonom, freier Journalist und journalistischer Fellow am Max-Plank-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln berichtet. *

 

Europa litt lange Zeit unter Knappheit, alleine zwischen 1315 und 1317 verhungerten fünf Millionen Menschen. Die Bevölkerung nahm dies als schicksalhaft hin und konnte sich nicht einmal vorstellen, dass sie ihre materiellen Bedingungen gravierend selbst verändern könnte. An dieser Einstellung rüttelte die Aufklärung, die das Denken von Anfang des 18. Jahrhunderts an revolutionierte. Nun verbreitete sich rationales Denken, erlebten Geistes- und Naturwissenschaften einen Aufschwung, was auch gravierende technologische und soziale Innovationen ermöglichte. Die Menschen verwandelten die stationäre, nicht wachstumsorientierte Wirtschaft in eine dynamische Wirtschaft, vor allem indem sie menschliche und tierische Arbeit in einem steigendem Ausmaß durch Kapital ersetzten. Dank der Maschinen und der Nutzung fossiler Energie stieg die Produktivität enorm an, konnte mehr erwirtschaftet und verteilt werden. Wer in Westeuropa lebt, ist deswegen im Schnitt etwa 20-mal reicher als seine Ur-Ur-Urgroßeltern. In unseren Tagen könnte man sogar die elementaren Bedürfnisse aller Lebenden befriedigen. Wenn trotzdem mehr als 800 Millionen Menschen hungern, dann deshalb, weil vielen Menschen Geld fehlt, um sich in ausreichender Menge Nahrungsmittel kaufen zu können.

 

Löhne als Motor

„Wachstum hat in kapitalistischen Ökonomien einen zentralen Stellenwert als politische Zielsetzung, als diskursives Mittel zur Legitimierung politischer Weichenstellungen und auch als „Kitt“ der die Gesellschaft zusammenhält, indem er den Kapitalismus in Gang hält und damit Wohlstand sichert“, so die Politikökonomin Arianna Tassinari. Sie befasst sich am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln mit der „Politischen Ökonomie von Wachstumsmodellen“. Der Direktor des Instituts, Lucio Baccaro, hat den Forschungsbereich ins Leben gerufen. Sein Ziel ist es, unterschiedliche Spielarten des Kapitalismus zu untersuchen, mit denen Staaten im Europa unserer Zeit Wachstum erzeugen.

„Der Motor für das Wachstum in großen europäischen Staaten war bis etwa 1990 stetes Lohnwachstum“, sagt Lucio Baccaro. Weil die Reallöhne im gleichen Maße (oder manchmal sogar schneller) als die Arbeitsproduktivität stiegen, konnten die Verbraucher im Laufe der Zeit mehr Geld für Konsum ausgeben. Das veranlasste Unternehmen zu investieren und mehr zu produzieren, was wiederum für Wachstum sorgte. Das Modell kam infolge der beiden Ölkrisen in den 1970er-Jahren unter Druck, als gleichzeitig Inflation und Arbeitslosigkeit stiegen. Zur Bekämpfung der Inflation entschieden sich Regierungen für politische und institutionelle Reformen, etwa die Einführung unabhängiger Zentralbanken, wie es sie in der Bundesrepublik bereits gab. Negativ wirkte sich auf das lohnorientierte Wachstumsmodell in Europa eine veränderte Arbeitsteilung aus. Von 1990 an begannen hiesige Unternehmen in großem Umfang Arbeit in Billiglohnländer zu verlagern, nach Asien, aber auch in die Transformationsländer in Mittel- und Osteuropa. Nun nähten dort Menschen Jeans oder fertigten Autoteile. Alleine die 30.000 größten Konzerne der Welt konnten ihre Gewinne in den Jahren von 1989 bis 2014 verfünffachen, obwohl sie ihre Umsätze nur verdoppelten. Wenn sich der Umsatz verdoppelt und der Gewinn verfünffacht, müssen die Kosten drastisch gesunken sein, ganz nach der betriebswirtschaftlichen Gleichung: Umsatz – Kosten = Gewinn. Diese Entwicklung schwächte die Gewerkschaften, was ein wesentlicher Grund dafür ist, dass der Anteil der Beschäftigten am erwirtschafteten Volkseinkommen phasenweise deutlich sank, während der Anteil der Unternehmen in Form ihrer Gewinne anstieg.

Neue Wege zum Wachstum

Das lohnorientierte Wachstumsmodell wurde nach Analysen des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung durch mindestens vier neue Modelle abgelöst (Abbildung 1): „Großbritannien steht exemplarisch für das konsumorientierte Wachstumsmodell, welches wesentlich auf günstigen Krediten für die Bevölkerung beruht“, erläutert Lucio Baccaro. Deutschland ist ein Beispiel für das exportorientierte Wachstumsmodell, welches auf drei Elementen basiert: einem Exportsektor, der ausreichend groß ist, um als Lokomotive für die gesamte Volkswirtschaft zu fungieren, einer institutionalisierten Lohnzurückhaltung und einem festen Wechselkurssystem. Schweden wiederum steht für eine Kombination der Wachstumstreiber Konsum und Export, zumindest bis zur Finanzkrise von 2008. Länder wie Italien fanden dagegen keinen tragfähigen Ersatz für ein lohnorientiertes Wachstum. „Die beschriebenen Modelle sind prinzipiell auch auf Volkswirtschaften außerhalb Europas übertragbar“, sagt Erik Neimanns aus dem Forschungsteam von Baccaro. „Nimmt man weitere Länder in den Blick, lassen sich zudem zusätzliche Wachstumsmodelle beobachten, die z. B. auf dem Export von Rohstoffen, dem Tourismus oder hohen staatlichen und privaten Investitionen beruhen.“

Abbildung 1. Wie die Wirtschaft wächst

  • GB: Hohes Leistungsbilanzdefizit (Importe übersteigen Exporte), hohe Konsumausgaben, starke Nachfrage nach Dienstleistungen auch im mittel- und geringqualifizierten Bereich
  • IT: Exportsektor klein, Spezialisierung auf arbeitsintensive Güter, realer Wechselkurs des Euro im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung zu hoch, schwacher Konsum
  • SE: Gleichzeitiges Wachstum im Export u. im Konsum, preisunempfindliche Exporte v.a. IT-Dienstleistungen, Lohnzuwächse in der Industrie u. im Dienstleistungssektor
  • D: Anhaltende Leistungsbilanzüberschüsse (Exporte übersteigen Importe), realer Wechselkurs des Euro im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung zu niedrig, wachsende Ungleichheit durch Niedriglohnsektor im Dienstleistungsbereich © GCO, HNBM, istock

Noch nie haben Bürgerinnen und Bürger in Deutschland explizit bei einer Bundestagswahl über das auf Export beruhende Wirtschaftsmodell abgestimmt, genauso wenig wie die Britinnen und Briten über ein konsumorientiertes Wachstumsmodell. Allerdings stärken Regierungen regelmäßig mit Gesetzen das jeweilige Modell, in Deutschland beispielsweise durch die Hartz-Reformen im Jahr 2005. Dazu zählten unter anderem deutliche Einschnitte in die Arbeitslosenunterstützung oder die Einführung von Leiharbeit, was die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie stärkte.

Politik bestimmt den Kurs

Politikökonominnen und -ökonomen beschäftigen sich mit der Wechselwirkung von Wirtschaft und Gesellschaftssystem. Drei Vertreter, Mark Blyth, Jonas Pontusson und Lucio Baccaro, haben die Hypothese aufgestellt, dass funktionierende Wachstumsmodelle wie in Deutschland oder Großbritannien von einer klassenübergreifenden Koalition getragen werden. Die Wissenschaftler verstehen darunter einen Zusammenschluss gesellschaftlicher Akteure, der die Kluft zwischen Arbeit und Kapital überwindet und all diejenigen Gruppen einer Gesellschaft einbezieht, die von dem jeweiligen Wachstumsmodell profitieren. Einer solchen Koalition können mehr oder weniger organisierte Interessengruppen aus Schlüsselsektoren der Wirtschaft angehören, z.B. wirtschaftliche Eliten, Unternehmen und Arbeitgeberverbände, aber auch Beschäftigte oder Gewerkschaften, die von den Erfolgen in wirtschaftlich bedeutsamen Sektoren profitieren, sowie Regierungsmitglieder, die einen reibungslosen Betrieb der Volkswirtschaft gewährleisten sollen. Zu den Schlüsselsektoren zählen die drei Forscher in Deutschland den Maschinenbau und die Automobilindustrie, in Großbritannien die Finanzindustrie oder in Irland die Europatöchter der US-Technologiekonzerne. „Ein Merkmal von dominanten gesellschaftlichen Koalitionen ist, dass ihre Mitglieder einen legitimierenden Diskurs vorgeben“, sagt Baccaro. Das bedeutet, dass sie in der Lage sind, ihre Interessen als mit dem nationalen Interesse übereinstimmend darzustellen. Parteipolitik spielt in der Politik der Wachstumsmodelle eine wichtige Rolle. Da die dominante gesellschaftliche Koalition in den meisten Fällen über keine Stimmenmehrheit verfügt, muss sie eine Wahlmehrheit um jene Politik herum aufbauen, die ihren Interessen nützt. Die großen Parteien stehen im Wettstreit darum, das gegebene Wachstumsmodell und die damit verbundene vorherrschende gesellschaftliche Koalition bestmöglich zu managen. Zumindest diese Parteien bieten den Wählern nach Ansicht der Wissenschaftler auch keine grundlegende Alternative zu dem ausgewählten Wachstumsmodell, egal ob sie links oder rechts der Mitte positioniert sind.

Die Vermessung des Wohlstands

Üblicherweise wird das Wachstum anhand der Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gemessen. Statistiker berechnen für Länder zunächst das Bruttosozialprodukt (BSP), also den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft binnen eines Kalenderjahres hergestellt oder bereitgestellt worden sind. Zur Berechnung des BIP werden vom BSP alle Erwerbs- und Vermögenseinkommen abgezogen, die in der zeitlichen Periode ins Ausland gingen. Addiert werden die Einkommen, die Inländer aus dem Ausland erhalten haben. Das BSP zielt somit eher auf Einkommensgrößen ab und wird in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auch als Bruttonationaleinkommen bezeichnet. Das BIP misst dagegen die wirtschaftliche Leistung eines Landes von der Produktionsseite her und ist in der Wirtschaftsstatistik und der Berichterstattung das Maß aller Dinge. Von Anfang an gab es Kritik am BIP als Maßstab gesellschaftlichen Fortschritts, weil viele Leistungen wie Hausarbeit oder ehrenamtliche Arbeit unerfasst bleiben, obwohl sie für das Wohlergehen der Individuen und den Zusammenhalt in einer Gesellschaft wichtig sind. Das BIP lässt auch keine Rückschlüsse über die Verteilung des Wohlstands zu: Es kann durchaus wachsen, obwohl gleichzeitig die Zahl der Armen zunimmt. Außerdem steigt der Indikator, wenn Umweltschäden beseitigt werden müssen. In den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) fließen 20 Größen ein. Im Gegensatz zum BIP erfasst er auch die Einkommensverteilung sowie diverse wohlfahrtssteigernde Komponenten (Hausarbeit, ehrenamtliche Tätigkeiten) und wohlfahrtsmindernde Aktivitäten (Kriminalität oder Umweltschäden wie Flächenverlust). Alle Dimensionen werden monetär in Euro bewertet und entweder aufaddiert oder abgezogen. Während das BIP in Deutschland seit 1991 relativ kontinuierlich stieg, entwickelte sich der Wohlstand gemessen am NWI unterschiedlich und nahm weit weniger zu (Abbildung 2). Es existieren diverse weitere Indikatoren zur Messung des Wohlstands, etwa der von den Vereinten Nationen erhobene Index der menschlichen Entwicklung, der Better-Life-Index der OECD, das Bruttonationalglück oder die Gemeinwohl-Bilanz.

Entwicklung von NWI und BIP in Deutschland. BIP und NWI zeigen unterschiedliche Bilder der gesellschaftlichen Entwicklung: Das Wachstum des BIP wird nur durch die Finanzkrise im Jahr 2009 und die Corona-Pandemie unterbrochen. Die Entwicklung des NWI verläuft in verschiedenen Phasen (Anstiege, Rückgang, Stagnation). Der NWI hat zwischen 1991 und 2019 um knapp 12 Punkte zugenommen – weniger als ein Drittel der Steigerung, die das BIP ausweist. © FEST e.V. – Institut für Interdisziplinäre Forschung

Grüne Wirtschaft

Bislang hat es die Menschheit nicht geschafft, das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Nicht zuletzt deswegen wird es immer schwieriger, die Klimaerwärmung in einem begrenzten Ausmaß zu halten. Auch die Ressourcen, die der Mensch für seine Wirtschaftsweise braucht, werden zunehmend knapp. Das gilt sogar schon für ein vermeintlich im Überfluss vorhandenes Gut wie Sand, das vor allem für den Immobilien- und Straßenbau benötigt wird. Die natürlichen Lebensgrundlagen schwinden immer mehr, mit erheblichen Folgen. „Ökonomisches Denken bezieht die Natur als Produktionsfaktor nicht ein“, sagte der Umweltökonom Sir Partha Dasgupta bei der Übergabe seines Berichts über die „Ökonomie der Artenvielfalt“ an die britische Regierung 2021. Auf dem Cover sind ein Stück Waldboden und ein Fliegenpilz abgebildet. Innen finden sich erschreckende Zahlen: Während sich das Sachkapital global von Anfang der 1990er-Jahre bis Mitte der 2000er-Jahre verdoppelt hatte und das Humankapital um 13 Prozent gestiegen war, sanken die Naturwerte um 40 Prozent. Die Menschheit sei daran gescheitert, „eine nachhaltige Beziehung zur Natur aufzubauen“, schreibt der Wissenschaftler. Statt einer die Natur zerstörende Ökonomie bräuchte es eine, die die Natur aufbaut: eine regenerative Ökonomie.

Abbildung 3. Kapitalformen und Wechselwirkungen Forschende haben in den vergangenen Jahrzehnten Methoden entwickelt, um den ökonomischen Wert natürlicher Ressourcen zu erfassen und damit den Begriff des Naturkapitals geprägt. Es umfasst die biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen (z.B. sauberes Grundwasser, Bindung von Treibhausgasen, Blütenbestäubung, Erholungsfunktion von Naturräumen). © Verändert nach: The Economics of Biodiversity, 2021, S. 39

Die längste Zeit der menschlichen Evolution haben Menschen im Einklang mit der Umwelt gelebt und gewirtschaftet, so wie heute noch manche indigene Gemeinschaften. Mittlerweile ist es aber eine Frage des Überlebens, ob und wenn ja, wie sich Ökonomie und Ökologie in Einklang bringen lassen (Abbildung 3). Noch verschlingt alleine Europas Wirtschaft jährlich 16 Tonnen Material pro Kopf. Und am Ende fallen pro Person jährlich fünf Tonnen Müll an. Mehr Wachstum bedeutete eben bislang meist auch mehr Müll. Manche sehen die Lösung in einer Kreislaufwirtschaft, in der Abfall wieder zum Rohstoff eines neuen Verwertungszyklus wird, so wie bei Mehrwegflaschen oder Altpapier. Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, dass eine Kreislaufwirtschaft den Konflikt zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit ganz auflösen könnte. Denn ein permanentes Recycling ist bei anorganischen Stoffen aufgrund physikalischer Gesetzmäßigkeiten unmöglich. Jeder Verwertungsprozess führt immer auch zu einem Verlust von Material. Recycling benötigt zudem Energie, für deren Gewinnung wieder Ressourcen eingesetzt werden. Manche Rohstoffe wie seltene Erden sind auch nur begrenzt vorhanden – entsprechend lassen sich daraus nicht beliebig viele Produkte fertigen, die in immerwährenden Kreisläufen zirkulieren. Wenn die Menschheit ihre Lebensgrundlagen erhalten will, muss sie daher nicht nur anders wirtschaften, sondern auch mit weniger natürlichen Ressourcen auskommen.


 * Der Artikel ist erstmals unter dem Title: " Anders wirtschaften - Wachstumsmodelle in der Ökonomie" https://www.max-wissen.de/max-hefte/wachstumsmodelle-oekonomie/ in GeoMax 26/Sommer 2022 der Max-Planck-Gesellschaft erschienen und steht unter einer CC BY-NC-SA 4.0 Lizenz. Mit Ausnahme des abgeänderten Titels wurde der Artikel unverändert in den Blog übernommen.


 

inge Thu, 01.09.2022 - 18:28