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2020 mat Fri, 27.12.2019 - 10:04

PCR, Antigen und Antikörper - Fünf Dinge, die man über Coronavirus-Tests wissen sollte

PCR, Antigen und Antikörper - Fünf Dinge, die man über Coronavirus-Tests wissen sollte

Do, 31.12.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Medizin Tests sind von entscheidender Bedeutung, um das Coronavirus zu diagnostizieren und seine Ausbreitung einzudämmen. Es gibt zwei Arten von Covid-19-Tests: solche, mit denen festgestellt werden soll, ob Sie jetzt an der Infektion leiden, oder solche, mit denen überprüft werden soll, ob Sie zuvor mit dem Krankheit verursachenden Virus - SARS-CoV-2 - infiziert wurden. Wie jedes andere Produkt weisen diese Tests unterschiedliche Genauigkeits- und Zuverlässigkeitsgrade auf und können verwendet werden, um unterschiedliche Ziele zu erreichen. Das EU Research and Innovation Magazine "Horizon" zeigt kritische Punkte auf.*

Wir brauchen Technologien, die schnell sind, genau sind, einen hohen Durchsatz erlauben und keine teuren, komplexen Laborgeräte oder das Fachwissen hochqualifizierter Mitarbeiter erfordern. Zur Zeit gibt es aber nichts, das all diese Kriterien erfüllt, sagt Professor Jon Deeks, ein Biostatistiker und Testexperte von der Universität Birmingham, UK. "Wir besitzen noch keinen derart perfekten Test, aber einige, die in manchen Aspekten gut sind, in anderen aber nicht."

Hier sind nun fünf Punkte, die man über Coronavirus-Tests wissen sollte:

1. Am gebräuchlichsten sind PCR- und Antigen-Tests; diese funktionieren aber auf unterschiedliche Weise

Um das Vorhandensein des Virus festzustellen suchen Antigentests nach Proteinen (Proteinfragmenten) auf seiner Oberfläche. PCR-Tests (Polymerasekettenreaktionen) wurden entwickelt, um genetisches Material des Virus - d.i. die RNA - festzustellen, welches die Anweisung zur Herstellung dieser Proteine enthält.

Als Probe benötigen beide Tests einen Abstrich aus dem tiefen Nasenraum (Abbildung 1) oder der hinteren Rachenwand. Ist das Ergebnis positiv, können aber beide Testarten keine Aussage treffen, ob man auch ansteckend ist. Und hier enden auch schon die Ähnlichkeiten.

Abbildung 1. Um einen optimalen Abstrich durch die Nase zu erhalten, muss das Wattestäbchen bis zur Hinterwand des Nasen/Rachenraums geführt werden. (Bild: Collecting a nasopharyngeal swab Clinical Specimen; US Center of Disease Control and Prevention (CDC); Screenshot. von der Redaktion eingefügt)

Im Falle des PCR-Tests wird die Probe an ein Labor geschickt, wo unter Verwendung spezieller Reagenzien die RNA des Virus in DNA (sogenannte c-DNA) umgeschrieben und - zur Identifizierung des Pathogens - in einer Serie von Kühl-und Erwärmungsschritten millionenfach vervielfacht wird. Dieser Prozess kann Stunden dauern, erfordert hochentwickelte Laborgeräte und ausgebildete Techniker; normalerweise wird jede Probe jeweils einzeln untersucht; allerdings gibt es Maschinen, die mehrere Proben gleichzeitig verarbeiten können. Der zeitaufwändige Prozess zahlt sich aus, da infizierte Personen mit fast 100% Präzision erkannt werden, sofern sich Viren in dem Abstrich befinden.

Im Gegensatz dazu funktionieren Antigentests - oft als Schnelltests bezeichnet -, indem die Abstrichs-Probe mit einer Lösung gemischt wird, die bestimmte virale Proteine freisetzt. Diese Mischung wird dann auf einen Papierstreifen aufgebracht, der einen maßgeschneiderten Antikörper für diese Proteine enthält, und diese bindet, falls sie vorhanden sind. Wie bei einem Schwangerschaftstest zu Hause spiegelt sich das Ergebnis als Bande auf dem Papierstreifen wider. Abbildung 2.

Abbildung 2. Der Antigentest-Kit (links). Der Nasen- oder Rachenabstrich wird mit der Testflüssigkeit vermischt auf einen Papierstreifen aufgetragen (Mitte) und kurz danach kann das Ergebnis abgelesen werden (rechts). (Quelle: Wikipedia dronepicr - Safe Corona Rapid Test Diagnostic; Lizenz cc-by-2.0. Bild von Redn. eingefügt.)

Dieser Prozess erfordert kein Labor und kann in bis zu 30 Minuten durchgeführt werden. Die Schnelligkeit geht jedoch zu Lasten der Empfindlichkeit. Obwohl diese Tests zuverlässig sind, wenn eine Person eine hohe Viruslast aufweist, sind sie weitaus anfälliger für falsch negative Ergebnisse, wenn jemand geringe Mengen des Virus im Körper hat.

2. Sensitivität und Spezifität sind Kriterien für die Brauchbarkeit eines Tests

Diese beiden Kriterien werden verwendet, um die Aussagekraft eines Tests zu bestimmen: "Wie gut erkennt dieser Test Krankheiten und wie gut erkennt er die Abwesenheit von Krankheiten", erklärt Prof. Deeks.

Die Sensitivität ist definiert als der Anteil an mit Covid-19 infizierten Personen, die korrekt ein positives Ergebnis erzielen, während die Spezifität der Anteil der nicht-infizierten Personen ist, welche der Test korrekt als negativ identifiziert.

Ein hochsensitiver Test weist im Allgemeinen eine niedrige Falsch-Negativ-Rate auf, birgt jedoch das Risiko von falsch-positiven Ergebnissen, wenn seine Spezifität nicht auf dem neuesten Stand ist. Auf der anderen Seite besteht bei einem hochspezifischen Test das Risiko von falsch negativen Ergebnissen, wenn die Sensitivität des Tests gering ist; im Allgemeinen wird es eine niedrige falsch positive Rate geben. PCR-Tests gelten als Goldstandard, da sie im Allgemeinen hochsensitiv und hochspezifisch sind.

3. Wenn es um Schnelltests geht, kann von entscheidender Bedeutung sein, wer den Test ausführt

Im Rahmen der Pläne der britischen Regierung zur Durchführung von Massenimpfungen wurde in Liverpool ein Antigentest namens Innova Lateral Flow Test eingeführt. Das Ziel war Arbeitnehmern damit die Rückkehr in die Büros zu ermöglichen und Familien ihre Angehörigen in Pflegeheimen wieder umarmen zu können, stellt Prof. Deeks fest.

Dieses Freitesten („Test to Enable“ -Strategie) schlug jedoch fehl; Wissenschaftler fanden heraus, dass in einer Population von Menschen, die zum überwiegenden Teil Symptome aufwiesen, die Sensitivität des Tests auf etwa 58% sank, wenn dieser von selbstgeschultem Personal durchgeführt wurde. Im Gegensatz dazu stieg die Sensitivität auf 73%, wenn der Test von qualifizierten Krankenschwestern ausgeführt wurde und auf 79%, wenn Laborwissenschaftler testeten. In einer Studie an asymptomatischen Menschen fiel die Sensitivität im Vergleich zu PCR-Tests auf etwa 49%.

"Man kann also von einem Trend sprechen, je erfahrener die Leute im Ausführen des Tests sind, desto weniger Fälle werden übersehen", sagt er. Es gibt einige Schritte, die sehr sorgfältig erfolgen müssen, wie beispielswise das genaue Ablesen. "Manchmal ist es schwer zu sagen, ob es sich um eine Bande oder um eine Verunreinigung handelt", sagt Prof. Deeks.

PCR-Tests werden im Labor durchgeführt, das Risiko für Fehler ist viel geringer, fügt er hinzu.

Die Produzenten versuchen auch Tests für zu Hause zu entwickeln. Angesichts der von uns gesammelten Erfahrungen, wie die Genauigkeit von Schnelltests davon abhängt, wer diese ausführt, ist dies ein Problem, meint Prof. Deeks.

"Wenn die Leute Tests einfacher durchführen können, werden mehr Leute getestet ... ich glaube aber nicht, dass wir den Test haben, um dies schon zu tun", sagt er. Und fügt hinzu, dass es keine guten Studien gibt, die untersuchen, welchen Nutzen diese zusätzlichen Tests haben würden, beispielsweise welche Auswirkungen wiederholte falsch-negative Ergebnisse auf das Verhalten haben könnten.

In einem am 18. Dezember veröffentlichten Proposal für gemeinsame Regeln bei Antigen-Schnelltests erklärte die Europäische Kommission, dass Antigen-Schnelltests von geschultem medizinischem Personal oder anderen geschulten Kräften durchgeführt werden sollten (1)

 4. Bevor Schnelltests genauer werden, sollten negative Testergebnisse nicht zur Förderung riskanter Aktivitäten dienen

Wenn ein Test wie der Innova-Test bis zur Hälfte der Fälle falsch liegt, kann man wirklich niemand als frei von dem Risiko betrachten infiziert zu sein oder die Infektion zu verbreiten, bemerkt Prof. Deeks.

"Man wird immer einen kleinen Prozentsatz an Leute haben, die bei allen Tests herausfallen", sagt Gary Keating, Chief Technology Officer von HiberGene, einem in Irland ansässigen Unternehmen, das einen Covid-19-Test vertreibt. Der Test verwendet die LAMP-Technologie, eine billige Alternative zur PCR-Technologie.

"Ich denke, es ist immer gefährlich, einen einzelnen diagnostischen Test isoliert durchzuführen und diesen als Grundlage zu verwenden, um eine sehr wichtige Entscheidung in Hinblick auf Gesundheit oder Lebensstil zu treffen", sagt Keating.

In großem Maßstab angewandt könnten solchen Ergebnisse zu einem falschen Sicherheitsgefühl führen, meint Prof. Deeks.

Regierungen sind daran interessiert, Schnelltests zu verwenden, da diese billiger sind und schneller für Kampagnen zur Massenimpfung eingesetzt werden können. Da sie jedoch hinsichtlich der Genauigkeit limitiert sind, ist es wichtig, negative Testergebnisse nicht dazu zu verwenden, um riskantere Aktivitäten wie das Treffen mit älteren oder schutzbedürftigen Angehörigen zu ermöglichen, sagt er.

Einige Länder, wie die Vereinigten Staaten, empfehlen einen PCR-Test, wenn Personen mit Symptomen mit einem Antigen-Schnelltest negativ getestet werden, um das Ergebnis zu bestätigen.

Wenn Schnelltests auch gut dazu geeignet sind, Menschen mit hoher Viruslast zu erfassen, so ist es noch nicht klar, bis zu welchem Grenzwert an Viren keine Ansteckung erfolgt. Bei Covid-19 weisen die Infizierten in der frühen Phase der Infektion einen Spitzenwert der Viruslast, aber die virale RNA kann Wochen oder sogar Monate lang bestehen bleiben. Abbildung 3.

Abbildung 3. Nachweis von SARS-CoV-2 mittels PCR-Test in Nasen-Abstrichen von Patienten mit mildem bis moderatem Krankheitsverlauf. 4 Wochen nach Einsetzen der Symptome trugen die Patienten noch rund 30 % der maximalen Virenlast. (Quelle: Dr Ai Tang Xiao - https://www.cdc.gov/coronavirus/2019-ncov/community/strategy-discontinue-isolation.html https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7. Lizenz cc-by 4.0. Das Bild wurde von der Readktion eingefügt.)

 

5. Antikörpertests könnten nützlich sein, um die Dauerhaftigkeit von Impfreaktionen zu messen

Antikörper sind Soldaten, die vom Immunsystem als Reaktion auf einen fremden Eindringling - in diesem Fall SARS-CoV-2 - eingesetzt werden. „Ursprünglich bestand die Hoffnung, dass Antikörpertests es uns ermöglichen könnten, die Krankheit schnell und einfach zu diagnostizieren. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Tests noch zwei bis vier Wochen lang (nach der Infektion) kein positives Ergebnis zeigen“, sagt Prof. Deeks.

Und es kommt noch ärger, denn selbst wenn Sie positiv auf Antikörper getestet werden, bringt Ihnen diese Information nicht viel, außer einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass Sie in der Vergangenheit Covid-19 gehabt haben. "Wir haben keine Ahnung, welche Konzentrationen an Antikörpern zum Schutz vor der Krankheit führen und welcher Antikörpertyp am wichtigsten ist. Ich bin mir nicht sicher, ob auch darüber Konsens besteht", sagt er.

Es ist auch unklar, wie lange Covid-19-Antikörper im Körper verbleiben oder ob jemand, der positiv auf Antikörper getestet wurde, sich das Virus nicht wieder einfängt.

Wofür diese Tests nützlich sein könnten, ist die Ausbreitung von Covid-19 populationsweit abzuschätzen - zum Beispiel, wie viel Prozent der Bevölkerung und welche ethnischen Gruppen sich Covid-19 zugezogen haben, sowie um die Dauerhaftigkeit von Impfreaktionen zu messen, fügt Prof. Deeks hinzu.


(1)  Proposal for a common framework for the use, validation and mutual recognition of COVID-19 rapid antigen tests in the EU).


 *Der Artikel ist am 18. Dezember 2020 im Horizon, the EU Research and Innovation Magazine unter dem Titel: " PCR, antigen and antibody: Five things to know about coronavirus tests" https://horizon-magazine.eu/article/pcr-antigen-and-antibody-five-things-know-about-coronavirus-tests.html (Autorin: Natalie Grover). Der unter einer cc-by-Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt. Drei Abbildungen wurden von der Redaktion eingefügt.


Weiterführende Links

WHO's Science in 5 on COVID-19 - Tests, Video 4:49 min. (Englisch) https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/media-resources/science-in-5/episode-14---covid-19---tests

Michael Wagner: COVID-19 Faktencheck: Welche COVID-19 Testverfahren gibt es? Video 7:37 min. https://www.youtube.com/watch?v=6IsrIO9RT3w

Jon Deeks, Prof.of Biostatistics, Institute of Applied Health Research, University Birmingham. https://bit.ly/37X6wBP


 

inge Wed, 30.12.2020 - 22:12

Myelin ermöglicht superschnelle Kommunikation zwischen Neuronen

Myelin ermöglicht superschnelle Kommunikation zwischen Neuronen

Do, 24.12.2020 - 07:43 — Nora Schultz

Nora SchultzIcon Gehirn

Nervenzellen kommunizieren, indem sie elektrische Signale (Aktionspotentiale) auf eine lange Reise bis zu den Synapsen am Ende ihres Axons schicken – ein aufwändiger und verhältnismäßig langsamer Prozess. Mit der Hilfe der Oligodendrozyten - eine Art von Gliazellen - wird das Axon zum Super-Highway. Diese Zellen umwickeln mehrere Axone abschnittsweise, versorgen sie mit Energie und isolieren die ummantelten Stücke mit ihrer als Myelin bezeichneten Biomembran elektrisch. Innerhalb der umwickelten Abschnitte kann sich das Aktionspotential viel schneller fortpflanzen. Die Entwicklungsbiologin Nora Schultz gibt einen Überblick über den Vorgang der Myelinisierung.*

Neuronen, die „grauen Zellen“ im Gehirn, haben ihren guten Ruf als Rechenmeister zu Recht. Doch erst in weiße Gewänder gehüllt, verbringen sie auch Kommunikationswunder. Damit Nervenzellen sich mit vielen, vielen weiteren Kolleginnen austauschen können, braucht es Axone. Abbildung 1.

Abbildung 1. Wie ein Neuron aussieht. Ein Neuron besteht aus einem Zellkörper und seinen Fortsätzen. Signal-empfangende Fortsätze nennen sich Dendriten, sendende Axone. Axone sind durch eine Myelin-Ummantelung elektrisch isoliert. (Bild: https://www.dasgehirn.info/grundlagen/kommunikation-der-zellen/bild-aufbau-eines-neurons. Lizenz: cc-by-nc)

Über diese Datenkabel treten sie in Kontakt miteinander und knüpfen weitläufige Netzwerke. Dabei überbrücken sie Entfernungen von bis zu mehreren Metern – für den Zellkosmos eine riesige Distanz. Um das zu bewerkstelligen, benötigen Axone entweder einen beachtlichen Durchmesser oder eine gute Isolierung. Die Lösung der Wirbeltiere heißt Isolierung durch Myelin, Dabei handelt es sich um eine besonders fetthaltige und daher weiß erscheinende, elektrisch isolierende Biomembran. Sie umwickelt die Axone.

Doch wie gelangt die Myelinscheide um die Axone? Und was genau bewirkt sie dort?

Von wegen langweilige Hülle

Was auf den ersten Blick wie eine langweilige Hülle wirkt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als eine spannende, dynamische und hochkomplexe Angelegenheit. Direkt nach der Geburt ist im Gehirn des Neugeborenen noch vieles grau in grau. Die Myelinisierung der Axone, der die „weiße Substanz“ im Gehirn und Rückenmark ihren Namen verdankt, beginnt zwar bereits während der Schwangerschaft, setzt sich jedoch während der Kindheit fort und wird auch in der Pubertät noch einmal stark verfeinert. Und sogar darüber hinaus findet noch Myelinisierung statt – wenn auch in weit geringerem Maße.

Verantwortlich für die Isolationsarbeiten sind spezialisierte Helfer, die Oligodendrozyten. Jede dieser Zellen, die zu den Gliazellen zählen, kann mehrere Axonabschnitte auf verschiedenen Axonen mit Zellausstülpungen umwickeln, wie mit einem Verband. Abbildung 2. Damit fungieren die Oligodendrozyten zusätzlich auch noch als Kabelbinder, die mehrere Axone bündeln. Außerdem versorgen sie das Axon und seine vielen energiehungrigen Ionenpumpen mit Nährstoffen.

Abbildung 2. Isolierung der Axone per Myelin. Die Ummantelung übernehmen im Gehirn Oligodendrozyten, die auch mehrere Axone gleichzeitig umwickeln können. Die Zwischenräume werden als Ranviersche Schnürringe bezeichnet. Der Prozess der Myelinisierung kann bis zu 25 Jahre dauern. (Bild: https://www.dasgehirn.info/grundlagen/kommunikation-der-zellen/interaktiv-das-neuron-form-und-funktion. Lizenz cc-by-nc)

Geschwindigkeitsupgrade durch Isolation

Die Myelin-Verbände verleihen den elektrischen Signalen, den Aktionspotentialen, die entlang des Axons vom Zellkörper bis zu den Synapsen am anderen Zellende reisen, ein wahrlich sprunghaftes Geschwindigkeitsupgrade. Ohne Myelin pflanzt sich ein solches Aktionspotential fort, indem es die Spannung an der Zellmembran Schritt für Schritt über die Gesamtlänge des Axons verändert. Wird ein bestimmter Schwellenwert überschritten, öffnen sich spannungsgesteuerte Membrankanäle, die schlagartig viele positiv geladene Natriumionen ins Zellinnere strömen lassen. Dadurch schnellt das Membranpotential an dieser Stelle noch weiter nach oben und schubst auch die weiter flussabwärts liegende Region über den Schwellenwert, sodass sich dort ebenfalls die spannungsgesteuerten Kanäle öffnen. Das Aktionspotential fließt so per Kettenreaktion bis zum Ende des Axons. Abbildung 3, oben.

Dieser Prozess läuft allerdings relativ langsam ab, mit einer Geschwindigkeit von rund einem Meter pro Sekunde. Wärmere Temperaturen oder ein größerer Axondurchmesser, bei dem pro Einheit Membranoberfläche mehr elektrisch leitendes Innenvolumen – und damit ein reduzierter Längswiderstand – vorhanden ist, vermögen die Reise zu beschleunigen. Manche Weichtiere wie Tintenfische und Meeresschnecken nutzen diese Strategie, um mit ganz besonders dicken Axonen von bis zu einem Millimeter Durchmesser besonders schnelle Signale zu verschicken, auch ohne Myelinisierung.

Bei Wirbeltieren und somit auch im menschlichen Gehirn hingegen sorgt das Myelin für mehr Geschwindigkeit – bei gleichzeitig großer Platzersparnis im hochkomplexen Zentralnervensystem. Es erlaubt dem elektrischen Signal vor allem, umwickelte Axonabschnitte einfach zu überspringen. Dank der Isolierwirkung kann das lokal entstandene Aktionspotential sich vergleichsweise ungestört im Inneren des Axons als elektrisches Feld fortpflanzen. Dieses reicht aus, um an der nächsten Lücke, wo die Zellmembran freiliegt, dem Ranvierschen Schürring, den Schwellenwert für die Öffnung der spannungsgesteuerten Kanäle zu erreichen. Das Aktionspotential springt nun rasend schnell von einem Ring zum nächsten und ermöglicht so eine enorme Leitgeschwindigkeit – von bis zu 100 Metern pro Sekunde. Abbildung 3, unten.

Abbildung 3.Die Erregungsleitung - Geschwindigkeit des Aktionspotentials - im Axon. Im nicht-myelinisierten Axon (oben) pflanzt sich das elektrische Signal kontinuierlich mit einer Geschwindigkeit von 2 - 3 m/sec fort. Im myelinisierten Axon (unten) springt das Aktionspotential von einem Ranvier'schen Schnürring zum nächstenund erreicht Geschwindigkeiten bis zu 100 m/sec. ((Bild: https://www.dasgehirn.info/grundlagen/kommunikation-der-zellen/interaktiv-das-neuron-form-und-funktion. Lizenz cc-by-nc)

Trotz der raffinierten Isolationsstrategie gilt bei der Übertragungsgeschwindigkeit: „size matters“. Sie hängt von der Dicke des Axons unter dem Myelin ab sowie seiner Dicke an den dazwischen liegenden Schnürringen. Außerdem zählen die Dicke der Myelinscheide selbst und die Länge der umwickelten Abschnitte.

Benedikt Grothe von der Ludwig-Maximilians Universität München erforscht die Signalübertragung im Hörsystem, wo es oft auf Millisekunden ankommt, um feine Unterschiede zwischen Tönen auseinanderzuhalten. In Versuchen und Modellierungen hat er herausgefunden, dass die schnellstmögliche Signalübertragung stattfindet, wenn der Axondurchmesser groß und die Myelinsegmente kurz sind . Die Höchstgeschwindigkeit hat allerdings ihren Preis, da bei vielen kurzen isolierten Segmenten auch die Zahl der Schnürringe im Verlauf der Faser steigt, an denen das Aktionspotential aktiv weiterspringen muss – ein Prozess, der viel Energie benötigt. „In der Praxis beobachten wir daher oft einen Kompromiss zwischen Schnelligkeit und den metabolischen Kosten“, sagt Grothe. “Aber wenn der Schaltkreis es verlangt, kann die Geschwindigkeit ausgereizt werden.“ Auch entlang eines einzelnen Axons können die Faktoren variieren. Zum Ende des Axons hin beobachten die Forscher etwa eine zunehmende Optimierung von Axondurchmesser und Myelinsegmentlänge ausgerichtet auf Schnelligkeit. Vermutlich dient das der Absicherung, damit das Aktionspotential die Synapse zuverlässig erreicht.

Myelinisierung als Bestandteil der Plastizität

Die Myelinschicht ist also mehr als nur Isolation. Vielmehr handelt es sich um eine sehr präzise Konfiguration von Axon und umwickelnden Oligodendrozyten. Und diese ist bei Weitem nicht starr. „Veränderungen in der Myelinisierung haben viel mit neuronaler Plastizität gemeinsam, auch wenn die Prozesse Monate statt Tage dauern“, sagt Tim Czopka, der mit seiner Arbeitsgruppe derzeit von der Technischen Universität München an die University of Edinburgh umzieht. Er untersucht mit seinem Team bei Zebrafischen, wie sich die Myelinisierung in Abhängigkeit von den Aktivitäten und Erfahrungen einzelner Nervenzellen wandelt. Auch beim Menschen lässt sich beobachten, dass sich intensive und längerfristige Lernprozesse auf die weiße Substanz im Gehirn auswirken. Lernt man beispielsweise Jonglieren oder ein neues Instrument, nimmt die weiße Substanz im manchen Regionen zu; bestimmte Schaltkreise werden verstärkt myelinisiert, um die Signalübertragung dort zu verbessern. “Die Verschaltungen zwischen Neuronen über Synapsen sind nur eine Ebene der Kommunikation innerhalb eines Netzwerks, aber damit die Impulse auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort ankommen, muss auch die Myelinisierung angepasst werden“, so Czopka.

Ist ein Axon erst einmal vollständig umwickelt, kann es gemeinsam mit seinen Oligodendrozyten zwar noch einige Feinjustierungen vornehmen, beispielsweise seinen Durchmesser verändern oder die Länge der myelinisierten Abschnitte und die Position der Schnürringe anpassen. Andere Formen der Plastizität sind dann aber nicht mehr möglich. Axonabzweigungen etwa kann es aus seinem Korsett heraus wohl nicht mehr bilden. Czopka vermutet daher, dass die besonders spannenden Ereignisse überall dort stattfinden, wo Axonteile noch nicht – oder gerade nicht mehr – umwickelt sind. Dann gibt es viele Möglichkeiten für Neuronen und Oligodendrozyten, im Austausch miteinander und in Reaktion auf die Aktivitäten im System ihre individuelle Konfiguration zu finden.

Lernen vom Zebrafisch

Die Kommunikation beginnt damit, dass die Vorläuferzellen der Oligodendrozyten auf Partnersuche gehen. Inspiriert von bislang größtenteils unbekannten Signalen tasten die Zellen dann ihr Umfeld nach geeigneten Neuronen ab. „Sie versuchen, alles Mögliche mit Stummelfortsätzen zu umwickeln, wie kleine Spinnen“, erzählt Czopka, der diese Vorgänge in den transparenten Larven von Zebrafischen live filmt. Je nach den Signalen, die sie im Umfeld eines bestimmten Axons finden, stabilisieren sie die Fortsätze oder ziehen sie wieder zurück.

Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass der Austausch zwischen beiden Zelltypen sehr fein aufeinander abgestimmt ist. Oligodendrozyten und ihre Vorläufer haben selbst viele Rezeptoren für Neurotransmitter und spannungsabhängige Ionenkanäle, mit denen sie der Aktivität von Neuronen „zuhören“ können. Ist eine Nervenzelle sehr aktiv, verändert sich auch die metabolische Aktivität der sie umwickelnden Oligodendrozyten: Sie teilen und differenzieren sich stärker. Die genaue Identität und Dynamik dieser Signale zu verstehen, ist eines der Forschungsziele von Czopka und seinem Team.

Hinter diesen Forschungsaktivitäten steckt auch der Wunsch, die Zusammenarbeit zwischen Neuronen und Oligodendrozyten in Zukunft wieder besser ins Lot bringen zu können, nachdem sie etwa durch Krankheit oder Verletzung gestört wurde. Bei der Multiplen Sklerose zum Beispiel greifen fehlgeleitete Immunzellen die Oligodendrozyten an und zerstören die Myelinscheide so, zumindest vorübergehend. Das gefährdet sowohl die Energieversorgung der Neuronen als auch ihre Kommunikation mit anderen Nervenzellen. Je nach Krankheitsverlauf kann sich das System jedoch wenigstens teilweise erholen und zerstörte Myelinscheiden neu bilden. Die Hoffnung ist, eines Tages durch gezieltes Eingreifen in das Entstehen und die Aktivität von Oligodendrozyten die Funktion neuronaler Netze passgenau reparieren zu können.


Zum Weiterlesen:

  • Ford MC et al: Tuning of Ranvier node and internode properties in myelinated axons to adjust action potential timing. Nature Communications, 2015, 6:8073. https://www.nature.com/articles/ncomms9073 
  • Marisca R et al: Functionally Distinct Subgroups of Oligodendrocyte Precursor Cells Integrate Neural Activity and Execute Myelin Formation. Nat Neurosci. 2020 Mar; 23(3): 363–374.  10.1038/s41593-019-0581-2

* Der Artikel stammt von der Webseite www.dasGehirn.info, einer exzellenten Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe). Der vorliegende Artikel ist am 1.Dezember 2020 unter dem Titel: "Highspeed dank Myelin" erschienen (https://www.dasgehirn.info/grundlagen/struktur-und-funktion/highspeed-dank-myelin). Der unter einer cc-by-nc-sa Lizenz stehende Artikel wurde unverändert in den Blog gestellt und mit einigen Abbildungen von der Webseite Neurone - Bausteine des Denkens: https://3d.dasgehirn.info/#highlight=grosshirnrinde&sidebar=1 ergänzt.


Artikel im ScienceBlog


 

inge Wed, 23.12.2020 - 20:59

Warum ergeht es Männern mit COVID-19 schlechter? Dreifarbige Katzen geben einen Hinweis

Warum ergeht es Männern mit COVID-19 schlechter? Dreifarbige Katzen geben einen Hinweis

Do, 17.12.2020 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon MedizinEine neue, auf mehr als 3 Millionen Infektionen mit SARS-CoV-2 basierende Metaanalyse zeigt weltweit zwar eine vergleichbare Ansteckungsrate von Männern und Frauen, allerdings landen Männer fast drei Mal so oft in der Intensivstation und haben eine 1,4 Mal höhere Sterblichkeitsrate [1]. Wie bei der dreifarbigen, stets weiblichen Katze, deren Farben durch Gene auf dem X-Chromosom kodiert werden, könnte - nach Meinung der Genetikerin Ricki Lewis - der den Verlauf von COVID-19 beeeinflussende Geschlechtsunterschied u.a. durch die Position einiger für die Erkrankung relevanter Gene auf dem X-Chromosom bedingt sein. Männer besitzen nur ein X-Chromosom, Frauen jedoch 2, wovon eines im weiblichen Embryo stillgelegt wird. Da die Auswahl des zu inaktivierenden X-Chromosom von jeder Zelle zufällig getroffen wird, entsteht ein chromosomales Mosaik - in Hinblick auf X-verknüpfte Gene der Immunabwehr und auch auf die Menge des auf den Zellen exprimierten ACE-2-Rezeptors, der Andockstelle des Coronavirus.*

Bereits zu Beginn der Pandemie zeigte sich, dass das männliche Geschlecht unserer Spezies schlechter in der Klinik abschnitt. Eine Mitte Mai von italienischen Forschern veröffentlichte Studie lieferte frühe Statistiken, die von der WHO und chinesischen Wissenschaftlern stammten: diese zeigten eine Sterblichkeitsrate von 1,7% für Frauen und 2,8% für Männer. In weiterer Folge berichteten Krankenhäuser in Hongkong, dass 15% der Frauen und 32% der Männer mit COVID-19 eine Intensivpflege benötigten oder daran gestorben waren.

Im Juli stellte eine im Fachjournal Nature Reviews Immunology veröffentlichte Perspektive von Forschern der Johns Hopkins University und der University of Montreal eine, ähnliche „männlichen Trend“ für andere Virusinfektionen fest, einschließlich SARS und MERS. Bis dahin zeigten die breiten Community-Tests in Südkorea und Daten aus den USA eine 1,5-fach höhere Mortalität bei Männern. Das Muster wiederholte sich in 38 Ländern und zwar für Patienten jeden Alters.

Jetzt weitet eine neue in Nature Communications veröffentlichte Studie das erhöhte Risiko für diejenigen aus, die nur ein X-Chromosom haben - also für Männer. [1] Forscher vom University College London haben nun eine Metaanalyse durchgeführt, in der Ergebnisse von Untersuchungen an insgesamt 3.111.714 Fällen inkludiert waren. Was die Ansteckungsrate mit SARS-CoV-2 betrifft, haben sie dabei keinen Geschlechtsunterschied ausgemacht. Allerdings besteht bei Männern eine fast dreifache Wahrscheinlichkeit, dass sie Intensivpflege benötigen, und eine etwa 1,4-mal höhere Sterblichkeitsrate als bei Frauen. Abbildung 1 (von der Redn. eingefügt).

„Mit wenigen Ausnahmen ist der geschlechtsabhängige Trend von COVID-19 ein weltweites Phänomen. Zu verstehen, wie das Geschlecht den Verlauf von COVID-19 beeinflusst, wird wichtige Auswirkungen auf das klinische Management und die Strategien zur Milderung dieser Krankheit haben “, schließen sie.

Abbildung 1. SARS-VoV-2-infizierte Männer (m) landen wesentlich häufiger in Intensivstationen (ICU) und weisen höhere Mortalitätsraten (M) auf als Frauen (f). Die Grafik wurde nach den Daten in H. Peckham et al., Tabellen 3 und 4 [1] von der Redaktion erstellt. Die Veröffentlichung steht unter einer cc-by-Lizenz.

Um die offensichtliche Diskrepanz in der Schwere von COVID-19 zu erklären, haben einige Leute vorerst nach geschlechtsabhängigen Stereotypen gesucht, wie einer höheren Risikobereitschaft oder bestimmten Berufen und Aktivitäten von Männern (den Trägern eines X und eines Y-Chromosoms). Aber als der "männliche Trend" von Nation zu Nation auftauchte, ließ sich die schuldige Ursache an den biologischen Geschlechtsunterschieden festmachen, genauer ausgedrückt an den Unterschieden in den Geschlechtschromosomen.

Eine klassische genetische Erklärung, basierend auf dem Phänomen dreifarbiger Katzen

Eine dreifarbige Katze (Kaliko Katze) weist große farbige Flecken auf einer weißen Grundfläche auf, eine Schildpattkatze ein Mosaik aus Orange und Braun ohne Weiß. Abbildung 2. Fast alle Kalikos und Schildpattkatzen sind weiblich, da das Pigmentmuster aus der Expression von nur einem der beiden X-Chromosomen in jeder Zelle resultiert. (Genexpression bezieht sich auf die Zelle, die eine mRNA-Kopie eines Gens erstellt und die Informationen in eine Aminosäuresequenz eines bestimmten Proteins übersetzt. Das Protein bestimmt das zugehörige Merkmal.)

Abbildung 2. Die dreifarbige Katze Butters Lewis.

 

Für alle weiblichen Säugetiere ist die Inaktivierung eines der beiden X-Chromosmen ("X-Inaktivierung") charakteristisch. Damit werden unsere beiden X-Chromosomen zum funktionellen Äquivalent des nur einen X-Chromosoms des Mannes (technisch ausgedrückt: eine Dosis-Kompensierung). Das winzige Y-Chromosom ist im Vergleich dazu mickrig, auch, wenn es das Hauptgen enthält, das bestimmt, ob wir biologisch männlich oder weiblich sind.

Je früher in der Entwicklung eines weiblichen Embryos ein X-Chromosom in jeder Zelle ausgeschaltet ist, desto größer werden die Flecken (was immer deren Merkmale sind), da die Zellen sich weiter teilen und einfach mehr Zeit zum Teilen bleibt. Bei einem Kätzchen mit großen Flecken wurde ihr X-Chromosom als früher Embryo stillgelegt, wie bei Butters in Abbildung 1 (aufgrund ihrer blassen Farben ein „verdünntes“ Kaliko). Das zweite X-Chromosom schaltet sich bei Schildpattkatzen etwas später aus und erzeugt kleinere Flecken. Der weiße Untergrund bei dreifarbigen Katzen rührt von einem Gen auf einem anderen Chromosom her.

Das Phänomen ist epigenetisch. Das heißt, die zugrunde liegende DNA-Sequenz eines X-Chromosoms ändert sich nicht, aber Methylgruppen (CH3-Gruppen) klammern sich an Genabschnitte und schalten diese vorübergehend effizient aus. Diese epigenetischen Veränderungen bleiben in den Geschlechtszellen erhalten und drücken den Zellen erneut ihren Stempel auf, wenn der nachkommende Embryo weiblich ist.

Auf diese Weise macht die X-Inaktivierung jedes weibliche Säugetier zu einem chromosomalen Mosaik. Klinische Auswirkungen ergeben sich aus der Tatsache, dass es mehr oder weniger zufällig ist, welches X-Chromosom still gelegt wird.

So kann das stillgelegte X-Chromosom in einer Hautzelle dasjenige sein, das vom Vater einer Frau geerbt wurde, in einer Leberzelle das von der Mutter der Frau geerbte. Wenn eine Frau Trägerin von Hämophilie ist, ein normales X-Chromosom von ihrem Vater und ein Hämophilie tragendes X-Chromosom von ihrer Trägermutter erbt und das betroffene Gerinnungsfaktor-Gen in den meisten ihrer Leberzellen stillgelegt ist, wird sie leicht bluten (ein Phänomen, das als "heterozygote Manifestation" bezeichnet wird) .Das Gleiche gilt für Muskeldystrophie, die ebenso an das X-Chromosom geknüpft ist

Der Bezug zu COVID-19

SARS-CoV-2 greift gerne bestimmte Zellen an, nämlich solche, die ACE-2-Rezeptoren tragen. Solche Rezeptoren tragen viele Zelltypen, das Virus klammert sich bekanntlich aber an Zellen, welche die Atemwege auskleiden und die Alveolen bilden, jene winzigen ballonartigen Stellen an denen der Austausch zwischen Kohlendioxid im Blutkreislauf und eingeatmetem Sauerstoff stattfindet. Ein anderes Protein, TMPRSS2 (transmembrane Serinprotease-2), hilft dem Virus, in die Zelle einzudringen, und sich dort zu vermehren.

Das Gen, das für den ACE-2-Rezeptor codiert, befindet sich auf dem X-Chromosom.

Wenn also die beiden X-Chromosomen einer Frau unterschiedliche Varianten für Gene tragen, welche die Immunabwehr gegen Viren beeinflussen, kann das Inaktivierungsmuster dazu führen, dass ihre Zellen weniger ACE2-Rezeptoren tragen, was dann weniger Viren eintreten lässt und zu einem milderen Krankheitsverlauf führt. Ein Mann würde dagegen die gleiche Menge an ACE-2-Rezeptoren auf allen Zellen aufweisen, weil sein X -Chromosom niemals ausgeschaltet wird.

Darüber hinaus können zwei X-Chromosomen, auch wenn eines abschaltet, positiv auf die Immunabwehr wirken, indem mehr Optionen angeboten werden. Beispielsweise können Genvarianten auf einem X-Chromosom für Proteine codieren, die Viren erkennen, während Genvarianten auf dem anderen X -Chromosom eine Rolle bei der Abtötung viral infizierter Zellen oder der Auslösung von Entzündungen spielen. Einige Muster der X-Inaktivierung bieten möglicherweise genug von jeder Abwehr, um Infektionen in Schach zu halten. (Beispiele für solche Gene sind CD40LG und CXCR3, die beide für Proteine auf aktivierten T-Zellen kodieren, welche einen Großteil der Immunabwehr kontrollieren).

Einige Gene auf dem X-Chromosom entgehen der Inaktivierung. Zum Glück für uns als das „schwächere“ Geschlecht ist wiederum, dass eines davon das Gen ist, das für den Toll-like-Rezeptor 7 (TLR7) codiert.

Das „TLR7“ -Protein ist eine Art Torsteher, der zunächst das Vorhandensein des Virus erkennt. Anschließend startet es die angeborene Immunantwort, die breiter ist und der spezifischeren adaptiven Immunantwort vorausgeht, bei der B-Zellen - gelenkt von T-Zellen - Antikörper auswerfen. Frauen machen also doppelt so viel aus dem schützenden TLR7-Rezeptor wie Männer.

Einige von uns XX-Trägerinnen zahlen jedoch den Preis für unsere robuste Immunantwort mit Autoimmunerkrankungen, die wir mit höherer Wahrscheinlichkeit entwickeln.

Weitere Faktoren liegen den Unterschieden zwischen den chromosomalen Geschlechtern in Bezug auf Morbidität und Mortalität von COVID-19 zugrunde. Einige Unterschiede ergeben sich aus hormonellen Einflüssen sowie aus den Auswirkungen der wenigen Gene auf dem Y-Chromosom, welche die Immunität beeinflussen.

Natürlich können wir unsere Chromosomen nicht verändern. Das Erkennen von Risikofaktoren und das Verstehen, wie sie sich auf den Verlauf einer Infektionskrankheit auswirken, bei der die Zeit entscheidend ist und die Ressourcen begrenzt und überfordert sind, kann möglicherweise die Handlungsweise lenken und Ärzten bei Triage-Bemühungen helfen, wenn unsere Krankenhäuser überfordert sind.


[1] Hannah Peckham et al., Male sex identified by global COVID-19 meta-analysis as a risk factor for death and ITU admission. NATURE COMMUNICATIONS | (2020) 11:6317. https://doi.org/10.1038/s41467-020-19741-6


*Der Artikel ist erstmals am 10.Dezember 2020 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "Why Do Males Fare Worse With COVID-19? A Clue From Calico Cats" https://dnascience.plos.org/2020/12/10/why-do-males-fare-worse-with-covid-19-a-clue-from-calico-cats/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgt.  Abbildung 1 wurde von der Redaktion eingefügt.


Weiterführende Links

Robin Ball: Secrets of the X chromosome (2017) TED-Ed. Video 5:05 mim (Englisch) https://www.youtube.com/watch?v=veB31XmUQm8

Gottfried Schatz, 26.09.2013: Das grosse Würfelspiel — Wie sexuelle Fortpflanzung uns Individualität schenkt


 

inge Thu, 17.12.2020 - 00:13

Die trügerische Illusion der Energiewende - woher soll genug grüner Strom kommen?

Die trügerische Illusion der Energiewende - woher soll genug grüner Strom kommen?

Georg BrasseurIcon Politik und GesellschaftDo, 10.12.2020 — Georg Brasseur

Europa ist in gewaltigem Ausmaß von Energieimporten abhängig und diese bestehen noch zum weitaus überwiegenden Teil aus fossilen Energieträgern. Der Umbau des Energiesystems auf erneuerbare Energien wird den Bedarf an grünem Strom enorm steigen lassen und weit überschreiten, was in Europa an Wind- und Solarenergiekapazitäten erzielbar ist. Auf Grund ihrer geographischen Lage haben u.a. die Staaten des mittleren Ostens und Nordafrikas (MENA-Staaten) ein sehr hohes Potenzial für erneuerbare Energien. Europäische Investitionen in diesen Ländern, Transfer von Know-How, Technologien bis hin zur Installation von betriebsfertigen Anlagen zur Kraftstoffsynthese aus grünem Strom können einerseits Energieimporte nach Europa sichern, andererseits nachhaltige berufliche Perspektiven und wirtschaftliches Wachstum für die Bevölkerung der MENA-Staaten und anderer Regionen schaffen und damit dort auch Fluchtursachen reduzieren.

Wie in dem vorangegangenen Artikel "Energiebedarf und Energieträger - auf dem Weg zur Elektromobilität" dargestellt, gehen Maßnahmen zur generellen Senkung des heutigen Weltenergiebedarfs und damit der Treibhausgasemissionen mit einer starken Steigerung des Bedarfs an elektrischer Energie einher [1]. Derzeit deckt die elektrische Energie rund 16 % des globalen Energiebedarfs und sie wird noch zum überwiegenden Teil aus fossilen Energieträgern hergestellt. Zur Erzeugung von grünem Strom stehen außer Atomkraft, Biomasse, Wasserkraft und Geothermie nur volatile Quellen zur Verfügung.

Wenn in allen Sektoren - Wohnen, Industrie, Transport - von fossiler Energie auf elektrische Energie umgestellt werden soll, wobei noch ein exponentiell wachsender Informations- und Kommunikationsbereich (IKT-Bereich) hinzukommt, woher soll/kann dann Strom kommen, der nicht aus fossilen Quellen stammt?

Dass ein Ausfall der Stromversorgung - ein Blackout - in allen hochindustrialisierten Ländern katastrophale Folgen haben würde, ist evident, dass die Elektrizitätsversorgung gesichert sein muss, ist daher oberstes Gebot.

Europas Bedarf an grünem Strom

Europa ist in enormem Ausmaß von Energieimporten abhängig und dabei handelt es sich derzeit zum allergrößten Teil um fossile Energieträger. Es stellt sich die Frage: Sind bei einem Umbau des Energiesystems die in Europa erzielbaren erneuerbaren Energien ausreichend, um den künftigen Bedarf an elektrischer Energie zu decken?

Das Beispiel Deutschland

Dies lässt sich am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland abschätzen. Abbildung 1.

Im Jahr 2018 betrug der Bedarf an Primärenergie in Deutschland insgesamt 3650 TWh, davon wurden 35 % (1293 TWh) für die Stromerzeugung eingesetzt und damit Brutto 644 TWh Strom erzeugt (inklusive 34 TWh Eigenverbrauch der Kraftwerke). Nur 18 % der Primärenergie Deutschlands ist Strom und dieser wird zu 29 % aus Braunkohle erzeugt. 90 % der in 2018 in Deutschland geförderten Braunkohle dienen der Stromerzeugung. 30 % der Primärenergie wurden aus dem Inland bereitgestellt (gelb), und 70 % importiert (orange) [4].

Abbildung 1. Primärenergieverbrauch 2018 im Inland nach Energieträgern: Aus dem Inland bereitgestellte Energie (gelb) und importierte Energie (orange) in Petajoule und TWh (1 TWh = 3,6 PJ). Erneuerbare Energie: Biomasse/Bioabfälle/Biokraftstoffe (60 %), Windkraft (22 %), Photovoltaik/Solarthermie (11 %), Wasserkraft (4 %),. Datenstand 6. Dezember 2020; Quelle: https://www.ag-energiebilanzen.de/10-0-Auswertungstabellen.html

Deutschland deckt bereits 13,7% (500,6 TWh) des Primärenergiebedarfs durch erneuerbare Energien ab. 2018 lag die installierte Leistung von Windkraftwerken (29 000 Onshore und 1 350 Offshore) bei 59 GW, von Solarkraftwerken bei 45 GW (ca. 600 km2). Trotz der hohen installierten Leistungen lieferten die Kraftwerke „nur“ ein Drittel der erneuerbaren Energie, da die Einsatzzeiten und erzielbaren Leistungen volatil sind.

Inwieweit lassen sich aber die importierten fossilen Energieträger durch inländische Erneuerbare ersetzen?

Wollte man nur den Energieträger Steinkohle (396,7 TWh) durch erneuerbare Windenenergie ersetzen, so wären bei Betrieb mit der installierten Windkraftleistung von 59 GW im Jahr (d.i. in 8760 Stunden) theoretisch 517 TWh elektrischer Energie zu erzielen. Tatsächlich werden von Onshore Windrädern nur 15 % und von Offshore Windrädern nur 24 % der installierten Nennleistung erreicht. Um also allein Steinkohle zu ersetzen, müsste man die Zahl der Windräder um das 3,2 bis 5,1-fache erhöhen (für das Jahr 2018 war der Faktor 3,6). Ein Ersatz durch Photovoltaik ist noch problematischer, da zufolge der ungünstigen geographischen Lage nur 10 -13 % der Nennleistung erzielt werden. Um allein Steinkohle zu ersetzen, bräuchte man eine 7,7 bis 10-fache Erhöhung der Photovoltaikflächen (für das Jahr 2018 war der Faktor 8,7).

Wollte man nun auch Braunkohle durch Erneuerbare Energien ersetzen, so müsste man die bereits erhöhte Zahl an Windrädern/Photovoltaikflächen verdoppeln, bei Ersatz von Erdgas zusätzlich um das 2,2-fache erhöhen und für den Ersatz von Erdöl zusätzlich um das 3,1-fache erhöhen (insgesamt um das 6,3-fache erhöhen). Man müsste also insgesamt rund 20 bis 32 mal mehr Windräder oder 49 bis 63 mal größere Photovoltaikflächen errichten. Dass dies in Deutschland und Europa wohl nicht durchsetzbar sein wird, ist evident.

Generell lässt sich das angestrebte Null CO2 Szenario mit Strom als alleinige Ersatzenergiequelle nicht lösen, da viele Prozesse gasförmige und flüssige Energieträger benötigen. Damit sind die vorstehenden Angaben zur Anzahl an benötigten Windrädern und Photovoltaikflächen immer noch viel zu gering, da der Wirkungsgrad der Syntheseanlagen für gasförmige und flüssige Energieträger gering ist. Dadurch fallen zusätzliche hohe Investitionen für die Herstellung und Errichtung dieser Anlagen an. Allerdings böte dieser Weg auch große Vorteile, da man auf bestehende Transport-, Verteil- und Nutzungsinfrastruktur zurückgreifen könnte, wenn die Chemie der synthetischen Energieträger kompatibel zu den bestehenden fossilen Energieträgern – sogenannte „Drop-in Fuels“ gewählt würde.

Fakt ist, dass Deutschland, ja ganz Europa, nicht energieautonom sein kann und daher mindestens einen speicherfähigen und leicht transportierbaren Energievektor benötigt, um den grünen Primärenergiebedarf zu decken und damit das null CO2 Ziel in 2050 zu erreichen.

Das Beispiel Österreich

Zahlen des Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen & Tourismus für das Jahr 2018 gehen von einem Bruttoenergiebrauch von rund 508 TWh aus, rund 69 % basierten auf fossilen Energieträgern [2]. Abbildung 2.

Abbildung 2. Bruttoinlandsverbrauch in Österreich nach Energieträgern: Im Inland erzeugte Energie (gelb) und importierte Energie (orange) in Petajoule und TWh (1 TWh = 3,6 PJ). Erneuerbare Energie: Wasser-, Windkraft, Photovoltaik, Biomasse, erneuerbare Abfälle. Quelle: Zahlen entnommen aus [2].

27,3 % der Energie wurden im Inland generiert und bestanden zu rund 82 % aus erneuerbaren Formen, der Großteil (88,8 %) davon stammte aus festen biogenen Brenn- und Treibstoffen (63,06  TWh) und Wasserkraft (37,5 TWh). Windkraft (6,1 TWh) trug etwa 5,4 % zu den Erneuerbaren bei, Photovoltaik (1,4 TWh) rund 1,2 %.

Das österreichische Regierungsprogramm sieht bis 2030 einen Ausbau der Erneuerbaren um 27 TWh vor; insbesondere soll Photovoltaik um 11 TWh (auf rund das 6,5-fache) erhöht werden, Windkraft von 7,4 auf 17,4 TWh, die bereits weit ausgebauten Formen Wasserkraft und Biomasse um 5 TWh und 1 TWh [3]. Österreichs Strombedarf (2018 63,1 TWh [3]) soll dann damit zu 100 % mit erneuerbaren Energien bestritten werden. In Ermangelung ausreichend großer elektrischer Energiespeicher wird Österreich bei wenig Wind und Sonne („kalte Dunkelflautentage“) elektrische Energie aus dem Ausland importieren (aus Atomkraftwerken oder fossil betriebenen Kraftwerken) und, wenn volatile Energie in Österreich im Überfluss vorhanden ist, diese an die umliegenden Länder exportieren müssen. Damit erreicht Österreich nur „am Papier“ einen zu 100 % grünen Strom. Die notwendigen Stromimporte werden weiterhin – wenn auch in abgeschwächter Form – die CO2 Emissionen des österreichischen Stroms bestimmen. Was bedeutet das aber in Hinblick auf einen generellen Ausstieg aus fossilen Energieträgern?

Um Steinkohle (31,7 TWh) nur durch die bis 2030 angepeilte Photovoltaik zu ersetzen, müssten die Photovoltaikflächen (bei 11,8 % Ausnützung (Mittelwert 2016 - 2018) der installierten Nennleistung) nochmals auf das 22-fache gesteigert werden. Der Ersatz nur durch Windenenergie würde die Zahl der Windräder in 2030 (bei 23,3 % Ausnützung der installierten Nennleistung) noch um das 5,2-fache erhöhen. Soll auch Erdgas ersetzt werden, würde dies die Photovoltaikflächen oder Zahl der Windräder dann nochmals um etwa das 97-fache, der Ausstieg aus Erdöl nochmals auf das 130-fache respektive 30-fache erhöhen.

Ein derartiger Umbau des Energiesystems würde zweifellos die Möglichkeiten im Land weit übersteigen.

Woher soll nun grüner Strom kommen?

Die Ressource Wind

In seiner neuesten Ausgabe gibt der Global Wind Atlas 3.0 (https://globalwindatlas.info/) einen Überblick über Größe und Verteilung der weltweiten Wind-Ressourcen und bietet damit die Möglichkeit, Orte mit günstigen Bedingungen für Windkraft schnell zu identifizieren. Ein Farbcode von blau bis rot-violett steht für die umzusetzende Windleistung, die in den einzelnen Regionen per m2 Fläche eines Rotorblattkreises gesammelt werden kann: hellblau mit weniger als 25 W/m2 und grün mit 300 W/m2 bis zu rotviolett mit 1300 W/m2 und mehr. Abbildung 3.

Abbildung 3. Günstige Bedingungen für Windkraft in Europa gibt es in Küstenregionen und auf Bergspitzen, in weiten Teilen ist die umzusetzende Windleistung dagegen niedrig - im Gegensatz zu Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrika (MENA-Region). (Bild: Global Wind Atlas, DTU Wind Energy; https://globalwindatlas.info/. Lizenz: open access)

In Europa überwiegen leider blaue und grüne Regionen. Nur auf Bergspitzen und in Küstenregionen kann man Energien bis zu 1300 W/m2 gewinnen. (Offshore Kraftwerke kommen aber in Bau, Betrieb und Wartung wesentlich teurer als solche am Festland.)

Wesentlich günstigere Bedingungen für Windkraft bestehen dagegen in den MENA-Regionen (Staaten des Mittleren Ostens und Nordafrikas) und generell an zahlreichen Küstenstreifen weltweit.

Im Osten Österreichs gibt es Regionen, die im gelben Bereich der Windkraft liegen, wie beispielsweise das Marchfeld. Abbildung 4. Allerdings: mit der gleichen Investition in ein Windkraftwerk im Marchfeld oder an eines an der norwegischen Küste könnte man dort bedeutend mehr elektrische Energie erzielen.

Abbildung 4. Höhere Windleistung gibt es auf den Bergkämmen und im Osten des Landes. (Bild: Global Wind Atlas, https://globalwindatlas.info/. Lizenz: open access)

Die Ressource Sonnenenergie

Gleiches wie für die Windkraft gilt auch für die Photovoltaik. Dies wird aus den interaktiven Landkarten des Global Solar Atlas (GSA 2.2., https://globalsolaratlas.info/download)  ersichtlich, welche die Sonneneinstrahlung und das Potenzial für Photovoltaik visualisieren. Abbildung 5 zeigt die auf Europa, Nordafrika und mittleren Osten eingestrahlte Sonnenenergie in einem Farbcode, der von blau (pro Jahr 700 kWh/m2) bist rot-violett (>2800 kWh/m2) reicht.

Dem Sonnenstand entsprechend nimmt die Sonnenenergie vom Norden nach Süden hin zu; in Österreich, (Süd-)Deutschland und der Schweiz liegen wir im gelben Bereich, d.i. bei 1200 kWh/m2. In der MENA-Region gibt es dagegen mehr als das Doppelte an Sonnenenergie. Es sind Länder, aus denen mangels Arbeitsmöglichkeiten viele Menschen zu uns einwandern (wollen). Kluge Investitionen in diesen Gegenden könnten dort Beschäftigung und damit Lebensgrundlage für die Bevölkerung schaffen.

Abbildung 5. Entsprechend dem Sonnenstand liegt die eingestrahlte Energie in weiten Teilen Europas im gelben Bereich. d.i. um 1 200 kWh/m2 pro Jahr- Länder des Mittleren Ostens und Nordafrikas (MENA-Region) sowie Wüstengebiete innerhalb eines breiten Bands um den Äquator haben mehr als die doppelte Sonneneinstrahlung. (Bild: Global Solar Atlas, https://globalsolaratlas.info/download) Lizenz: open access)

Erkenntnisse aus den Wind- und Solarenergiekarten

Europa ist gezwungen Energie zu importieren und wird bei einem Umbau des Energiesystems auf erneuerbare Energien keine völlige Unabhängigkeit von Importen erreichen können.

Produktion grüner Energieträger an wirkungsvollen Standorten…

Verglichen mit Europa gibt es in der MENA-Region - weltweit aber auch in vielen anderen Gebieten - wesentlich wirkungsvollere Standorte für Solar- und Windkraftwerke. Warum also sollte man nicht daran denken dort Solar- und Windkraftwerke zu errichten, um die in Europa notwendigen Energieträger (Methan und auch synthetische Kraftstoffe) herzustellen? Methan und auch synthetische Kraftstoffe sind ja unabdingbar um eine „kalte Dunkelflaute“ (wenn kein Wind weht und die Sonne nicht scheint) und Jahreszeitschwankungen zu überbrücken; dazu muss ein mit volatiler Energie versorgtes Netz ca. 15 -20 % der jährlichen Primärenergie speichern können, damit die Energieversorger, immer dann wenn die grüne Energie ausfällt, mit Hilfe von synthetischem grünen Methan und vorhandenen kalorischen Gaskraftwerken, den benötigten Strom bereitstellen.

…bringt Vorteile für Europa…

  • In Europa würde eine Vervielfachung von Photovoltaikflächen und Windparks, für deren Errichtung ja enorme Hürden - Platzmangel, langwierige Genehmigungsverfahren, Bürgerproteste - überwunden werden müssen, vermieden. Und die Zeit läuft ja davon.
  • An den außereuropäischen Standorten kann bei gleicher installierter Leistung ein doppelter Ertrag erzielt werden und ebendort die Primärenergie in die für uns wichtigen Energieträger (Methan und auch synthetische Kraftstoffe) umgewandelt und in vorhandenen Lagern (zwischen)gespeichert werden.
  • Dies bedeutet Absatzmärkte für Solar- und Windkraftwerke und für Syntheseanlagen.
  • Der Transport von flüssigem grünen Methan und grünen Kraftstoffen kann auf der Straße, der Schiene und auf dem Wasser erfolgen (hier unter Nutzung der vorhandenen Tanker); Transportverluste von Kohlenwasserstoffen sind bezogen auf den Energieinhalt nahezu vernachlässigbar.

…und Chancen für außereuropäische Standorte

  • Die Produktion grüner Kraftstoffe würde Arbeitsplätze und damit eine Lebensgrundlage für viele Menschen schaffen. Grünes Methan und grüne Kraftstoffe könnten dann am freien Markt zu erschwinglichen Preisen offeriert werden.
  • In Wachstumsregionen würde dies die Zunahme eines bescheidenen Wohlstands unterstützen ohne, dass es parallel dazu zu einem Anstieg von CO2 kommt (siehe "Energiebedarf - Wohlstand - CO2-Emissionen" in [1]).
  • Die verbesserte wirtschaftliche Grundlage könnte einen Beitrag zur Friedenssicherung leisten und auch zur Eindämmung von Fluchtursachen aus vielen dieser Länder.

Zu den Nachteilen eines solchen Vorgehens

zählt vor allem der niedrige Wirkungsgrad der Synthese von Methan und flüssigen Kraftstoffen; das bedeutet einen sehr hohen Bedarf an Primärenergie und hohe Prozesskosten.

Dazu ein Beispiel:

Nehmen wir an, wir haben einen 2 GW Windpark installiert. Dieser wäre damit etwa 4 mal so groß wie die derzeit größten offshore Windparks in Deutschland; in Windrädern ausgedrückt wären es 286 Stück zu je 7 MW und einer Ausdehnung von rund 160 km2. Bei 24 % Auslastung (siehe oben "Das Beispiel Deutschland") liefert ein solcher Park mit Nennleistung betrieben 4,2 TWh im Jahr (zum Vergleich: Österreich verbraucht im Jahr 60 - 65 TWh elektrische Energie). Wenn wir nun den Strom verwenden, um Flüssigmethan oder Diesel herzustellen ("power to X") und damit Tanker beladen, so liegt der Wirkungsgrad der Umwandlung je nach Verfahren bei 43 - 71 %. Von den 4,2  TWh bleiben somit 1,8 - 3,1 TWh übrig. Um einen LNG-Tanker (LNG: Liquid Natural Gas; verflüssigtes Methan) mit einer Kapazität von 250 Millionen Liter zu füllen, muss der 2GW-Windpark 6 - 9 Monate in Betrieb sein; für die Füllung eines Dieseltankers mit 350 Millionen Liter Kapazität wären 1,35 - 2,1 Jahre Laufzeit notwendig. Gelöscht wird diese Ladung innerhalb von weniger als 24 Stunden.

Dies zeigt, wie mühsam es ist grüne Energie einzuführen und wie unwahrscheinlich hoch die Energiedichte fossiler Energie, die wir chemisch perfekt nachbilden können, ist. Und das muss auch das Ziel sein!

Eine so importierte grüne Energie wird man dringend brauchen, um unsere Netze zu stützen, da man ja in verstärktem Maß auf fossiles Erdgas verzichten wird müssen. Zweifellos werden die Importe nicht primär dazu dienen, dass man Autos damit betreibt.

Das Ziel: Elektrizität frei von fossiler Energie

Fossile Brennstoffe sind nach wie vor die dominante Energiequelle weltweit, eine Tatsache, die sich nur langsam (vielleicht zu langsam?) ändern wird.

  • Fast alle derzeit diskutierten Wege für eine signifikante CO2-Reduktion erfordern Strom aus CO2-neutralen Quellen: Geothermie, Wind, Photovoltaik & sichere Kernenergie. Auf globaler Ebene wird es Jahrzehnte dauern, bis CO2-freier Strom Realität wird.
  • Die CO2-Reduktion ist ein globales Thema, kein lokales. Wo die Bevölkerung wächst und wohlhabend wird, wachsen die CO2-Emissionen. Die Entkopplung der Energie von den CO2-Emissionen ist entscheidend (siehe [1]).
  • Auch die armen, wachsenden Nationen bestimmen zufolge der großen Anzahl, die Erreichung der Paris-Ziele und nicht nur die reichen und technologisch führenden Länder (Ausnahme China).

Es besteht also dringender Handlungsbedarf …

Der Schlüssel für eine sofort wirksame globale CO2-Reduktionsstrategie ist Energieeinsparung: d.i. ohne Einbußen mit weniger Primärenergie auskommen. Dies ist möglich durch Thermische Isolation, Wärmepumpen für Kühlung & Heizung und industrielle Verbesserungen [1].

Gleichzeitig ist der Ausbau von grünen Kraftwerken, Netzen und Energiespeichern zu forcieren. Dadurch können BIP & fossiler Energieverbrauch entkoppelt werden, der Wohlstand steigen bei sinkendem fossilem Energieverbrauch und damit auch sinkendenTreibhausgas-Emissionen.

Anlagen zum Synthetisieren von Methan/Kraftstoffen aus volatiler Energie sollten außerhalb Europas zur Stromerzeugung in Europa errichtet werden. Es ist eine Verpflichtung der technologisch führenden Länder, global einsetzbare CO2-Reduktionstechnologien unter Berücksichtigung der lokalen Infrastruktur zu entwickeln und anzubieten. Wir könnten vielen Ländern Miniraffinerien schlüsselfertig zur Verfügung stellen - viele Tausende Anlagen über die ganze Welt verteilt. Damit würden wir dort neue Arbeitsmöglichkeiten und Wege zum Wohlstand bieten und gleichzeitig die Abhängigkeit von den Erdöl fördernden Nationen verlieren.

…wo aber bleibt die Elektromobilität?

Der Umbau des Energiesystems wird viel mehr elektrische Energie benötigen als derzeit verbraucht wird. Dazu kommt ein weltweit geradezu explodierender Bedarf des IKT-Bereichs, der nur mit Strom funktioniert [1].

Für die nächsten 10-20 Jahre ist daher kaum Elektrizität für den Verkehr verfügbar. Die Menge an elektrischer Energie ist hierbei nicht der Flaschenhals, sondern die hohen Ladeleistungen – weil es schnell sein muss – der Elektroflotten. Diese Netzleistungen können nicht ohne signifikanten Netzausbau erbracht werden. Es bleibt also nur Energie zu sparen, um Zeit für den Infrastrukturaufbau zu gewinnen. Das ist einerseits schlecht für die Elektromobilität, aber der Verkehr hat auch andere Optionen.

Wasserstoff kann vielleicht die Mobilitätslösung der Zukunft werden: derzeit ist aber kein grüner Strom für die H2-Produktion verfügbar. Steamreforming (Umsetzung von kohlenstoffhaltigen Energieträgern, vor allem von Erdgas, und Wasser unter Zuführung der Reaktionswärme) schadet der Umwelt. Für eine globale grüne H2-Zukunft werden große Mengen an grünem Strom benötigt, es sind noch hohe Investitionen zu tätigen und viel Zeit wird erforderlich sein.

Elektro-Hybridkonzept als Brückentechnologie

Um CO2 zu reduzieren, wird es in den kommenden Jahrzehnten für den Verkehrssektor der einzige global realistische Weg sein, Energie zu sparen; also Verbrennungskraftmaschinen (Vkm) nur in einem Punkt bei optimalem Wirkungsgrad als Fuel-Converter (Kraftstoffwandler) zu betreiben. Abbildung 6.

Abbildung 6. Ein neues Hybridkonzept ermöglicht signifikante Kraftstoff- und CO2-Reduktion

Man benötigt dazu ein Elektro-Hybridkonzept, das den rein elektrischen Antriebsstrang aus einem Powertank (elektrischem Hochleistungsspeicher) versorgt, und die Vkm stellt mittels eines mit der Vkm verbundenen Generators sicher, dass der elektrische Energiespeicher nicht leer wird [5].

Ein Hybridkonzept mit einem Fuel-Converter und Powertank basiert auf bewährten Technologien ist weltweit nutzbar und schnell im globalen Markt einzuführen. Arme, aber wachsende Nationen könnten ohne Investitionen die bestehende Versorgung mit flüssigen Kraftstoffen weiterhin verwenden und durch Beimischung synthetischer Kraftstoffe CO2 weiter senken.

Europa könnte mit dem Hybridkonzept zum Weltmarktführer in der Elektromobilität werden - allerdings nur als Brückentechnologie bis global grüner Strom und daraus produzierte synthetische Kraftstoffe in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen.

In 20 – 30 Jahren wird dann vielleicht ausreichend Überschussstrom für die Elektromobilität oder die Wasserstoffmobilität zur Verfügung stehen und auch, um synthetische Kraftstoffe für Land-, See-und Flugverkehr bereit zu stellen. 


[1] Georg Brasseur, 24.9.2020: Energiebedarf und Energieträger - auf dem Weg zur Elektromobilität.

[2] Bundesministerium für Landwirtschaft Regionen & Tourismus, bmlrt, Energie in Österreich 2019, access 21.3.2020, https://www.bmlrt.gv.at/dam/jcr:3c2b8824-461c-402e-8e1d-da938d6ece8b/BMNT_Energie_in_OE2019_Barrierefrei_final.pdf

[3] Land am Strom, Jahresbericht Österreichs Energie 2020. https://oesterreichsenergie.at/jahresmagazin-land-am-strom.html

[4] BDEW, Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V.: Gesamtstromverbrauch in Deutschland, https://www.bdew.de/media/documents/20190107_Zahl-der-Woche_Gesamtstromverbrauch.pdf, access 29.11.2020

[5] G. Brasseur, Hochwirkungsgrad Hybridantrieb für nachhaltige Elektromobilität, ÖAW-Verlag, 11.2.2020, https://epub.oeaw.ac.at/0xc1aa5576_0x003b46cd.pdf


Artikel zur Energiewende im ScienceBlog

Robert Schlögl, Serie: Energie - Wende - Jetzt

Redaktion, 19.09.2019: Umstieg auf erneuerbare Energie mit Wasserstoff als Speicherform - die fast hundert Jahre alte Vision des J.B.S. Haldane

Erich Rummich, 02.08.2012; Elektromobilität – Elektrostraßenfahrzeuge

Niyazi Serdar Sariciftci, 22.05.2015: Erzeugung und Speicherung von Energie. Was kann die Chemie dazu beitragen?


 

inge Wed, 09.12.2020 - 23:55

Comments

Sehr aufschlussreich ist auch ein Vortrag von Prof. Hans-Werner Sinn zum Thema. (Den ich schätze, weil er sich darin jeglicher Polemik – Stichwort ›Zappelstrom‹ – enthält!)

Anti-Antibiotikum - zusammen mit Antibiotikum angewandt - kann die Entwicklung von Antibiotika-resistenten Bakterien stoppen

Anti-Antibiotikum - zusammen mit Antibiotikum angewandt - kann die Entwicklung von Antibiotika-resistenten Bakterien stoppen

Fr, 04.12.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Medizin Antibiotika sind für die Behandlung bakterieller Infektionen unentbehrlich. Ihre Anwendung kann jedoch zur Entwicklung und Übertragung von resistenten Bakterien führen. Infektionen mit solchen Bakterien machen eine Behandlung schwierig oder gar aussichtslos. Angesichts des massiven Problems von akquirierten resistenten Keimen in Krankenhäusern und vor allem in Intensivstationen, ist die Suche nach Wegen zur Verhinderung der Resistenzentstehung vordringlich. In einer eben erschienenen Studie [1] wird eine derartige Strategie vorgestellt, nämlich, dass gleichzeitig mit Antibiotka angewandt Adjuvantien - hier das bereits lange als Cholesterinsenker angewandte Colestyramin - die Entwicklung von Resistenzen - hier gegen das derzeit potenteste Antibiotikum Daptomycin - verhindern können.*

Der erste Globale Sepsis-Report der WHO

Im September d.J. ist der erste Globale Sepsis Report "On the Epidemiology and Burden of Sepsis" der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erschienen. Sepsis ("Blutvergiftung") wird dabei als eine lebensbedrohende Fehlfunktion von Organen definiert, die durch eine fehlregulierte Antwort des Wirtes auf eine Infektion ausgelöst wird. Erste Abschätzungen der weltweiten Sepsis-Erkrankungen und -Todesfälle wurden für das Jahr 2017 erstellt und bieten ein erschreckendes Bild: etwa 49 Millionen Menschen (davon 40 % Kinder und Jugendliche) waren in diesem Jahr an Sepsis erkrankt, etwa 11 Millionen starben daran. Mit rund 20 % aller Todesfälle ist Sepsis damit eine der Haupttodesursachen; nach Ansicht der WHO wären sehr viele dieser Todesfälle vermeidbar. Aus dem Report ist ein globaler Überblick über Inzidenz und Mortalität von Sepsis in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1. Weltweite Inzidenz von Sepsis pro 100 000 Personen (A) von und Mortalitäten in % aller Todesfälle (B) nach Altersgruppen. (Quelle: WHO: Global Report on the Epidemiology and Burden of Sepsis (September 2020) [2]; das Bild steht unter einer cc-by-nc-Lizenz)

Sepsis ist insbesondere für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen ein sehr ernstes Problem. Eine systematische Analyse der WHO für den Zeitraum 2000 - 2018 zeigt, dass in 1 von 4 aller in den Spitälern behandelten Sepsis-Fällen und in 1 von 2 Fällen in den Intensivstationen, diese dort selbst akquiriert wurden [2]. Bis zu ein Drittel der Infektionen wurden durch Antibiotika-resistente Bakterien verursacht. Die Mortalität auf Grund solcher erworbenen Infektionen lag insgesamt bei 24 %, auf den Intensivstationen bei 52,3 %.

Zur Entwicklung resistenter Bakterien im Darm

Antibiotika sind das Um und Auf in der Behandlung bakterieller Infektionen. Allerdings kann ihre Verwendung - ohne dass man es will - zur Entwicklung von Bakterien führen, die nicht mehr auf Antibiotika ansprechen, die dagegen resistent geworden sind. Infektionen mit solchen Bakterien machen eine Behandlung schwierig oder gar aussichtslos. Um die Wirksamkeit von Antibiotika bewahren zu können, muss man daher nach Wegen suchen die Entstehung von Resistenzen gegen Antibiotika zu verhindern.

Viele Bakterienstämme, die in Krankenhäusern Infektionen verursachen, leben im Darm, wo sie an sich harmlos sind. Gelangen diese Bakterien allerdings in den Blutkreislauf, so können sie lebensbedrohliche Infektionen verursachen. Wenn an Sepsis-Patienten nun Antibiotika verabreicht werden - intravenös, intramuskulär, topisch oder auch peroral -, so sind auch die Bakterien in ihrem Darm diesen Medikamenten ausgesetzt. Die Antibiotika können dort dann alle Bakterien, die für diese Antibiotika sensitiv sind, abtöten und nur solche zurücklassen, welche auf Grund von Mutationen die Medikamente überleben. Solche arzneimittelresistenten Bakterien können sich dann (u.a. durch fäkale Schmierinfektionen; Anm. Redn.) auf andere Patienten ausbreiten und in Folge schwerst behandelbare Infektionen verursachen.

Ein wichtiger Erreger von Antibiotika-resistenten Infektionen in Krankenhäusern ist der bereits gegen das Antibiotikum Vancomycin resistente Keim Enterococcus faecium (VR E. faecium). Das derzeit potenteste Antibiotikum Daptomycin (Abbildung 2, oben) ist eine der wenigen verbleibenden Primärtherapien bei VRE-Infektionen. Allerdings beginnt sich auch Resistenz gegen Daptomycin in Enterococcus-Populationen auszubreiten; wesentlicher Treiber dafür dürfte dessen derzeitige therapeutische Anwendung sein.

Abbildung 2. Oben: das Antibiotikum Daptomycin ist ein cyclische Lipopeptid, das aus einem Ring aus Aminosäuren und einer angehängten Fettsäurekette (links im Bid) besteht. Der Wirkungsmechanismus (gegen gram-positive Bakterien) ist von dem anderer Antibiotika verschieden und  in den 17 Jahren seit der Markteinführung sind  bislang wenige Resistenzen aufgetreten. Unten: Colestyramin ist ein stark basisches, aus Styrolgruppen bestehendes Polymer mit eingefügten Trimethylammoniumgruppen. Das sehr große Molekül bindet u.a. Cholesterin, Gallensäuren und viele andere Biomoleküle und - da es nicht aus dem Darm in den Organismus aufgenommen werden kann - wird es mit den assoziierten Stoffen über den Kot ausgeschieden (Quelle: Wikipedia, beide Bilder sind gemeinfrei). 

E. faecium ist ein opportunistischer Erreger, der den menschlichen Verdauungstrakt besiedelt ohne dabei Symptome hervorzurufen; er kann sich aber auch über eine fäkal-orale Übertragung ausbreiten und symptomatische Infektionen verursachen, wenn er beispielsweise an Stellen des Blutkreislaufs oder der Harnwege Eingang in Gewebe/Organe findet. Zur Behandlung von Infektionen mit Krankheitserregern wie VRE und Staphylococcus aureus wird Daptomycin intravenös verabreicht. Das im Darm sitzende E. faecium kann während einer solchen Therapie dem Daptomycin ausgesetzt sein, was möglicherweise zur Übertragung von Daptomycin-resistentem E. faecium beiträgt. Dies lässt sich auf Grund der Pharmakokinetik (d.i. dem Schicksal eines Wirkstoffs im Organismus) von Daptomycin erklären: Daptomycin wird vorwiegend in unveränderter Form hauptsächlich über die Nieren ausgeschieden, 5–10% der Dosis gelangen aber über die Gallenausscheidung in den Darm. Es ist dies eine therapeutisch völlig unnötige Daptomycin-Exposition des Darms, welche dort die Resistenzentwicklung von E. faecium treiben könnte; diese Keime werden dann zu Quellen für nosokomiale Infektionen (im Zuge des Aufenthalts oder der Behandlung in einem Krankenhaus erworbene Infektionen) und für eine Übertragung von Patient zu Patient.

Ein Anti-Antibiotikum kann die Resistenzentwicklung im Darm blockieren

Wenn eine unvorhergesehene Daptomycin-Exposition des Darms die Resistenzentwicklung bei E. faecium antreibt, so bietet dies die Chance hier einzugreifen. Es ist eine Chance, die aus einem wesentlichen Merkmal dieses Systems resultiert: Die Bakterien, die eine Infektion (im Blutkreislauf) verursachen, sind physisch von der Population im Darm separiert, die zur Übertragung beiträgt. Könnte man also das in den Darm gelangende Daptomycin inaktivieren ohne die erforderlichen, antibiotisch wirksamen Konzentrationen im Blutkreislauf zu verändern, so könnte Daptomycin verwendet werden, um Bakterien an dem Zielort der Infektion abzutöten, ohne dabei die Entstehung von Resistenz in Populationen außerhalb dieser Stellen zu erhöhen. Die Verhinderung der Resistenzentwicklung in diesen Reservoirpopulationen könnte Patienten vor dem Akquirieren resistenter Infektionen schützen und die Verbreitung resistenter Stämme und damit die Übertragung auf andere Patienten limitieren.

Ein Forscherteam der Penn-State University und der University Michigan hat nun die Hypothese aufgestellt, dass die Entstehung von Daptomycin-Resistenz verhindert werden kann, wenn während der intravenösen Behandlung mit Daptomycin gleichzeitig ein orales Adjuvans gegeben wird, welches die Wirksamkeit des Antibiotikums im Darm verringert [1]. Unter Verwendung von Colestyramin (Abbildung 2, unten ) als Adjuvans haben die Forscher diese Hypothese in einem E. faecium Darm-Kolonisierungsmodel an der Maus getestet.

Colestyramin ("Cubicin") ist ein altes, bereits vor mehr als 50 Jahren eingeführtes Agens zur Senkung hoher Cholesterinspiegel, das vor dem Aufkommen der Statine viel verwendet wurde. Colestyramin ist ein stark basisches Polymeres aus Styrolketten mit eingefügten Aminogruppen, das zahlreiche Biomoleküle (u.a. Cholesterin, Gallensäuren Vitamine A und D) bindet und auf Grund seiner Größe (Molekulargewicht um 1 000 kD) und seines hydrophilen Charakters aus dem Darm nicht in den Organismus aufgenommen werden kann. Wie in vitro Untersuchungen im Labor ergeben hatten, bindet Colestyramin auch das Antibiotikum Daptomycin sehr fest und kann dessen Konzentration und Wirksamkeit enorm verringern [1].

Vorerst haben die Forscher nun an der Maus die Resistenzentwicklung von E. faecium gegen Daptomycin untersucht. Dazu haben sie die Substanz in unterschiedlichen Dosierungen den Tieren subcutan injiziert. Wie Analysen des ausgeschiedenen Kots zeigten, gelangte Daptomycin in ausreichenden Konzentrationen in den Darm, um dort die Bildung resistenter Formen von E. faecium auszulösen. Wachstum und entsprechende Ausscheidung der resistenten E. faecium Keime konnten nur durch enorm hohe Dosen Daptomycin unterdrückt werden. Wurde jedoch Colestyramin (oral) und Daptomycin (subcutan) gleichzeitig an die Mäuse appliziert, so konnte das Wachstum von Antibiotika-resistenten Bakterien im Darm der Mäuse (gemessen an resistenten Keimen im Kot) um das 80-fache reduziert werden ohne die wirksamen Konzentrationen des Antibiotikums im Blut zu beeinflussen. Diese Ergebnisse sind eine vorläufige Bestätigung, dass Colestyramin als eine Art Anti-Antibiotikum eingesetzt werden könnte. Bei gleichzeitiger Gabe mit einem Antibiotikum (nicht nur von Daptomycin) könnte es dazu beitragen die Entstehung von Arzneimittelresistenzen im Mikrobiom des Darms zu verhindern/reduzieren und damit deren Verbreitung über fäkale Kontaminationen. Abbildung 3.

                                                                     

Abbildung 3. Das Adjuvans Colestyramin, peroral gegeben,  gleichzeitig mit dem intravenös applizierten Antibiotikum Daptomycin könnte die Entstehung von resistenten Bakterien im Darm unterbinden  ohne die wirksamen Antibiotikum-Konzentrationen im Blut zu beeinflussen.

Natürlich sind weitere Studien erforderlich, um festzustellen, ob Colestyramin Darmbakterien vor systemisch applizierten Antibiotika schützen und auch bei Menschen Antibiotikaresistenzen verhindern kann. Für Colestyramin, das bereits seit Jahrzehnten therapeutisch zur Senkung des Cholesterinspiegels bei Menschen eingesetzt wird, wäre dies eine Neuanwendung, ein sogenanntes "drug repurposing": ohne zahlreiche präklinische Studien und Verträglichkeitsstudien könnte eine Zulassung in der neuen Indikation in verkürzter Entwicklungszeit und mit reduzierten Kosten erfolgen.


[1] Valerie J. Morley et al., "An adjunctive therapy administered with an antibiotic prevents enrichment of antibiotic-resistant clones of a colonizing opportunistic pathogen" eLife 2020;9:e58147. DOI: https://doi.org/10.7554/eLife.58147

[2] WHO: GLOBAL REPORT ON THE EPIDEMIOLOGY AND BURDEN OF SEPSIS (September 2020) https://www.who.int/publications/i/item/9789240010789


* Dem Artikel liegt die von Valerie J. Morley et al., stammende Publikation "An adjunctive therapy administered with an antibiotic prevents enrichment of antibiotic-resistant clones of a colonizing opportunistic pathogen" zugrunde, die am 1. Dezember 2020 in eLife 2020;9:e58147. DOI: https://doi.org/10.7554/eLife.58147 erschienen ist. Der Digest, Teile der Einleitung und der Ergebnisse wurden von der Redaktion ins Deutsche übersetzt und für ScienceBlog.at adaptiert (Untertitel, Abbildungen).Zusätzlich wurde ein Abschnitt über den im September erschienenen Globalen Sepsis Report der WHO von der Redaktion eingefügt. eLife ist ein open access Journal, alle Inhalte stehen unter einer cc-by Lizenz.

 


Weiterführende Links

Wachsende Bedrohung durch Keime und gleichzeitig steigende Antibiotika-Resistenzen? Video 7:18 min (aus der Uniklinik Bonn - stimmt auch für Österreich) Standard YouTube Lizenz. https://www.youtube.com/watch?v=lEoLh0ZBt34

Zahlreiche ScienceBlog-Artikel beschäftigen sich mit resistenten Keimen, u.a:


 

inge Fri, 04.12.2020 - 03:04

Impfstoffe zum Schutz vor COVID-19 - ein Überblick

Impfstoffe zum Schutz vor COVID-19 - ein Überblick

Fr 28.11.2020 Inge Schuster Inge SchusterIcon Medizin

Die COVID-19 Pandemie kennt keine territorialen Grenzen. In der stärkeren "zweiten Welle" dieser Pandemie erleben wir nun die verheerenden Auswirkungen auf Leben und Gesundheit so vieler Mitmenschen und ebenso auf den Zusammenbruch unserer Lebensweise und wir fragen uns, wie weit unsere ökonomischen Systeme noch belastbar sind. Ein Lichtblick in dieser globalen Krise sind die enormen weltweiten Anstrengungen von Wissenschaftern in Forschung und Entwicklung, die in kürzester Zeit zu vielversprechenden Impfstoffkandidaten geführt haben; drei solcher Impfstoffe stehen kurz vor der behördlichen Zulassung. Diese und eine Fülle weiterer Kandidaten, deren Entwicklungsstatus zum Teil schon recht weit fortgeschritten ist, geben Hoffnung auf wirksame und sichere Vakzinen, welche die Ausbreitung des Virus unterbinden/eindämmen werden.

Für uns alle ist es eine noch nie dagewesene Situation - COVID-19 hat die Gesundheitssysteme weltweit an ihre Grenzen gebracht oder diese bereits überschreiten lassen. Aktuell gibt es laut dashboard der John-Hopkins-University https://www.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 bereits über 60 Millionen mit SARS-CoV-2 Infizierte, über 1, 4 Millionen, die daran bereits verstorben sind und täglich kommen derzeit über 600 000 Neuinfektionen und 12 000 Tote dazu .

Abgesehen von den hinter diesen Zahlen stehenden, unbeschreibbaren menschlichen Tragödien, verursacht die Pandemie auch ungeheure ökonomische Schäden an unseren Gesellschaften: laut Internationaler Weltwährungsbank (IMF) beziffert sich bei andauernder Pandemie der ökonomische Schaden auf monatlich 500 Milliarden Dollar. Dabei sind die durch Lockdowns ausgelösten Beeinträchtigungen der Bevölkerung noch gar nicht mit einbezogen.

Die Suche nach wirksamen Impfstoffen…

Die am Beginn von 2020 losgetretene COVID-19 Pandemie hat die gesamte Welt in Angst und Schrecken versetzt und die globale Suche nach Lösungen intensiviert, insbesondere die Suche nach wirksamen, die Pandemie eindämmenden Impfungen beschleunigt. Binnen kürzester Frist sind dazu weltweit weit mehr als 200 Projekte angelaufen: die letzte Angabe der Weltgesundheitsorganisation WHO (Aufstellung vom 12.11.2020) zählte schon 225 Impfstoffkandidaten, die sich in präklinischer und klinischer Entwicklung befinden. Der wöchentlich aktualisierte COVID-19 vaccine tracker (https://vac-lshtm.shinyapps.io/ncov_vaccine_landscape/; basierend auf den neuesten Informationen der WHO, dem Milken Institute und der US-Datenbank clinicaltrials.gov.) listet insgesamt 261 Impfstoffkandidaten, von denen sich 203 in der präklinischen Entwicklung befinden und 58 in den unterschiedlichen Phasen klinischer Studien (siehe unten).

Das Ziel all der darin involvierten Wissenschafter in Forschung und Entwicklung sind Impfstoffe, die für verschiedene Bevölkerungsgruppen einen möglichst weitreichenden, langandauernden Schutz vor Ansteckungen bieten und dabei möglichst wenige und dann nur milde Nebenwirkungen auslösen.

Wie man sich generell den Entwicklungsweg einer COVID-19- Vakzine vorstellen sollte, ist in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1. Die Stufen einer Impfstoffentwicklung. (Bild: Die Forschenden Pharmaunternehmen: https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/woran-wir-forschen/impfstoffe-zum-schutz-vor-coronavirus-2019-ncov)

In den Stufen 1 - 3 sind die Phasen präklinischer Forschung und Entwicklung zusammengefasst, in Stufe 4 die gesamte klinische Entwicklung, die in 3 Phasen abläuft. Phase 1 an einer relativ kleinen Zahl junger, gesunder Freiwilliger dient zur Bestimmung des Dosierungsschemas und der Entdeckung von möglicherweise limitierenden Nebenwirkungen. In Phase 2 an einer größeren Zahl von Probanden gibt es dann weitere Informationen zu Nebenwirkungen und erstmals grobe Informationen zur Wirksamkeit. In Phase 3 an einer großen Population, quer durch die Bevölkerung, werden dann in Doppel-Blind-Studien - Impfstoff versus Placebo - Wirksamkeit und Nebenwirkungen getestet.

Wenn diese Studien erfolgreich verlaufen, werden nach Abschluss die Ergebnisse analysiert und dokumentiert. Bei positivem Ausgang wird dann eine Impfstoffanlage gebaut, um große Chargen des Impfstoffs zu produzieren, wie sie für die Versorgung der Bevölkerung gebraucht werden. Dann wird die gesamte Dokumentation bei den Behörden (EMA für die EU, FDA für Amerika) eingereicht und um die Zulassung angesucht.

War bis vor wenigen Jahren ein Zeitraum von rund 15 Jahren für den Forschungs- & Entwicklungsprozess eines neuen Impfstoffes üblich, so verläuft bei COVID-19 nun alles viel schneller: Vorerfahrungen mit verwandten Viren (SARS-CoV-1 und MERS), verbesserte Technologien und parallele Durchführung verschiedener Aktivitäten können den Prozess enorm beschleunigen. In der Phase 3 Studie gibt es zwar keine Zeitersparnis, dafür läuft in zahlreichen Unternehmen bereits während dieser Phase die Produktion des Impfstoffs an und dieser ist nach positivem Abschluss der Studie bereits verfügbar - bei negativem Ausgang ist allerdings viel Geld in den Sand gesetzt worden.

Zeit gespart wird auch durch den Abbau bürokratischer Hürden im Einreichungs-/Registrierungsverfahren: Forschungsinstitutionen/Firmen können frühzeitig mit den Zulassungsbehörden in Kontakt treten und diesen die Studienergebnisse laufend übermitteln; die EMA bietet an die Daten in einem "Rolling-Review-Verfahren" so schnell wie möglich zu überprüfen.

…führte bereits zu drei vor der Zulassung stehenden Kandidaten …

Für drei Impfstoffkandidaten, die in abschließenden Phase 3 Studien an 30 000 bis 43 600 freiwilligen Probanden Schutz vor COVID-19 bei nur milden Nebenwirkungen gezeigt hatten, ist so eine rasche Zulassung - vielleicht noch in diesem Jahr - in den Bereich der Möglichkeit gerückt.

Tabelle 1 fasst Hersteller, Informationen zur Phase 3-Studie und - bei erfolgreicher Registrierung - die geplante Produktion von Dosen (in Millionen) und deren voruaussichtlichen Preis  zusammen.

Tabelle 1. Drei erfolgversprechende Impfstoffkandidaten. Nach zweimaliger intramuskulärer Applikation im Abstand von 28 Tagen boten die beiden mRNA-Vakzinen einen Schutz von über 90 % , die Vektorvirenvakzine von bis zu 90 % vor COVID-19 (laut Pressemitteilung der Firmen). Impfstofftypen werden weiter unten erklärt.


 

Firmen/Institutionen


 

Impfstofftyp

       Phase 3 (Doppelblind-Studie)

Impfstoff (Planung)

   Kandidat

  Probanden

  Dosen

Dosen [Mio]

2020/21

Preis [€]

Moderna/NIAID

mRNA

mRNA-1273

30 000

    2x i.m.       (d 0, 28)

20 /bis 1000

28

BioNTech/Pfizer/Fosun

mRNA

BNT162b2

43 661

     2x, i.m. (d 0, 28)

50/bis 1300

17

Univ. Oxford/Astra Zeneca

Vektorviren

ChAdOx1

30 000

     2x, i.m. (d 0, 28)

4/bis 100

3

 

Bei den Studien handelte es sich um Doppelblind-Studien, d.h. die Hälfte der Probanden hat den Impfstoff erhalten, die andere Placebo. Die ersten Zwischenergebnisse (an 50 oder weniger % der Probanden) wurden vergangene Woche vorerst nur in Presseausendungen mitgeteilt: diese gaben für die Studie von Moderna/NIAID  95 Infektionsfälle an, wobei 90 auf die Placebogruppe entfielen und für die Studie von BioNTech/Pfizer/Fosun 170 Infektionsfälle mit 162 in der Placebogruppe. Die Schutzwirkung der beiden mRNA-Impfstoffe lag damit bei über 90 %. In der Studie von Univ. Oxford/Astra Zeneca waren (aus Versehen) zwei unterschiedliche Dosierungsschemata angewandt worden: eine der so geimpften Gruppen (N = 2741 Probanden) war zu 90 % geschützt, die andere (N = 8895 Probanden) zu 62 %.

Kurz nach Aussendung der vielversprechenden Zwischenergebnisse haben BioNTech/Pfizer und AstraZeneca bei den Behörden (FDA rsp. EMA) um die Notzulassung angesucht; das Ansuchen von Moderna wird in Kürze erwartet. Vieles ist allerdings noch unklar, u.a. ob die Impfung nicht nur vor der Erkrankung COVID-19 sondern auch vor der (asymptomatischen) Infektion mit dem Virus schützt, ob die unterschiedlichen Altersgruppen und ob chronisch Kranke gleich gut geschützt werden, wie lange der Impfschutz anhält (die Probanden waren ja nur 2 Monate nach der zweiten Injektion beobachtet worden), ob  später unerwünschte Nebenwirkungen auftreten.

Wollen wir hoffen, dass die Studien nach ihrer Endauswertung überzeugende Antworten auf diese Fragen geben werden!

...und zu einer vollen Pipeline weiterer Impfstoffkandidaten ...

Wie bereits oben erwähnt gibt es derzeit 261 Impfstoffkandidaten von denen sich 203 in der präklinischen Forschung & Entwicklung befinden und bereits 58 in den unterschiedlichen Phasen klinischer Studien; von diesen haben schon 11 die Hürden zur entscheidenden Phase 3 genommen. Abbildung 2.

Abbildung 2. Der weltweite Stand in der COVID-19 Impfstoffentwicklung - Pipeline der Impfstoffkandidaten und Impfstofftypen. Eine Erklärung der Impfstofftypen findet sich im nächsten Abschnitt. V. inaktiviert/abgeschwächt bedeutet inaktiviertes/abgeschwächtes Virus, Vektorviren r/nr = Vektorviren replizierend/nicht replizierend (Die Grafiken wurden aus den Daten des COVID-19 vaccine tracker vom 23.11.2020 erstellt. https://vac-lshtm.shinyapps.io/ncov_vaccine_landscape/).

An den Impfstoffprojekten arbeiten weltweit vor allem viele Industrieunternehmen - große Konzerne wie Pfizer, Janssen, GlaxoSmithKline, Sanofi oder AstraZeneca mit Erfahrung in der Impfstoffentwicklung sind dabei, ebenso wie viele kleine Unternehmen, die zur Entwicklung ihrer Kandidaten Kooperationen eingehen. Rund 30 % der Projekte werden von akademischen Institutionen, staatlichen Einrichtungen und non-Profit Organisationen geleitet. Der Großteil dieser Aktivitäten findet in Nordamerika statt, gefolgt von Asien (hier vor allem von China) und Europa.

Was bedeutet die Fülle an potentiellen Impfstoffen für die Zahl der Produkte, die tatsächlich den Markt erreichen?

Langjährige Erfahrung mit Virus-Vakzinen zeigt, dass etwa 7 % der Impfstoffkandidaten in der Präklinik den Übergang in die Klinik schaffen und von diesen dann 20 % die klinischen Phasen erfolgreich durchlaufen und registriert werden (siehe Weiterführende Links:  WHO: What we know about COVID-19 vaccine development).

Aus der aktuellen Pipeline  könnten somit an die 15 Impfstoffe hervorgehen!

… mit unterschiedlichen Impfstofftypen

Unser Immunsystem funktioniert, indem es etwas als fremd erkennt und darauf reagiert. Impfstoffe provozieren die Reaktion des Immunsystems indem sie ein Pathogen, also einen Krankheitserreger präsentieren, der in einer modifizierten, nicht krankmachenden Form vorliegt oder nur in Form von Bruchstücken des Erregers.

Die Reaktion des Immunsystem auf das Fremde ruft dann spezialisierte weiße Blutzellen auf den Plan: Makrophagen, die den Erreger attackieren und "verdauen". Gegen dabei übrig bleibende Bruchstücke des Erregers (Antigene) produzieren sogenannte B-Lymphocyten (B-Zellen) neutralisierende Antikörper. T-Lymphozyten schließlich attackieren Zellen, die bereits infiziert sind. Einige T-Zellen bleiben als Gedächtniszellen bestehen. Ist man dann tatsächlich dem aktiven Virus ausgesetzt, entdeckt das Immunsystem ihm bekannte Antigene, ist bereits vorbereitet und kann den Erreger rasch eliminieren.

Wie in Abbildung 2 gezeigt, werden gegen COVID-19 verschiedene Impfstofftypen eingesetzt; nach Komplexität gereiht sind das:

  • das ganze SARS-CoV-2 Virus in inaktivierter Form oder in abgeschwächter Form
  • Virenvektoren in replizierender und nicht replizierender Form
  • Viren-ähnliche Partikel
  • Virenproteine (unmodifiziert, modifiziert) oder Bruchstücke davon
  • DNA
  • mRNA

Die derzeit am häufigsten untersuchten Kandidaten gegen COVID-19 gehören zu drei Typen: zu Virenproteinen (insgesamt 97 , davon 17 in der Klinik), zu Vektorviren (insgesamt 70, davon 13 in der Klinik) und zu mRNA-Vakzinen (insgesamt 40, davon 7 in der Klinik). Abbildung 3 zeigt schematisch wie diese drei Typen funktionieren.

Abbildung 3. Die drei am häufigsten untersuchten Impfstofftypen zur Produktion von neutralisierenden Antikörpern gegen SARS-CoV-2. (Das gemeinfreie Bild stammt aus einem U.S. GAO Report: www.gao.gov/products/GAO-20-583SP und wurde von IS deutsch beschriftet.)

Virenprotein

Der Impfstoff besteht aus einem Protein von SARS-CoV-2 oder einem ausgewählten Teil davon (einem Peptid). Vorzugsweise wird hier das an der Virusoberfläche sitzende Spike-Protein gewählt, das die Schlüsselrolle im Andocken und Eindringen in die Wirtszelle spielt (Abbildung 3, Typ 2). Unser Immunsystem erkennt das Antigen als fremd, beginnt B-Zellen und T-Zellen dagegen zu produzieren. Bei einer Begegnung mit dem Erreger erkennen die Gedächtniszellen das Virus und bekämpfen es.

Die Herstellung von Protein-Impfstoffen ist eine bereits seit langem bewährte Technologie, sehr viele zugelassene Impfstoffe beruhen auf diesem Prinzip und auch die meisten COVID-19 Projekte zielen darauf ab.

Vektorviren

basieren auf einem harmlosen anderen Virus als SARS-CoV-2, beispielsweise auf einem modifizierten ungefährlichen Adenovirus (das in aktiver Form Schnupfen hervorrufen würde). Derartige Viren können sich in unserem Organismus vermehren (replizieren) ohne dabei krank zu machen. In dieses Virus wird nun genetisches Material von SARS-CoV-2 eingefügt, das als Bauanleitung für die Produktion eines oder mehrerer seiner Proteine dient (Abbildung 3; Typ 3). Mit diesem Transportmittel (Vektor) gelangt das SARS-CoV-2 Material in unsere Zellen und wird von diesen zu den entsprechenden Proteinen umgesetzt (vorzugsweise zielt man auch hier auf das Spike-Protein ab).

Das Prinzip des Vektorvirus wurde bereits bei den Impfstoffen gegen Ebola und gegen Denguefieber erfolgreich angewandt.

RNA-Impfstoffe

enthalten ein ausgewähltes Gen von SARS-CoV-2 (auch hier vorzugsweise das Spike-Protein) allerdings nicht in Form des DNA-Abschnitts sondern als bereits in die RNA -transkribierte Form , die sogenannte mRNA (Abbildung 3, Typ 1). Eingehüllt in Lipid-Nanopartikel gelangt diese mRNA nach einer Injektion in den Muskel in die umliegenden Zellen, welche dann die mRNA in das entsprechende Virusprotein übersetzen. Wie die Zwischenergebnisse von Moderna/NIAID und Biontech/Pfizer zeigen, wird damit eine robuste Antwort des Immunsystems ausgelöst, die offensichtlich vor COVID-19 schützt .

Bis jetzt gibt es noch keinen auf Impfstoff auf dem Markt, der auf dem mRNA-Prinzip basiert. Allerdings gibt es auf diesem Gebiet schon jahrelange Erfahrung: in Zusammenarbeit mit dem NIH hat das Unternehmen Moderna dieses Prinzip gegen eine Reihe anderer Virusinfektionen MERS, Zikavirus, RSV, Epstein-Barr Virus, H7N9-Influenzavirus) angewandt.

Ein mRNA-Impfstoff bietet eine Reihe von Vorteilen (nicht nur bei COVID-19).

Die mRNA ist nicht infektiös und kann (wie auch die DNA) sehr schnell für erste Testungen in die Klinik gebracht werden. Bereits innerhalb weniger Tage nachdem im Jänner 2020 das SARS-CoV-2-Genom publiziert worden war, konnte eine entsprechende mRNA hergestellt werden.

Die mRNA braucht nicht in den Zellkern gelangen (wie dies bei DNA-Impfstoffen der Fall ist) und kann somit die Gen-Expression nicht beeinflussen. mRNA-Moleküle sind überdies kurzlebig und binnen weniger Stunden aus dem Organismus verschwunden. Allerdings sind mRNAs auch außerhalb des Organismus instabil und müssen bei tiefen Temperaturen gelagert und transportiert werden.

Ein mRNA-Impfstoff kann auch "Bauanleitungen" für mehrere unterschiedliche Proteine eines Virus enthalten oder für unterschiedliche Viren und damit gegen verschiedene Infektionen immunisieren.

DNA-Impfstoffe

Diese können wie auch die mRNA-basierten Impfstoffe rasch in größeren Mengen produziert werden, weisen aber wesentlich höhere Stabilität auf und benötigen keine Kühlung. Allerdings ist es schwierig die DNA in Körperzellen zu bringen, und es müssen Methoden wie die Elektroporation dazu eingesetzt werden.

Für einen Impfstoff wird das für ein Virusprotein kodierende Gen in ein nicht replizierendes Plasmid (d.i. ein kleines, ringförmiges doppelsträngiges DNA-Molekül) eingefügt. Nach Applikation muss das Plasmid dann in den Zellkern gelangen, wird dort in mRNA umgeschrieben (transkribiert) und an den Ribosomen im Zytoplasma in das Virusprotein übersetzt, gegen das dann die Immunantwort ausgelöst wird.

Ein mögliches Risiko von DNA-Impfstoffen könnte darin bestehen, dass sich die Fremd-DNA in das Wirts-Genom einlagert.

Wie auch im Fall des RNA-Typs sind bis jetzt keine DNA-basierten Impfstoffe für die Humananwendung zugelassen. In der Entwicklung von COVID-19 Vakzinen spielen DNA-Impfstoffkandidaten eine beträchtliche Rolle: 7 befinden sich in Phase 1 und 1/2 der klinischen Prüfung, 22 in der Präklinik.

Ganzvirus-Impfstoffe

bestehen aus abgeschwächten oder inaktivierten Formen des Erregers und stellen - seit den Tagen als Edward Jenner die Pockenimpfung einführte - den klassischen Typ von Impfstoffen dar. Sie lassen sich in Kulturen züchten, schnell herstellen und lösen sehr starke Immunantworten aus

Inaktivierte Impfstofftypen werden durch chemische oder physikalische Methoden inaktiviert und enthalten keine vermehrungsfähigen Viren mehr. Sie sind damit auch nicht imstande Zellen zu infizieren. Stattdessen werden sie von Antigen-präsentierenden Zellen (Makrophagen, dendritische Zellen, ...) inkorporiert, abgebaut und die Protein-Fragmente an der Zelloberfläche dem Immunsystem präsentiert, welches mit der Bildung von Antikörpern und T-Helferzellen antwortet. Derzeit befinden sich 22 inaktivierte Viren in der Entwicklung: 7 in der klinischen Phase, darunter 4 in Phase 3, und 15 Kandidaten in der Präklinik.

Abgeschwächte ("attenuierte") Virusimpfstoffe (sogenannte Lebendimpfstoffe) können sich im Wirt zwar noch vermehren, lösen aber keine Krankheitssymptome aus. Dadurch, dass sich derartige Viren noch über einen langen Zeitraum replizieren und damit laufend ihre Komponenten und damit Antigene produzieren, lösen sie eine sehr starke Immunantwort aus. Bekannte nach diesem Prinzip wirkende Vakzinen richten sich gegen Masern, Röteln, Mumps, Gelbfieber und Pocken. Die abgeschwächten Viren wurden dabei in langdauernden Selektionsprozessen (durch wiederholtes in vitro Passagieren unter suboptimalen Bedingungen) generiert. Ohne hier näher darauf einzugehen, lassen sich attenuierte Viren nun auch durch Mutation oder Deletion von Virulenz-Genen oder durch sogenannte Codon-Deoptimierung erzeugen. Insgesamt befinden sich 6 attenuierte SARS-CoV-2-Viren in der Entwicklung, 2 davon in der Klinik.

Virus-ähnliche Partikel sind ein verwandter Ansatz. Die Partikel ahmen das Virus in Form und Aufbau aus Virusproteinen nach, enthalten aber keine funktionellen Nukleinsäuren. 2 dieser Typen sind in klinischer Entwicklung, 16 in der Präklinik.

Fazit

Unterschiedliche Strategien mit verschiedenen Typen von Impfstoffen haben in unglaublich kurzer Zeit eine Fülle an Entwicklungskandidaten generiert, die zum Teil schon in weit fortgeschrittenen Entwicklungsstatus sind. Es besteht somit Hoffnung , dass wir in naher Zukunft wirksame und sichere Vakzinen im Kampf gegen COVID-19 zur Verfügung haben werden. Und zwar auch für unterschiedliche Gruppen in der Bevölkerung - für Kinder und für Alte, für immunsupprimierte Patienten ebenso wie für schwangere Frauen.


 Weiterführende Links

COVID-19 vaccine tracker, https://vac-lshtm.shinyapps.io/ncov_vaccine_landscape/

WHO: What we know about COVID-19 vaccine development (6.October 2020). https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/risk-comms-updates/update37-vaccine-development.pdf?sfvrsn=2581e994_6

Centers for Disease Control and Prevention: Understanding How Covid-19 Vaccines Work (2. November 2020). https://www.cdc.gov/coronavirus/2019-ncov/vaccines/different-vaccines/how-they-work.html?CDC_AA_refVal=https%3A%2F%2Fwww.cdc.gov%2Fcoronavirus%2F2019-ncov%2Fvaccines%2Fabout-vaccines%2Fhow-they-work.html

Pfizer: All COVID-19 Updates. https://www.pfizer.com/health/coronavirus/updates

Moderna:    Moderna’s Work on a COVID-19 Vaccine Candidate. https://www.modernatx.com/modernas-work-potential-vaccine-against-covid-19

AstraZeneca: Covid-19 Information Hub. https://www.astrazeneca.com/

Artikel zu COVID-19 Impfstoffen im ScienceBlog


 

inge Fri, 27.11.2020 - 23:27

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Warum essen wir mehr als wir brauchen?

Warum essen wir mehr als wir brauchen?

Do, 19.11.2020 — Jochen Müller

Jochen MüllerIcon Gehirn

Die krankhafte Fettleibigkeit (Adipositas) ist weltweit auf dem Vormarsch. Weltweit leben über 1,9 Milliarden Menschen mit Übergewicht, davon über 650 Millionen mit Adipositas. Die Zahlen nehmen seit 30 Jahren zu, vor allem unter Männern, Jugendlichen und Kindern. Experten sehen Adipositas als Gehirnerkrankung an. Grund ist ein fehlreguliertes Gleichgewicht (Homöostase) zwischen Energieverbrauch und Nahrungsaufnahme. Der Neurowissenschafter und Wissenschaftsjournalist Jochen Müller gibt auf der Seite "dasgehirn.info" einen Überblick, wie die Achse zwischen Gehirn und Verdauung funktioniert und was bei Diabetes und Adipositas schief läuft in Kopf und Körper.*

 

Was hat ein Artikel zu Übergewicht auf der Seite "dasgehirn.info" zu suchen? Falls Sie aus Versehen hier gelandet sind: Selbstoptimierung und Superfoods bleiben Ihnen erspart. Hier geht es darum, wieso erstmals in der Geschichte mehr Menschen an Über- als an Unterernährung leiden. Und wie es sein kann, dass Lebensmittel Leben verkürzen. Die Antwort auf die letzten beiden Fragen wird auch die erste beantworten.

Beginnen wir mit Definitionen. Der Körper-Masse- oder Body-Mass-Index gibt Auskunft darüber, ob ein Mensch unter-, normal- oder übergewichtig ist. Er teilt Masse durch das Quadrat der Größe: BMI=kg/m2. Über einem BMI von 25 gelten Menschen als übergewichtig, Adipositas beginnt ab einem BMI von 30. Abbildung 1.Der Autor verteilt 85 Kilogramm auf 1,84 Meter, er ist mit seinem BMI von 25,1 zur eigenen Überraschung leicht übergewichtig.

Abbildung 1. Der Body-Mass-Index (Bild: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Body-Mass-Index#/media/Datei:BodyMassIndex.svg; gemeinfrei)

Doch Prof Dr. Martin Heni, wissenschaftlicher Koordinator des Instituts für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen an der Universität Tübingen, betont, dass einfache Zahlen nicht das Problem sind. Es ist unser komplexes Verhalten.

Genau dieses Verhalten gerät bei immer mehr Menschen in Schieflage.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählte 2016 1,6 Milliarden Menschen mit Übergewicht. 650 Millionen davon galten als adipös. Abbildung 2.

Abbildung 2. Seit 1975 hat der Anteil adipöser Menschen (BMI: gleich oder größer 30) enorm zugenommen. (Bild: https://ourworldindata.org/obesity; Lizenz cc-by).

Nahrungsaufnahme und Energieverbrauch passen nicht zusammen

In Deutschland sind laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) aktuell mehr als die Hälfte der Erwachsenen übergewichtig, fast ein Viertel adipös. Laut WHO und RKI steigen die Zahlen seit zwanzig Jahren stetig an. Mit weitreichenden Auswirkungen. Übergewichtige Menschen leiden an psychosozialen Folgen wie sozialer Diskriminierung sowie an verringerter Lebensqualität und Selbstwertgefühl. Noch schwerwiegender sind biologische Folgen. Übergewicht trägt zu diversen Erkrankungen bei. Kurz gesagt senkt Fettleibigkeit die Lebenserwartung.

Der Endokrinologe und Diabetologe Heni erklärt, dass Übergewicht entsteht, wenn "Nahrungsaufnahme und Energieverbrauch nicht zusammenpassen". Wir müssen uns nicht mehr körperlich anstrengen, um an Brot, Braten oder Bratling zu kommen. Warum essen wir mehr, als wir brauchen? Verantwortlich ist das Gehirn, wie Martin Heni betont: "Die meisten Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass Adipositas eine Gehirnerkrankung ist."

Zwei Arten von Essverhalten

Es gibt zwei Arten von Essverhalten. Das homöostatische Essverhalten stellt ein Gleichgewicht zwischen Hunger und Sättigung ein und hält das Körpergewicht aufrecht. Im Idealfall hören wir auf zu essen, wenn mechanische und chemische Reize aus dem Magen-Darm-Trakt dem Gehirn signalisieren, dass der Magen voll ist und im Inhalt ausreichend Glukose, Aminosäuren und Fette vorhanden sind. Vereinfacht gesagt kommen dafür aus dem Pankreas Insulin, aus der Schleimhaut des Dünndarms Neuropeptide und aus den Fettzellen oder Adipozyten Leptin. Diese Signalstoffe regulieren, wie die Substrate verwertet werden, indem sie an Rezeptoren ihrer Zielzellen binden und dort Stoffwechselvorgänge bewirken. Und sie binden an Insulin- und Leptin-Rezeptoren von Neuronen im Magen-Darm-Trakt. Deren Signale erreichen zuerst Zentren im verlängerten Rückenmark (Medulla oblongata), unter anderem den Nucleus tractus solitarii. Er ist synaptisch eng mit zwei Teilen des Zwischenhirns verschaltet, dem Thalamus und dem Hypothalamus. Der Hypothalamus reguliert viele homöostatische Vorgänge im ganzen Körper, und über die erwähnte Verschaltung auch die Nahrungsaufnahme. Je mehr Insulin und Leptin, umso satter der Mensch. Eigentlich. Denn satt sein und Sättigung spüren sind zwei verschiedene Dinge.

Mikroben als heimliche Influencer

Auch das in den letzten Jahren viel diskutierte Mikrobiom spielt für Essverhalten und Sättigung eine Rolle. Die kleinen bakteriellen Helfer in uns erhalten ihren Anteil an der Nahrung, und sie versorgen uns mit Stoffen, die wir alleine nicht bilden könnten. Es gibt Hinweise darauf, dass sie auch Substanzen ausschütten, die das Verhalten modifizieren. In Nagern lässt sich die Nahrungsaufnahme direkt beeinflussen, indem man die beteiligten Peptide spritzt. Allerdings ändert sich das Mikrobiom mit jeder Mahlzeit. Es ist noch unverstanden, wie sich das auf das Körpergewicht auswirkt. Denn Menschen sind keine Nager.

Uns kommt ein zweites System in die Quere. Es regelt das hedonistische Essverhalten und ist ungleich komplizierter als das homöostatische. Hedonismus bedeutet soviel wie Genuss. Der Begriff bezieht sich auf die starke soziale und damit erlernte Komponente menschlichen Essverhaltens. Es interagiert im Gehirn mit anderen Prozessen wie Belohnung und Emotionen. Die Regulierung hedonistischen Essverhaltens beinhaltet das limbische System, den präfrontalen Cortex und dazwischen komplexe neuronale Schaltkreise, deren Rolle noch nicht endgültig geklärt ist. Im Ergebnis kann das hedonistische System, das gar nicht an der Homöostase beteiligt ist, das homöostatische System kontrollieren. Geruch, Erwartung, selbst die Vorstellung der Lieblingsspeise kann Sättigungsprozesse überspielen. Abbildung 3.

Abbildung 3. Das Gehirn und das Essen. Hirnregionen, die involviert sind, wenn der Mensch Essbares beurteilt: Wahrnehmungsprozesse, Emotionen, Erinnerungen, Motivationen, aber auch sprachliche Aspekte spielen dabei eine Rolle. Die linke Spalte zeigt, über welche Sinneskanäle Speisen auf uns wirken- Die mittlere und rechte Spalte veranschaulichen, wie das "Geschmackssystem" im umfassenden Sinne unser Essverhalten steuert. Grüne Regionen modulieren dabei unbewusste Regelungsprozesse.(Bild: https://www.dasgehirn.info/wahrnehmen/riechen-schmecken/bild-das-gehirn-und-das-essen).

Krankheitsursache: fehlregulierte Homöostase

Hier zeigt sich, dass Adipositas ebenso wie die Magersucht biologische und psychologische Ursachen hat. Beide Krankheiten beruhen auf einer fehlregulierten Homöostase. Und die ist erlernt. Tatsächlich hat sich gezeigt, dass Gehirne adipöser Menschen auf die Sättigungssignale Insulin und Leptin weniger sensibel reagieren. Die Menschen merken zu spät, dass sie satt sind und essen über das Maß hinaus.

Das haben sie auch der Plastizität ihrer Zellen zu verdanken. Plastizität beschreibt die Fähigkeit eines Systems, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Es erlaubt zu lernen. Aber manchmal lernt das System eine falsche Lektion. Sind Insulin- und Leptin-Konzentrationen nach einer Geburtstagskuchenorgie kurzfristig erhöht, ist das unproblematisch. Findet die Sause täglich statt, sind Signalwirkstoffe dauerhaft erhöht und ihre Zielneuronen dauerhaft erregt. Um nicht an Übererregung einzugehen, regulieren die Nervenzellen die verantwortlichen Rezeptoren herunter. So entsteht eine Insulin- bzw. Leptin-Resistenz, die bei den meisten adipösen Menschen vorliegt. Der Körper passt sich auch diesem Zustand an und regelt die Produktion der Signalstoffe hoch. Bis er das nicht mehr kann. Erst wenn die Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse die Insulinproduktion nicht weiter hochregulieren können, entsteht Diabetes. Die Frage, warum nicht alle adipösen Menschen eine Diabetes entwickeln, beantwortet der Diabetologe Heni mit diesem System: "Entscheidend ist dann die Fähigkeit der Bauchspeicheldrüse, auf die Insulin-Resistenz zu reagieren".

Diese Fähigkeit ist uns nur zu einem kleinen Teil in die Wiege gelegt. DAS Adipositas-Gen gibt es nicht. Stattdessen zählt das Weißbuch Adipositas über 600 Erbanlagen auf, die darauf einen Einfluss haben können. Auch epigenetische Faktoren, also Umwelteinflüsse, die die Ablesbarkeit von Genen beeinflussen, spielen einzeln betrachtet eher eine untergeordnete Rolle. Es sei denn, sie vollziehen ihr Werk bereits im Mutterleib. Dort findet die so genannte fötale Programmierung statt. Faktoren wie Mangel- oder Überernährung haben Einfluss auf die Entwicklung. Ist der Fötus in einer sensiblen Entwicklungsphase Überernährung ausgesetzt, kann dies dazu führen, dass die Betazellen in der Bauchspeicheldrüse dauerhaft fehleingestellt werden. Das zeigt auch, wie Krankheiten wie Diabetes angeboren sein können, ohne durch Gene vererbbar sein zu müssen. Weil die Anpassungsfähigkeit auch fehlerhafte Anpassung ermöglicht, noch bevor wir geboren sind.

Niedrigschwellige Entzündungen im Fettgewebe

Auch das Fettgewebe spielt eine Rolle. Davon gibt es zweierlei Typen: braunes und weißes Fett. Weißes Fett reguliert den Fettstoffwechsel und speichert Energie. Für ersteres schütten die Fettzellen oder Adipozyten Hormone wie Leptin oder Adiponectin aus. Für letzteres nehmen sie Fett in sich auf. Bis nichts mehr reingeht. Dann laufen die Speicherzellen über und das Fett lagert sich an, wo es nichts zu suchen hat. Zwischen den Zellen, irgendwo im Gewebe, wo es Immunzellen wie Monozyten und Makrophagen aktiviert. Sie schütten gemeinsam mit den Adipozyten Stoffe aus, die niederschwellige Entzündungsprozesse bewirken. So befördern sie Insulin- und Leptinresistenz und spielen eine ursächliche Rolle bei der Entstehung von Diabetes Typ 2 und anderen Folgeerkrankungen.

Wie soll man einem solch komplexen, emotional gesteuerten und in unsere Biologie eingeprägten System mit einer Diät beikommen? Wenn die Gründe für Übergewicht in veränderten Gehirnprozessen liegen, müsste eine kausal wirkende Therapie auch dort angreifen. Was Diäten nicht tun. Zwar schaffe es Heni zufolge fast jeder Mensch durch eine Diät kurzfristig abzunehmen. Aber "was kaum jemand schafft, ist das niedrige Körpergewicht langfristig zu halten. Diäten sind im Alltag selten langfristig umsetzbar, und der Drang des Organismus, in alte Verhaltensmuster zurück zu fallen, extrem stark".

Nur wer Ess- und Lebensgewohnheiten nachhaltig verändert, wird sein Idealgewicht halten können. Dazu können Ernährungsberatungen ebenso beitragen wie verhaltenstherapeutische Maßnahmen, medikamentöse Therapien und in gravierenden Fällen gar chirurgische Maßnahmen. Beim Stichwort Idealgewicht kommt der Mediziner noch einmal auf die BMI Einteilung zurück: "Epidemiologische Studien zeigen zwar immer wieder, dass starkes Unter- oder Übergewicht langfristig ungünstig auf die Gesundheit wirkt. Es leben aber nicht diejenigen aus der Mitte des Normmaßes am längsten, sondern die leicht Übergewichtigen. Das biologische Ideal liegt also vielleicht etwas über einem BMI von 25."


*Der von Prof. Dr. Ingo Bechmann wissenschaftlich betreute Artikel erschien am 17.09.2020 unter dem Titel "Wenn Hunger und Genuss aus dem Gleichgewicht geraten" https://www.dasgehirn.info/krankheiten/gestoerter-stoffwechsel/wenn-hunger-und-genuss-aus-dem-gleichgewicht-geraten und steht unter einer cc-by-nc -sa Lizenz. Die Webseite www.dasGehirn.info ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe. Der Artikel wurde von der Redaktion geringfügig gekürzt und es wurden 3 Abbildungen eingefügt.


Weiterführende Links

Artikel zum Thema im ScienceBlog


 

inge Wed, 18.11.2020 - 22:53

COVID-19, Luftverschmutzung und künftige Energiepfade

COVID-19, Luftverschmutzung und künftige Energiepfade

Do, 12.10.2020 — IIASA

IIASAIcon Geowissenschaften Vor dem Hintergrund tiefgreifender Beeinträchtigungen und Ungewissheiten, die durch die COVID-19-Pandemie verursacht wurden, sind gut konzipierte Energiestrategien unerlässlich, um ein resilientes Energiesystem zu entwickeln, das  sowohl die globalen Klimaziele als auch die Standards der Luftqualität zu erfüllen vermag. Die Internationale Energieagentur (IEA) hat kürzlich ihren alljährlichen Report, den World Energy Outlook (WEO) 2020 veröffentlicht. Zu den von der IEA entwickelten Energieprognosen haben Forscher am International Institute of Applied Systems Analysis (IIASA, Laxenburg bei Wien) beigetragen, indem sie eine quantitative Abschätzung der wichtigsten Luftschadstoffe und deren entsprechende nachteilige gesundheitliche Auswirkungen erstellt haben.*

Es war ein stürmisches Jahr für das globale Energiesystem. Die durch COVID-19 verursachte Krise hat mehr Beeinträchtigungen verursacht als jedes andere Ereignis in der jüngeren Vergangenheit und Narben hinterlassen, die noch jahrelang weiterbestehen werden. Inwieweit diese Umbruchsituation aber die Bemühungen einer Wende zu sauberer Energie und zur Erreichung der internationalen Energie- und Klimaziele letztendlich fördern oder behindern wird, hängt davon ab, wie die Regierungen auf die gegenwärtigen Herausforderungen reagieren werden.

Analysen des World Energy Outlook 2020

Der World Energy Outlook 2020 (WEO 2020, [1]), das Flaggschiff der Internationalen Energieagentur (IEA), untersucht verschiedene Szenarios, die aus der Krise führen können, wobei der Schwerpunkt auf dem nächsten Jahrzehnt liegt. Zu diesem letzten Report haben IIASA-Forscher einen Beitrag geleistet, indem sie die von der IEA entwickelten Energieprognosen hinsichtlich der Konzentrationen der wichtigsten Luftschadstoffe und der entsprechenden, nachteiligen gesundheitlichen Auswirkungen quantitativ ausgewertet haben. Nach Meinung des IIASA-Teams ist es für fundierte politische Strategien in vielen Ländern entscheidend, dass ein klares Verständnis aufgebaut wird, wie Luftverschmutzung und deren gesundheitliche Auswirkungen mit den beschriebenen IEA-Szenarien korrelieren.

Der aktuelle WEO enthält unter anderem die neueste IEA-Analyse zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie:

     So soll 2020 der weltweite Energiebedarf um 5% sinken, die energiebedingten CO2-Emissionen um 7% und die Investitionen in Energie um 18%.

Der bereits etablierte Ansatz des WEO - man vergleicht  verschiedeneSzenarien, die angeben, wie sich der Energiesektor entwickeln könnte - ist in diesen unsicheren Zeiten wichtiger denn je. Die Kernaussage daraus ist ernüchternd: Es wird nicht genug getan, um die Welt auf die richtige Bahn zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele zu bringen.

„Die derzeitige Entwicklung von Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität allein dürfte  keinen signifikanten Rückgang der Emissionen oder der vorzeitigen Todesfälle garantieren. Wenn wir saubere Luft erzielen wollen - was die Senkung der Schadstoffkonzentrationen und die Erreichung der Luftqualitätsstandards von Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder von nationalen Standards betrifft -, müssen wir Strategien zur Verbesserung der Luftqualität mit Klimapolitik und auch mit Maßnahmen die Zugang zu sauberer Energie ermöglichen, kombinieren “, erklärt Peter Rafaj, Forscher im IIASA-Programm für Luftqualität und Treibhausgase.

Luftschadstoffe und vorzeitige Todesfälle

„Derzeit sterben jährlich etwa 6 Millionen Menschen vorzeitig aufgrund der Luftverschmutzung in Innenräumen und Außenräumen, und bis 2030 ist der weltweite Trend steigend. Abbildung 1. Wie unsere Auswertung der IEA-Prognosen zeigt, können in den nächsten zehn Jahren in Summe fast 12 Millionen vorzeitige Todesfälle vermieden werden, wenn mehr "Sustainable Development Goals" (nachhaltige Entwicklungsziele) in Angriff genommen werden. Man muss koordinierte politische Maßnahmen ergreifen, die das Problem von mehreren Seiten aus angehen “, sagt Peter Rafaj.

Abbildung 1. Prognostizierte Änderung von Schadstoffemissionen und von vorzeitigen Todesfällen für zwei Szenarien bis 2030. Stated Policies Scenario (STEPS) geht davon aus, dass COVID-19 nächstes Jahr unter Kontrolle gebracht und die Weltwirtschaft Vorkrisenniveau erreicht; Sustainable Development Scenario (SDS) bedeutet die Einhaltung des Pariser Abkommens bis 2050. Die Emissionen im STEPS-Szenario sinken zwar leicht, auf Grund der wachsenden Bevölkerung in den Städten und der dortigen Luft kommt es aber zu einem Anstieg vorzeitiger Todesfälle.

Auswirkungen von COVID-19

Die Auswirkungen von COVID-19 sind einschneidend, doch einige von ihnen haben zu positiven Umweltveränderungen geführt.

Ein solches Beispiel ist, dass in vielen Teilen der Welt die Luftverschmutzung zurückgegangen ist. Diese Rückgänge waren allerdings nur vorübergehend; als die Lockdowns aufgehoben wurden, stiegen die Luftschadstoffe wieder auf Konzentrationen an, die mit denen des letzten Jahres vergleichbar waren und in einigen Regionen der Welt wurden sie sogar noch höher. Viele der aufgrund der Lockdowns erfolgten, kurzfristigen Verbesserungen der Luftqualität waren nicht nur schnell wieder vorbei, sie gingen auch mit hohen Kosten für das Wohl der Bürger und die Gesundheit der Weltwirtschaft einher. Es ist klar, dass wir uns nicht auf globale Pandemien verlassen sollten, um dauerhaft positive Umweltveränderungen herbeizuführen. Was wir stattdessen brauchen, sind systemische und tiefgreifende Transformationen.

„Trotz eines Rekordrückgangs der globalen CO2-Emissionen in diesem Jahr ist die Welt weit davon entfernt, genug zu tun, um ein entscheidendes Absinken hervorzurufen. Der wirtschaftliche Abschwung hat die Emissionen vorübergehend reduziert, aber ein niedriges Wirtschaftswachstum ist keine Strategie für niedrige Emissionen- es ist eine Strategie, die nur dazu führen kann, dass die bedürftigsten Bevölkerungsgruppen der Welt noch mehr verarmen“, erklärt IEA-Direktor Fatih Birol.

Ein deutlicher Umschwung hin zu Investitionen in saubere Energie bietet eine Möglichkeit, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen und Emissionen zu reduzieren. Weitere Anstrengungen müssten sich in den kommenden Jahren auch auf die Reduzierung der Emissionen aus bestehenden Energie-Infrastrukturen wie Kohlekraftwerken, Stahlwerken und Zementfabriken konzentrieren. Fehlen solche Änderungen zur Bekämpfung dieser „gebundenen“ Emissionen - und dies unabhängig von Maßnahmen zur Förderung des Wachstums sauberer Energie - werden internationale Klimaziele unerreichbar bleiben.

[1] World Energy Outlook 2020, https://www.iea.org/reports/world-energy-outlook-2020


*Der von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzte Artikel ist am 29. Oktober 2020 auf der Webseite des IIASA unter dem Titel: " Air pollution implications of re-shaping future energy pathways" erschienen. https://iiasa.ac.at/web/home/about/news/201027-World_Energy_Outlook_.html. IIASA hat freundlicherweise der Veröffentlichung von Inhalten seiner Website und Presseaussendungen in unserem Blog zugestimmt.

 


Links zu Luftschadstoffen

Bert Brunekreef (Institut für Risikoforschung, Universität Utrecht): Luftschadstoffe und Gesundheit, Video 21:28 min. https://vimeo.com/107579920

Romain Lacombe (Etalab; data.gouv.fr): Global Pandemic - Air Pollution, TEDxAthens. Video 19:06 min. https://www.youtube.com/watch?v=FKBVwX8dVhI. Standard-YouTube-Lizenz

 

Artikel im ScienceBlog

IIASA. 23.07.2020: Es genügt nicht CO₂-Emissionen zu limitieren, auch der Methanausstoß muss reduziert werden. https://scienceblog.at/methan-ausstoss-muss-reduziert-werden.

Francis S. Collins, 27.09.2018: Erkältungen - warum möglichweise manche Menschen häufiger davon betroffen sind. https://scienceblog.at/erk%C3%A4ltungen-warum-m%C3%B6glichweise-manche-menschen-h%C3%A4ufiger-davon-betroffen-sind.

Inge Schuster, 16.11.2017: Einstellung der EU-Bürger zur Umwelt (Teil 1) – Ergebnisse der ›Special Eurobarometer 468‹ Umfrage. https://scienceblog.at/eurobarometer468.

IIASA, 18.05.2017: Überschreitungen von Diesel-Emissionen — Auswirkungen auf die globale Gesundheit und Umwelt . https://scienceblog.at/%C3%BCberschreitungen-von-diesel-emissionen-%E2%80%94-auswirkungen-auf-die-globale-gesundheit-und-umwelt.

 

IIASA, 25.09.2015:Verringerung kurzlebiger Schadstoffe – davon profitieren Luftqualität und Klimahttps://scienceblog.at/verringerung-kurzlebiger-schadstoffe.  

Johannes Kaiser & Angelika Heil, 31.07.2015: Feuer und Rauch: mit Satellitenaugen beobachtet. http://scienceblog.at/feuer-und-rauch.

Inge Schuster, 12.12.2014: Was macht HCB so gefährlich? http://scienceblog.at/was-macht-hcb-so-gef%C3%A4hrlich.


inge Thu, 12.11.2020 - 01:20

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Können manche Antikörper die Infektion mit SARS-CoV-2 verstärken?

Können manche Antikörper die Infektion mit SARS-CoV-2 verstärken?

Do, 05.11.2020 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon MedizinAntikörper haben von vornherein ein positives Image. Allerdings: dieselben Mechanismen, mit denen Antikörper und damit Impfungen uns vor Infektionen schützen, bergen auch das potentielle Risiko das Infektionsgeschehen verschlimmern zu können, indem sie den Eintritt von Viren in unsere Zellen erleichtern. Es ist ein Virus- und Wirts-spezifisches Phänomen, das nur unzureichend verstanden wird. In vitro Modelle im Labor und Tiermodelle sind für die Situation am Menschen wenig aussagekräftig und für ein Auftreten infektionsverstärkender Antikörper in klinischen Studien an Impfstoffkandidaten gibt es (noch) keine Biomarker und keine spezifischen Symptome - außer dem Befund, dass mehr mit Impfstoff behandelte Teilnehmer krank werden als solche, die ein Placebo erhalten. Basierend auf einer jüngst im Fachjournal Nature veröffentlichten Studie [1] führt die Genetikerin Ricki Lewis Beispiele für infektionsverstärkende Antikörper und Impfungen an und diskutiert das Problem in Hinblick auf die Impfstoffentwicklung gegen COVID-19.*

Antikörper haben von vornherein ein positives Image. Diese, aus charakteristischen Y-förmigen Stücken bestehenden Proteine strömen aus Plasmazellen heraus und gelangen bereits in der frühen Phase einer Infektion in den Blutkreislauf. Sie heften sich dann an Moleküle, welche die Oberflächen von Krankheitserregern "dekorieren" und alarmieren natürliche Killerzellen, die wiederum einen Strom von Zytokinen und von Komplement freisetzen, welche die biochemischen Waffen einer Immunantwort sind.

Die Bekämpfung von Infektionen - ein komplexer Vorgang

In einem mysteriösen Phänomen, das als " infektionsverstärkende Antikörper " (ADE: Antibody-Dependent Enhancement) bezeichnet wird, verschlimmern manche Antikörper allerdings den Zustand und verstärken die Krankheitssymptome. Wenn ein Impfstoff die Bildung solcher abartigen Antikörper verursacht, werden die Folgen als "Impfstoff- ausgelöste Verstärkung der Infektion" bezeichnet. Man weiß, dass solche Vorgänge existieren, versteht sie aber nur unzureichend.

Die konträr wirkenden Antikörper lassen sich zwar im Laborversuch feststellen, bei einem Patienten, dessen Zustand sich verschlimmert, sind sie aber schwer zu fassen. Das heißt, es gibt in der Klinik keine Möglichkeit zwischen Folgen von infektionsverstärkenden Antikörpern und einem schweren Fall einer Infektionskrankheit zu unterscheiden. Und das kann die Evaluierung eines Impfstoffkandidaten erschweren. Eine Impfstoff- ausgelöste Verstärkung der Infektion würde sich In einer klinischen Studie so manifestieren, dass mehr mit dem Impfstoff behandelte Teilnehmer krank werden als solche, die ein Placebo erhielten.

Angeblich soll dies bei den COVID-19-Impfstoffkandidaten nicht der Fall sein, die entsprechenden Daten werden allerdings erst nach Abschluss der Phase-3-Studien veröffentlicht werden.

In den frühen klinischen Phasen war das schnelle Auftreten neutralisierender Antikörper im Blutplasma der behandelten Teilnehmer ein gutes Zeichen, ein Vorbote einer noch stärker einsetzenden Immunantwort (weil T-Zellen die Antikörperproduktion kontrollieren und darüber hinaus noch mehr tun). Aber werden Infektionsverstärkende Antikörper bemerkt werden, wenn Zehntausende Menschen an den Phase-3-Studien teilnehmen?

Während früherer Epidemien sind Infektionsverstärkende Antikörper in drei Situationen aufgetreten:

  • bei von früheren Infektionen mit verwandten Krankheitserregern noch vorhandenen Antikörpern
  • bei schwach wirksamen Antikörpern aus dem Plasma rekonvaleszenter Patienten (von Spendern, die sich erholt hatten) 
  • bei durch einen Impfstoff ausgelösten schwach wirksamen Antikörpern

Unabhängig vom Szenario verstärken Antikörper die Infektion, indem sie den Eintritt von Viren in unsere Zellen erleichtern - so als ob sie Burgtore öffneten anstatt sie zu befestigen.

Beispiele von infektionsverstärkenden Antikörpern

In einem kürzlich erschienenen, faszinierenden Artikel im Fachjournal Nature haben Ann Arvin und Herbert Virgin von Vir Biotechnology und ihre Kollegen vergangene Fälle von infektionsverstärkenden Antikörpern untersucht [1]. Angesichts der Komplexität fanden sie es „eine frustrierende Herausforderung vorhersagen zu wollen ob die durch SARS-CoV-2 verursachte Krankheit eine antikörperabhängige Verstärkung erfährt“.

Dazu Beispiele infektionsverstärkender Antikörper; es beginnt mit Katzen.

Das Feline Coronavirus

Für bestimmte Viren-Familien besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Infektionskrankheit verstärken. Dazu gehören Lentiviren (HIV gehört dazu), Flaviviren (wie die Erreger von Dengue-Fieber, das West-Nil-Virus, Zika- und Gelbfieber-virus) und Coronaviren.

Das Feline Coronavirus macht Katzen normalerweise nicht sehr krank. Ein Stamm kann jedoch eine schmerzhafte infektiöse Peritonitis bei Katzen auslösen, wenn böse Antikörper die Viren nicht nur in Oberflächen auskleidende Zellen (wohin sie normalerweise gelangen) lotsen, sondern auch in die Makrophagen, die den Körper durchstreifen und "Abfall" umschlingen und verdauen. Die infizierten Makrophagen übertragen die Viren dann an viele Organe und verursachen schwere Symptome. Die Forscher haben nun Plasma von Katzen, welche die Peritonitis überlebt hatten, in kleine Kätzchen injiziert, die in Folge sehr schwer erkrankten.

Die Antikörper in den kranken infizierten Kätzchen banden an die Spikes des Virus und transportierten die Viren dann zu Makrophagen, in welche die Viren eindrangen. Anstatt eine Immunantwort auszulösen, verstärkten die Antikörper die Infektion.

Denguefieber

Wie die Coronavirus-Infektion bei Katzen verläuft die Dengue-Infektion bei Menschen normalerweise mild oder asymptomatisch. In seltenen Fällen verursacht Denguefieber jedoch ein hämorrhagisches Fieber, das tödlich sein kann. Vier Typen (Serotypen) des Virus verursachen Dengue-Fieber (DEN 1-4).

Denguefieber ist ein klassisches Beispiel für infektionsverstärkende Antikörper, da eine zweite Infektion manchmal ärger und nicht milder ausfällt.

In Gegenden, in denen Denguefieber endemisch ist, haben etwa 0,5% der Bevölkerung einen niedrigen Spiegel an Antikörpern, die von früheren Infektionen stammen. Denguefieber ist in vielen Teilen der Welt verbreitet. In den USA wurde 2005 der letzte Fall registriert. Infektionsverstärkende Antikörper können auftreten, , wenn eine Person anfänglich an einem Dengue- Serotyp erkrankt und dann mit einem anderen Serotyp infiziert wird. Die an das Virus angedockten Antikörper binden mit dem Stammteil ihrer Y-förmigen Komponenten an einen Rezeptor (Fc) auf Makrophagen und können diese infizieren, sodass diese nun Viren produzieren, anstatt die Immunantwort auszulösen, um sie zu zerstören.

Dengvaxia, ein Impfstoff gegen alle vier Dengue-Serotypen, hat Millionen von Menschenleben gerettet. Kontroversen kamen 2016 auf, nachdem auf den Philippinen der Impfstoff an kleinen Kindern getestet worden war, die seronegativ (d.i. noch nie infiziert) gewesen waren, und 14 starben. Diese Zahl stieg bis Ende 2019 auf 600 an. WHO-Forscher untersuchten dies, konnten jedoch nicht unterscheiden, ob die Kinder an infektionsverstärkenden Antikörpern gestorben waren oder an schwerem Denguefieber, weil der Impfstoff nicht gewirkt hatte. Auch das Alter kann ein Faktor für die schweren Verläufe gewesen sein. Heute wird der Impfstoff in 20 Ländern eingesetzt und an Menschen im Alter von 9 bis 45 Jahren verabreicht.

Die Forscher gehen auch davon aus, dass eine Impfung gegen Denguefieber das Risiko von infektionsverstärkenden Antikörpern gegen ein verwandtes Virus wie das Gelbfieber- oder Zika-Virus erhöhen könnte.

Humanes Respiratorisches Synzytial-Virus (HRSV)

Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel für eine Impfstoff- ausgelöste Verstärkung der Krankheit gibt es bei HRSV, das typischerweise nur leichte Erkältungssymptome verursacht. Bei immungeschwächten Personen, Menschen mit Herz- oder Lungenerkrankungen, Frühgeborenen und älteren Personen kann der Verlauf schwer sein.

Eine alte Studie aus dem Jahr 1969 zeigte, dass Kinder im Alter von 6 bis 11 Monaten, die einen Impfstoff gegen RSV erhalten hatten, im Krankenhaus wegen schwerer Entzündungen der Lunge (Lungenentzündung) oder der Atemwege (Bronchiolitis) schlechter abschnitten als nicht geimpfte Kinder. 10 von 101 der geimpften Kinder hatten schwere Atemwegserkrankungen im Vergleich zu 2 von 173, die nicht geimpft waren. Unerwartet! Die kranken Kinder produzierten ungewöhnliche Antikörper, die sich an ein Fusionsprotein auf den Oberflächen der Viren anhefteten und offensichtlich einen schwereren Verlauf der Krankheit auslösten.

Die Forscher nannten die Reaktion "Impfstoff-assoziierte verstärkte Atemwegserkrankung". Bei dem Impfstoff handelte es sich damals um ein mit Formalin inaktiviertes HRSV. Neuere HRSV-Impfstoffe auf Basis monoklonaler Antikörper erweisen sich als sicher.

Influenza

Einige Personen, die im Jahr 2009 einen Impfstoff gegen einen neuartigen H1N1-Influenza-Stamm erhalten hatten, entwickelten eine schwere Atemwegserkrankung, die dem Impfstoff zugeschrieben wurde. Die Lungen von sechs verstorbenen Personen mittleren Alters zeigten klebrige Immunkomplexe, die darauf hinwiesen, dass geringe Mengen an Antikörpern aus früheren Grippeschutzimpfungen an die Stammteile der Hämagglutinin-Proteine gebunden waren, welche aus der Virusoberfläche herausragen. Die weitere Impfung war dann ausschlaggebend, dass die Antikörper die Infektion verstärkten.

Fazit

Infektionsverstärkende Antikörper und Impfungen sind schwierig zu untersuchen. Abgesehen davon, dass sie klinisch nicht von schweren Fällen der Infektionskrankheit zu unterscheiden sind, gibt es keine Biomarker, keine spezifische Kombination von Anzeichen und Symptomen, die diese Reaktion anzeigen. Es bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten, ob in den Impfstoffstudien zu COVID-19 eine Verstärkung der Krankheit erfolgt. Eine beruhigende Beobachtung ist, dass SARS-CoV-2 an einen anderen Rezeptortyp - ACE2 - andockt als es die auf Makrophagen vorkommenden.Rezeptoren sind.

Die Möglichkeit - obwohl unwahrscheinlich - die Krankheit durch Impfstoffe zu verstärken, ist ein weiterer Grund, die Entwicklung von COVID-19-Impfstoffen nicht zu beschleunigen.

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[1] Ann M. Arvin et al., A perspective on potential antibodydependent
enhancement of SARS-CoV-2. Nature 584353 - 363  (20.08.2020), https://doi.org/10.1038/s41586-020-2538-8


 *Der Artikel ist erstmals am 22.Oktober 2020 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel " Can Some Antibodies Worsen COVID-19? The Odd Situation of Enhancement" https://dnascience.plos.org/2020/10/22/can-some-antibodies-worsen-covid-19-the-odd-situation-of-enhancement/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgt. 


Weiterführende Links:

Paul-Ehrlich Institut: Was sind infektionsverstärkende Antikörper (ADE) und sind sie ein Problem? https://www.pei.de/DE/service/faq/faq-coronavirus-inhalt.html

Neue Studie: Was wir über Corona-Immunität wissen. 13.10.2020. https://www.dw.com/de/neue-studie-was-wir-%C3%BCber-coronavirus-reinfektionen-wissen/a-55242712

Celerion: Development of an Antibody Dependent Enhancement(ADE) Assay to Support SARS-CoV2 Vaccine Development. 7.7.2020; Video 15:54 min. https://www.celerion.com/resource/development-of-an-antibody-dependent-enhancementade-assay-to-support-sars-cov2-vaccine-development

Artikel zur Impfstoffentwicklung gegen COVID-19 im ScienceBlog

inge Thu, 05.11.2020 - 16:24

Elektronische Haut-Patches zur Wiederherstellung verlorener Sinnesempfindung und Erkennung von Krankheiten

Elektronische Haut-Patches zur Wiederherstellung verlorener Sinnesempfindung und Erkennung von Krankheiten

Do, 29.10.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Medizin Elektronische Haut (E-Skin) ist ein Hot-Topic. Es handelt sich um flexible, dehnbare Pflaster, die nachahmen, wie Haut aussieht und sich anfühlt und die über Sensoren Informationen über den Träger sammeln. Hier werden zwei von der EU finanzierte Projekte vorgestellt. i) Im Projekt PepZoSkin wird eine flexible, sich selbst versorgende elektronische Haut entwickelt, die auf peptidbasierten piezoelektrischen Materialien basiert und sichere tragbare und implantierbare Anwendungen verspricht. ii) Das Projekt A-Patch will über Sensoren in elektronischen Haut-Patches Krankheits-spezifische Moleküle erkennen und damit eine rasche, effiziente, einfache und kostengünstige Diagnose ermöglichen - als Beispiel wird Tuberkulose angeführt - es kommt aber auch COVID-19 in Betracht.*

Stellen Sie sich Folgendes vor: jahrelang waren Ihre Arme ab den Handgelenken gefühllos, nun legt ein Arzt eine dünne, flexible Membran über Ihre Hand und - wie durch Zauberei - können Sie nun spüren, wie Wasser durch Ihre Finger rinnt. Abbildung 1.

Abbildung 1. Forscher in Europa arbeiten an elastischen Pflastern, die nachahmen, wie Haut aussieht und sich anfühlt und über Sensoren Informationen über den Träger sammeln. (Bild: Aaron Lee/Unsplash)

Dies mag nach einem seltsamen Szenario klingen, es ist es aber nicht. In ganz Europa machen Forscher rasche Fortschritte in der Entwicklung elastischer Pflaster, d.i. von Membranen welche die menschliche Haut in Aussehen oder Funktionalität oder in beiden Charakteristika nachahmen.

Elektronische Haut (E-Skin) wird als „tragbare Elektronik“ ("electronic wearable") eingestuft, d.h. als intelligentes Gerät, das auf oder nahe der Hautoberfläche getragen wird, um Informationen über den Träger zu erfassen und zu analysieren. Ein besser bekanntes elektronisches Wearable ist der Fitness-Tracker, der üblicherweise Bewegungen oder Vibrationen erfasst, um Feedback zur Leistung eines Benutzers zu geben. Weiter entwickelte Wearables sammeln Daten zur Herzfrequenz und zum Blutdruck einer Person.

Entwickler von E-Skins setzen sich aber höhere Ziele. Sie wollen dehnbare, robuste und flexible Membranen herzustellen, die hochentwickelte Sensoren enthalten und die Fähigkeit haben sich selbst zu heilen. Die möglichen Auswirkungen auf Medizin und Robotik sind enorm.

Zentrales Nervensystem

Bereits im Umlauf sind hautähnliche Membranen, die an der Körperoberfläche haften und Druck, Belastung, Verschiebung, Kraft und Temperatur erfassen; andere Typen werden entwickelt, um biochemische Veränderungen zu erkennen, die auf eine Krankheit hinweisen. Abbildung 2.

Abbildung 2. Eine Zusammenfassung der derzeitigen Entwicklung von tragbarer Elektronik, ausgerichtet zur Erfassung und Überwachung von Informationen zur menschlichen Gesundheit. (Bild aus: Yieding Gu et al., Nanoscale Res Lett. 2019; 14: 263. doi: 10.1186/s11671-019-3084-x; von der Redn. eingefügt. Lizenz: cc-by-4.0)

Eine Reihe von Projekten beschäftigt sich mit Hautformen, die Roboter oder menschliche Prothesen einhüllen sollen und diesen Maschinen und Apparaten die Möglichkeit geben Dinge zu manipulieren und ihre Umgebung mit einem hohen Maß an taktiler Empfindlichkeit wahrzunehmen. Und der Traum ist natürlich, eine E-Skin zu entwickeln, die sich mit dem Zentralnervensystem des Trägers (zum Beispiel einer gelähmten Person) verbinden kann, um so den durch Krankheit oder Trauma erlittenen Verlust der Sinnesempfindung wiederherzustellen.

Mit ihrem Projekt PepZoSkin (Biocompatible Self-powered Electronic Skin - https://cordis.europa.eu/project/id/875586) befinden sich Forscher der Universität Tel Aviv in Israel auf einem Weg, von dem sie glauben, dass er diesen Traum irgendwann Wirklichkeit werden lässt. Innerhalb eines Jahrzehnts glauben sie, dass künstliche Hautpflaster weit genug fortgeschritten sein werden, um die Träger auf Gefahren aufmerksam zu machen, die sie auf natürliche Weise nicht wahrnehmen können.

"Ich habe einen Freund im Rollstuhl, der kein Gefühl in den Beinen hat - er hat keine Ahnung, ob heißer Kaffee auf seine Beine verschüttet wurde", meint die wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Sharon Gilead. „Die Idee ist, dass ein Pflaster auf seinem Bein ein Signal gibt - vielleicht ein rotes Licht -, das ihm sagt, wenn etwas nicht stimmt und ihn so vor einer schweren Verbrennung bewahrt."

"Dies wird nur der Anfang sein. In der Weiterführung dieses Projekts wollen wir die dünne Schicht (E-Skin) dazu bringen mit dem Nervensystem zu sprechen und das fehlende Gefühl zu ersetzen. Auch wenn dies noch ein wenig weit weg liegt, ist es definitiv die Richtung in die wir uns bewegen."

Das Team in Tel Aviv entwickelt eine Haut, die Gesundheitsinformationen erfassen und analysieren soll, ohne dass dazu eine externe Stromquelle gebraucht wird. Die Membran soll als Selbst-Versorger fungieren dank eines als Piezoelektrizität bekannten Phänomens. In bestimmten Materialien (dazu gehören Knochen, DNA und bestimmte Proteine) akkumuliert elektrische Ladung als Reaktion auf mechanische Verformung. Kurz gesagt: drückt man auf eine E-Skin aus piezoelektrischem Material, selbst wenn dies sehr sanft geschieht, so wird diese eine elektrische Ladung erzeugen. Schließt man einen Stromkreis an, kann dieser Strom verwendet werden - beispielsweise, um einen Herzschrittmacher mit Strom zu versorgen.

Bei einer gelähmten Person würde das heiße verschüttete Getränk eine Verformung der E-Haut erzeugen, die von dieser als mechanischer Druck gedeutet würde, und dies würde wiederum in ein elektrisches Signal umgewandelt werden. Dieses Signal kann dann das Warnlicht oder einen Warnton auslösen.

Ungiftig

Derzeit besteht die Herausforderung darin, piezoelektrische Materialien zu finden, die für den Körper untoxisch sind. „Die heute verwendeten piezoelektrischen Materialien enthalten Blei und rufen schädliche Auswirkungen auf den Körper hervor. Wir konzentrieren uns auf Biomoleküle und von der Biologie inspirierte Moleküle (d.h. synthetisch hergestellte Moleküle, welche die im Körper vorkommenden nachahmen), “sagt Gal Fink, Doktorand und PepZoSkin Forscher.

Wie wichtig es ist, piezoelektrische Materialien zu finden, die zu sicheren Produkten entwickelt werden können, erklärt der Projektleiter Professor Ehud Gazit. "Unsere derzeitige Arbeit an piezoelektrischen Peptid-basierten Materialien wird sehr bald zu bleifreien Produkten führen, die wie die jetzt erhältlichen giftigen, bleigefüllten Produkte funktionieren, natürlich mit dem Unterschied, dass unsere neuen Materialien weitaus besser sein werden, weil ihre Anwendung am menschlichen Körper und sogar als Implantate sicher sein wird."

Das Team um Prof. Gazit erwartet, dass mit Anfang des kommenden Jahres das Projekt in die nächste Phase übergeht. Bis dahin hoffen sie, ihr organisches Molekül ausgewählt und für die piezoelektrische Aktivität optimiert zu haben. Sodann planen sie, das Molekül zu funktionellen Nanobausteinen zu entwickeln. Sie glauben, dass diese mit der Zeit in großem Umfang in biologischen und medizinischen Anwendungen eingesetzt und als Energy Harvester und Biosensoren dienen werden, die wichtige Informationen direkt vom menschlichen Gewebe an den Benutzer oder an einen Dritten übermittelt werden.

Krankheit

Biosensing ist auch das Kernstück von A-Patch (Autonomous Patch for Real-Time Detection of Infectious Disease - https://cordis.europa.eu/project/id/824270), einem weiteren E-Skin-Projekt. Mit ihrem Team am Israel Institute of Technology (Technion) in Haifa hat die wissenschaftliche Projektleiterin Dr. Rotem Vishinkin einen Patch entwickelt, der auf einer „verrückten Idee“ basiert, die der Projektkoordinator Professor Hossam Haick, vor fast einem Jahrzehnt hatte: nämlich, dass man Infektionskrankheiten schnell und zuverlässig über die Haut erkennen könnte.

"Wir hatten bereits einen Weg gefunden, um mithilfe der Atemanalytik zwischen Krankheiten zu unterscheiden. So dachten wir, dass es auch möglich wäre, ein Pflaster auf der Haut zu verwenden, um den Körper auf bestimmte Zustände hin zu "riechen", erklärt sie.

Vishinkin war besonders daran interessiert, einen schnellen, nicht-invasiven Weg zu finden, um auf Tuberkulose (TB) zu testen - eine hoch ansteckende Krankheit, die insbesondere in Entwicklungsländern verbreitet ist. An TB erkranken jährlich 10 Millionen Menschen und 1,4 Millionen sterben daran. Eine Früherkennung ist wichtig, da nach erfolgter Diagnose die Übertragung eingedämmt werden kann, und Antibiotika am wirksamsten sind, wenn die Infektion frisch ist.

Normalerweise wird TB aus dem Sputum diagnostiziert, das ein Patient aushustet. Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass viele Menschen nicht in der Lage sind, die Probe in einer, für ein genaues Ergebnis erforderlichern Qualität zu produzieren. Darüber hinaus kann es bis zu zwei Wochen dauern, bis ein Testergebnis geliefert wird, insbesondere in abgelegenen Gemeinden, wo Proben weite Distanzen überwinden müssen, um ein Labor zu erreichen - die Krankheit gewinnt so zusätzliche Tage oder sogar Wochen, um sich auszutoben.

A-Patch zielt darauf ab eine kostengünstige und effiziente Alternative zum Sputum-Test zu entwickeln. Das ultradünne, flexible Pflaster verwendet chemische Sensoren, um Veränderungen in (flüchtigen) organischen Verbindungen des Körpers zu detektieren, die ausgelöst werden, wenn sich das TB-Bakterium einnistet. Wie Dr. Vishinkin ausführt, werden die in Kürze veröffentlichten Forschungsergebnisse (die von der Bill and Melinda Gates Foundation finanziert werden), zeigen, dass das A-Patch - eine Stunde lang getragen - eine TB-Diagnose mit einer Genauigkeit von 90% liefert. Das Team hofft, die Tragedauer auf fünf Minuten zu reduzieren, wobei das Pflaster auf den Arm aufgebracht wird.

Ein Einweg-A-Patch wird ein bis zwei US-Dollar kosten und keine andere Laborausrüstung benötigen als ein elektronisches Lesegerät, mit dem ein Arzt das Patch aktivieren und die Ergebnisse interpretieren kann. Um das Produkt auf den Markt zu bringen erhält das Technion-Team Unterstützung von einem auf diagnostische Kits spezialisierten Industriepartner. Dr. Vishinkin ist zuversichtlich dass innerhalb der nächsten Jahren ein brauchbarer Test eingeführt wird.

"Wir schätzen, dass der vorhandene Markt für diese Kits 71 Millionen Tests pro Jahr beträgt", sagt sie. "Und da ein Pflaster zu Hause verwendet werden kann, braucht man keine, mit dem Gang eine TB-Klinik zur Testung, verbundene Stigmatisierung befürchten  Dies bedeutet, dass die Menschen eher bereit sein werden, diesen Schritt zu machen.“

Die genaue Vorgangsweise in der Übertragung von Patch-Ergebnissen vom Patch zum Lesegerät wird noch ausgearbeitet. "Wir haben Partner in den Bereichen elektronische Schaltungen, Sensoren und Datenanalytik, die uns bei den einzelnen Gesichtspunkten des Projekts helfen", sagte Dr. Vishinkin.

Im Laufe der Zeit rechnet Dr. Vishinkin damit ein Pflaster für längerfristige Anwendungen zu entwickeln, beispielsweise um die Wirksamkeit eines TB-Behandlungsprotokolls über mehrere Wochen hinweg zu überwachen. Allerdings besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Patch bei längerer Verwendung eingerissen oder beschädigt wird, wodurch er unwirksam wird. Um dieses Risiko zu vermindern, haben die Wissenschaftler einen Mechanismus zur Selbstreparatur von Pflastern entwickelt, der es der Matrix der Peptidbindungen in einer Membran ermöglicht, nach Erkennung von Schäden neue Netzwerke zu bilden und die Integrität der E-Haut wiederherzustellen.

"Jeder Tag bringt uns unserem Ziel näher, ein schnelles, zuverlässiges und einfaches Diagnosewerkzeug für TB zu entwickeln", sagte Dr. Vishinkin. "Und wir werden hier nicht aufhören. Was wir schaffen, ist eine Plattform zur Erkennung von Krankheiten, nicht nur ein Kit für eine bestimmte Krankheit.

Wir könnten als nächstes leicht zu Covid-19 wechseln. “


Dieser Artikel wurde ursprünglich am 28. Oktober 2020 von Vittoria D'Alessio in Horizon, the EU Research and Innovation Magazine  unter dem Titel "Electronic skin patches could restore lost sensation and detect disease "publiziert. Der unter einer cc-by-Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt. Abbildung 2 und Beschriftung wurden von der Redaktion eingefügt.


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Inge Schuster, 17.07.2015: Unsere Haut – mehr als eine Hülle. Ein Überblick.

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inge Thu, 29.10.2020 - 01:27

Schützende Antikörper bleiben nach überstandener SARS-CoV-2-Infektion monatelang bestehen

Schützende Antikörper bleiben nach überstandener SARS-CoV-2-Infektion monatelang bestehen

Do, 22.10.2020 — Francis S. Collins

Francis S. CollinsIcon Medizin Die USA sind ein Hotspot für SARS-CoV-2 verursachte Infektionen: über 8,2 Millionen Menschen wurden dort bis jetzt positiv auf das Virus getestet, über 221 000 sind an/mit der Erkrankung COVID-19 gestorben. Häufig wird die Frage gestellt, ob bei Personen, die sich von der Krankheit wieder erholt haben, die einmal erfolgte Abwehr von SARS-CoV-2 dazu geführt hat, dass das Immunsystem sie nun vor einer erneuten Infektion schützt. Und, sollte dies der Fall sein, wie lange diese „erworbene Immunität“ anhalten wird. Zwei neue Studien geben darauf eine positive Antwort. Francis S. Collins berichtet über diese Ergebnisse. Collins, ehem. Leiter des "Human Genome Project" ist langjähriger Direktor der US-National Institutes of Health (NIH), die in Zusammenarbeit mit der Biotech-Firma Moderna (Cambridge, MA) in Rekordzeit einen spezifischen Impfstoff gegen das Coronavirus entwickelt haben, dessen klinische Testung in Phase 3 in den nächsten Monaten zu Ende gehen wird.*

Schützt eine einmal überstandene SARS-CoV-2-Infektion vor einer Neuinfektion?

Frühe, bereits Ende April publizierte Befunde haben Anlass zur Hoffnung gegeben, dass eine gegen das Virus erworbene Immunität möglich wäre. Allerdings gab es dann einige nachfolgende Studien, die darauf hindeuteten, dass der Immunschutz nur von kurzer Dauer sein könnte. Zwei kürzlich in der Fachzeitschrift Science Immunology veröffentlichte neue Studien stützen die frühen Befunde und bieten - auch wenn weitergehende Untersuchungen erforderlich sind - einen besseren Einblick in die Art der menschlichen Immunantwort auf dieses Coronavirus [1,2].

Wie die neuen Ergebnisse zeigen, produzieren Menschen, die eine COVID-19-Infektion überstehen, noch mindestens drei bis vier Monate nach dem Auftreten der ersten Symptome schützende Typen von Antikörpern gegen wesentliche Bausteine des Virus. Einige andere Antikörpertypen nehmen dagegen schneller ab. Die Ergebnisse lassen hoffen, dass mit dem Virus infizierte Menschen einen anhaltenden Antikörperschutz gegen eine erneute Infektion haben werden, wobei noch zu bestimmen ist, wie lange dieser Schutz andauert. 

Abbildung 1. Künstlerische Darstellung eines SARS-CoV-2 Virus (orange), der an seiner Oberfläche mit Antikörper bedeckt ist (weiß), die von einer B-Immunzelle (grau, am unteren linken Rand) produziert werden. Credit: iStock/selvanegra

Entwicklung von Antikörpertypen nach Infektion mit SARS-CoV-2

Eine der beiden, teilweise von den NIH finanzierten Studien fand unter der Leitung von Richelle Charles vom Massachusetts General Hospital in Boston statt. Die Forscher versuchten hier besser zu verstehen, wie eine Antikörperantwort auf die Infektion mit SARS-CoV-2 erfolgt. Dazu rekrutierten sie 343 Patienten, von denen die meisten schwer an COVID-19 erkrankt waren und einer stationären Krankenhausbehandlung bedurften. In den Blutproben dieser Patienten untersuchten sie dann die Antikörperantwort, die diese bis zu 122 Tage nach Auftreten der Symptome entwickelten und verglichen sie mit Antikörpern in mehr als 1.500 Blutproben, die vor Beginn der Pandemie gesammelt worden waren.

In den Blutproben beschrieben die Forscher die Entstehung von drei Typen von Antikörpern gegen die Domäne des viralen Spikeproteins, mit dem dieses an den Rezeptor der Wirtszelle (ACE2-Rezeptor) andockt. Der erste Antikörper-Typ war ein Immunglobulin G (IgG), welches das Potenzial hat, eine anhaltende Immunität zu verleihen. Der zweite Typ war Immunglobulin A (IgA), das vor Infektionen auf den Schleimhautoberflächen des Körpers schützt, wie sie in den Atemwegen und im Magen-Darm-Trakt zu finden sind, und das in hohen Mengen in Tränen, Schleim und anderen Körpersekreten enthalten ist. Der dritte Typ war ein Immunglobulin M (IgM), das der Körper als erstes produziert, wenn er eine Infektion bekämpft.

Alle drei Antikörper-Typen konnten etwa 12 Tage nach der Infektion nachgewiesen werden. Die IgA- und IgM-Antikörper gegen das Spike-Protein waren allerdings kurzlebig und innerhalb von etwa zwei Monaten verschwunden.

Die gute Nachricht: bei denselben Patienten hielten die länger andauernden IgG-Antikörper bis zu vier Monate an, also solange die Forscher diese verfolgen konnten. Die Spiegel dieser IgG-Antikörper dienten im Labor auch als Indikator für das Vorhandensein von schützenden Antikörpern, die SARS-CoV-2 neutralisieren können. Die noch bessere Nachricht: die neutralisierende Wirkung nahm während 75 Tagen nach Auftreten der Symptome nicht ab. Wenn hier auch längerdauernde Studien erforderlich sind, so stützen die Ergebnisse den Nachweis, dass schützende Antikörperantworten gegen das neue Virus bestehen bleiben.

Die zweite Studie kam zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Das Team unter der Leitung von Jennifer Gommerman und Anne-Claude Gingras, Universität von Toronto, Kanada, beschrieb die gleichen drei Arten von Antikörperantworten gegen das SARS-CoV-2-Spike-Protein. Die Antikörper-Profile waren aus Blut- und Speichelproben von 439 Personen erhalten worden, die 3 bis 115 Tage zuvor COVID-19-Symptome entwickelt hatten; allerdings mussten nicht alle stationär im Krankenhaus behandelt werden. Das Team verglich dann die Antikörperprofile der COVID-19-Patienten mit denen von Personen, die COVID-19-negativ waren.

Die Forscher fanden heraus, dass die Antikörper gegen SARS-CoV-2 in Blut und Speichel leicht nachgewiesen werden konnten. Die IgG-Spiegel erreichten etwa zwei Wochen bis einen Monat nach der Infektion einen Höchstwert und blieben dann länger als drei Monate stabil. Ähnlich wie beim Bostoner Team sanken auch bei der kanadischen Gruppe die IgA- und IgM-Antikörperspiegel rapide.

Ausbreitung von SARS-CoV-2 durch Antikörpertests verfolgt

Die Ergebnisse legen nahe, dass Antikörpertests als wichtiges Instrument zur Verfolgung der Ausbreitung von SARS-CoV-2 in unseren Gesellschaften dienen können. Im Gegensatz zu Tests auf das Virus selbst bieten Antikörpertests ein Mittel zum Nachweis von Infektionen, die irgendwann in der Vergangenheit aufgetreten sind, einschließlich solcher, die möglicherweise asymptomatisch verliefen.

Die Ergebnisse des kanadischen Teams legen ferner nahe, dass Tests von IgG-Antikörpern im Speichel ein bequemer Weg sein können, um die erworbene Immunität einer Person gegen COVID-19 zu verfolgen.

Da IgA- und IgM-Antikörper schneller abnehmen, könnte ein Testen auf diese unterschiedlichen Antikörpertypen auch dazu beitragen, um zwischen einer Infektion innerhalb der letzten zwei Monate und einer, die sich noch früher ereignete, zu unterscheiden. Solche Details sind wichtig, um Lücken in unserem Verständnis von COVID-19-Infektionen zu füllen und deren Ausbreitung in unseren Gesellschaften zu verfolgen.

Dennoch, es gibt einige wenige Berichte von Personen, die den Kampf mit COVID-19 überstanden haben und einige Wochen später mit einem anderen SARS-CoV-2-Stamm infiziert wurden [3]. Die Seltenheit solcher Berichte legt jedoch nahe, dass die nach einer SARS-CoV-2-Infektion erworbene Immunität im Allgemeinen schützend ist.

Es bleiben noch viele Fragen offen; um diese zu beantworten müssen ausgedehntere Studien mit einer größeren Diversität an Personen, die COVID-19 überstanden haben, durchgeführt werden. Es freut mich daher, dass das National Cancer Institute (NCI) der NIH kürzlich das NCI Serological Sciences Network für COVID19 (SeroNet) ins Leben gerufen hat, das nun das größte koordinierte Vorgehen des Landes zur Charakterisierung der Immunantwort auf COVID-19 darstellt [4].


[1] Persistence and decay of human antibody responses to the receptor binding domain of SARS-CoV-2 spike protein in COVID-19 patients. Iyer AS, Jones FK, Nodoushani A, Ryan ET, Harris JB, Charles RC, et al. Sci Immunol. 2020 Oct 8;5(52):eabe0367.

[2] Persistence of serum and saliva antibody responses to SARS-CoV-2 spike antigens in COVID-19 patients. Isho B, Abe KT, Zuo M, Durocher Y, McGeer AJ, Gommerman JL, Gingras AC, et al. Sci Immunol. 2020 Oct 8;5(52):eabe5511.

[3] What reinfections mean for COVID-19 . Iwasaki A. Lancet Infect Dis, 2020 October 12. [Epub ahead of print]

[4] NIH to launch the Serological Sciences Network for COVID-19, announce grant and contract awardees. National Institutes of Health. 2020 October 8.


*Dieser Artikel von NIH Director Francis S. Collins, M.D., Ph.D. erschien zuerst (am 20. Oktober 2020) im NIH Director’s Blog unter dem Titel: "Two Studies Show COVID-19 Antibodies Persist for Months" https://directorsblog.nih.gov/2020/10/20/two-studies-show-covid-19-antibodies-persist-for-months/. Er wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu übersetzt und geringfügig (mit einigen Untertiteln) für den ScienceBlog adaptiert. Reprinted (and translated by ScienceBlog) with permission from the National Institutes of Health (NIH).


Weiterführende Links

NIH: Coronavirus (COVID-19) https://www.nih.gov/coronavirus

National Cancer Institute/NIH: NCI Serological Sciences Network for COVID-19 (SeroNet) https://www.cancer.gov/research/key-initiatives/covid-19/coronavirus-research-initiatives/serological-sciences-network

Artikel von Francis S. Collins zu COVID-19 im ScienceBlog:


 

inge Wed, 21.10.2020 - 23:28

Wie lange bleibt SARS-CoV-2 auf Oberflächen infektiös?

Wie lange bleibt SARS-CoV-2 auf Oberflächen infektiös?

Fr 16.10.2020 Inge Schuster Inge SchusterIcon Medizin

Wenn auch die überwiegende Zahl der SARS-CoV-2 Infektionen über Atemtröpfchen erfolgen dürfte, ist bei den nun wieder stark steigenden Infektionszahlen eine Ansteckung über kontaminierte Oberflächen durchaus denkbar. Eine neue Studie australischer Forscher zeigt  die überraschend hohe Stabilität von SARS-CoV-2 Viren auf Oberflächen und Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Häufiges Reinigen von Oberflächen, Mund-Nasenschutz, Händewaschen und Abliegenlassen von potentiell kontaminiertem Material erweisen sich als effiziente Mittel eine Infektion mit dem Virus zu verhindern.

Die derzeit gängige Ansicht zur Ausbreitung von SARS-CoV-2 geht davon aus, dass die Infektion überwiegend über Atemtröpfchen erfolgt, die von infizierten Personen beim Husten, Niesen, Sprechen oder auch Singen ausgestoßen werden und von anderen, in der Nähe befindlichen Personen in Nase, Mund, Atemtrakt, Lunge eingeatmet werden. Während große Tröpfchen schnell auf den Boden sinken, können kleine Tröpfchen sich als Aerosole verflüchtigen und eine beträchtliche Zeit in der Luft verbleiben, wobei die Infektiosität des darin eingeschlossenen Virus über Stunden erhalten bleibt.

Infektion über kontaminierte Oberflächen?

Virenhaltige Sekrete können aber auch auf sogenannten Fomiten, das sind unbelebte Oberflächen und Gegenstände, landen. Berührt man solche kontaminierte Stellen mit den Händen, so können diese Viren auf Augen und Schleimhäute von Nase und Mund übertragen. Die Möglichkeit einer Schmierinfektion über kontaminierte Gegenstände und Oberflächen wurde auch von der WHO explizit angeführt. Ausschlaggebend dafür, dass es zu einer Infektion kommen kann, ist vor allem die Konzentration des Virus und wie lange es auf welchen Oberflächen infektiös bleibt.

Bisherige Untersuchungen haben gezeigt, dass die meisten den Atmungstrakt infizierenden Viren, wie Influenza-, Corona- und Rhinoviren, auf unbelebten Oberflächen auch noch nach mehreren Tagen nachgewiesen werden können [1].

Zur Stabilität von SARS-CoV-2 auf einzelnen Oberflächen gibt es widersprüchliche Angaben. Dabei muss man berücksichtigen, dass viele der diesen Aussagen zugrunde liegenden Versuchsansätze wenig Relevanz für realistische Situationen haben dürften: diese sind ja abhängig von der Zahl der Viren, die in einem schleimhaltigen Medium ausgehustet, ausgeniest, ausgespuckt werden, von der Beleuchtung (Anteile von UV-Licht inaktivieren Viren), Temperatur, Luftfeuchtigkeit und einem eventuellem Austrocknen des Inokulums auf den Oberflächen. Die längste Nachweisbarkeit von infektiösem SARS-CoV-2 wurde mit einem anfänglich sehr großen Inokulum (10 Millionen Viren auf der zu testenden kleinen Oberfläche) erzielt.

Wie riskant ist es also durch Anfassen von kontaminierten Oberflächen an Schmierinfektionen zu erkranken?

Ein Ansatz, um reale Gegebenheiten besser nachzuahmen

Eine australische Forschergruppe der Commonwealth Scientific and Industrial Research Organization (CSIRO) hat nun vor wenigen Tagen eine Studie veröffentlicht, in der sie die Überlebensrate infektiöser SARS-CoV-2-Viren auf einer Reihe von im Alltag gebräuchlichen Oberflächen - Edelstahl, Plastik, Glas, Papier und Baumwollstoff - unter möglichst realistischen Bedingungen bestimmte [2].

Um Sekrete des Nasen-/Rachenraums nachzuahmen wurde das Virus in einer Albumin und Mucin (Schleimsubstanz) enthaltenden Lösung suspendiert und auf die einzelnen zu untersuchenden Oberflächen in einer Dosis aufgetragen, die ein stark infektiöser Patient beim Husten abgeben würde (350 000 Partikel in 10 Mikroliter).

Um vor etwaigen UV-bedingten Inaktivierungen des Virus zu schützen, wurden die kontaminierten Oberflächen dann im Dunkeln, in einer Klimakammer bei Raumtemperatur (20oC), bei 30oC und 40oC und 50 % Luftfeuchtigkeit bis zu 28 Tage lang inkubiert. Nach bestimmten Zeitintervallen wurde die auf einzelnen Oberflächen verbliebene Infektiosität mit Hilfe von infizierbaren Zellkulturen bestimmt. Als Modell dienten dabei Vero E6-Zellen, eine etablierte Zelllinie aus Nierenzellen von grünen Meerkatzen, die von vielen Viren infizierbar ist. Abbildung 1.

Abbildung 1. Eine Vero E6- Zelle (blau), die massiv mit SARS-CoV-2 (braun) infiziert ist. Kolorierte Aufnahme mit Rasterelektronenmikroskop. (Quelle: NIAID - https://www.flickr.com/photos/niaid/49680384436/ ; cc-by-2.0 Lizenz)

SARS-CoV-2 ist auf kontaminierten Oberflächen robuster als angenommen

Generell erwies sich das Virus bei Raumtemperatur (20oC) stabiler als bei höheren Temperaturen (30oC und 40oC) und auf glatten Oberflächen stabiler als auf porösen Oberflächen wie beispielsweise Baumwollstoff. (Eigentlich hätte man höhere Stabilität auf raueren Oberflächen angenommen.)

Bei Raumtemperatur (20oC) wurde auf Edelstahl, Glas und auf Banknoten (aus glattem Papier und auch aus Kunststoff) infektiöses Virus auch noch nach 28 Tagen festgestellt (im Vergleich dazu konnte man infektiöses Influenza A Virus nur 17 Tage lang finden). Besonders beeindruckend erscheint die Stabilität von SARS-CoV-2 auf Banknoten. Auf porösem, rauem Untergrund wie Baumollstoff erfolgte die Inaktivierung dagegen wesentlich rascher. Auf allen Oberflächen war bei 20oC eine zehnfache Reduktion des aktiven Virus in einem Zeitraum von 5,6 bis 9,1 Tagen festzustellen.

Mit zunehmender Temperatur sank die Stabilität des Virus; bei 40oC überlebte es auf einigen Oberflächen nicht einmal 24 h. Abbildung 2 fasst die Überlebenszeit von SARS-CoV-2 auf einigen der getesteten Oberflächen zusammen.

Abbildung 2. Infektiosität von SARS-CoV.2-kontaminierten Oberflächen, die bei 50 % Luftfeuchtigkeit und verschiedenen Temperaturen gelagert wurden. Nach 24 h bei 40oC wurden in Baumwollstoff keine infektiösen Partikel mehr nachgewiesen. TCID50-Daten (Tissue-Culture Infection Doses - Quantifizierung der vermehrbaren Viren, hier im Vero- E6 Modell) sind in log10-Schritten gezeigt; der Grenzwert der Detektierbarkeit lag bei 0,8 log10TCID50. (Quelle: Shane Riddell et al.,2020, Lizenz: cc-by. [2])

Fazit

Offensichtlich bleibt die Infektiosität von mit SARS-CoV-2 kontaminierten, im Alltag gebräuchlichen Oberflächen länger erhalten als ursprünglich angenommen. Insbesondere erscheint die lange Persistenz auf rasch zirkulierenden Banknoten (die dann in der dunklen Geldbörse aufbewahrt werden) von besonderer Bedeutung. Eine erhöhte Ansteckungsgefahr könnte auch von glatten, häufig von verschiedensten Personen frequentierten Oberflächen wie den Touchscreens von Bankautomaten, Supermarkt-Kassen, Check-in-Schaltern etc. ausgehen, die ja nicht ständig in ausreichendem Ausmaß desinfiziert werden können.

Was man dagegen machen kann?

Zur Verminderung einer Schmierinfektion Mund-Nasen-Masken - möglichst aus Baumwollstoffen - tragen, nach Kontakt mit möglicherweise infizierten Oberflächen Hände desinfizieren und verdächtige erworbene Gegenstände für einige Zeit im Licht abliegen lassen.


 [1] Shi-Yan Ren et al., Stability and infectivity of coronaviruses in inanimate environments. World J Clin Cases 2020 April 26; 8(8): 1391-1399. DOI: https://doi.org/10.12998/wjcc.v8.i8.1391.

[2] Shane Riddell et al., The effect of temperature on persistence of SARS‑CoV‑2 on common surfaces. Virol J (2020) 17:145. https://doi.org/10.1186/s12985-020-01418-7


 

inge Thu, 15.10.2020 - 19:08

Genom Editierung mittels CRISPR-Cas9 Technologie - Nobelpreis für Chemie 2020 an Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna

Genom Editierung mittels CRISPR-Cas9 Technologie - Nobelpreis für Chemie 2020 an Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna

Do, 08.10.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Chemie

Der Chemie-Nobelpreis 2020 ging je zur Hälfte an die französische Biologin Emmanuelle Charpentier und an die US-amerikanische Biochemikerin Jennifer Doudna. Basierend auf CRISPR-Cas, dem Verteidigungsmechanismus von Bakterien gegen Viren (Phagen) haben die Laureaten eine Genschere entwickelt, die präzise, effizient und kostengünstig jede beliebige DNA ansteuert und an einer vorbestimmten Stelle schneidet und verändert. CRISPR-Cas ermöglicht die Genome von Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren gezielt zu verändern und hat innerhalb kürzester Zeit die biologisch/medizinischen Labors in aller Welt revolutioniert.

Wie rasant der Fortschritt in den Biowissenschaften verläuft, bislang Unvorstellbares zu etablierten, breitest angewandten Technologien werden kann, lässt sich aus einem kurzen Absatz erkennen, den der berühmte Molekularbiologe und Nobelpreisträger Jaques Monod vor 50 Jahren in seinem Buch "Zufall und Notwendigkeit" so formuliert hat:

"Die moderne molekulare Genetik bietet uns keine wie immer gearteten Mittel um auf unser Erbmaterial einzuwirken, um es mit neuen verbesserten Eigenschaften zu versehen - einen Supermenschen zu erzeugen. Ganz im Gegenteil, sie zeigt uns dass diese Hoffnung vergeblich ist: die mikroskopischen Eigenschaften des Genoms lassen heute und vermutlich auch in der Zukunft eine derartige Manipulation von Genen als unwahrscheinlich erscheinen."

Nun, die Geschichte hat Monod wiederlegt; gezielte Genveränderungen (Genom Editierung) gibt es bereits seit einem Jahrzehnt. Die von Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna entwickelte CRISPR-Cas Technologie ist ein noch besseres, einfaches und kostengünstiges Verfahren, das die gesamten Biowissenschaften revolutioniert hat.

Als Emmanuelle Charpentier in einem Vortrag über "The revolution of CRISPR-Cas Genome engineering - lessons learned from bacteria" im Mai 2016 in Wien Monod's Ausspruch zitierte, war sie selbst bereits berühmt, international weitesten Kreisen bekannt und mit Auszeichnungen überhäuft. Ein Jahrzehnt zuvor hatte sie an den Max-Perutz Laboratories in Wien (und später an der Universität von Umea/Schweden) über das adaptive Immunsystem CRISPR-Cas9 gearbeitet, mit dem sich Bakterien und Archaea vor infizierenden Viren (Phagen) schützen, indem sie deren DNA zerschneiden. Dabei entdeckte sie in dem Abwehrsystem eine essentielle Komponente (die sogenannte tracrRNA), welche die zu schneidende DNA identifiziert. 2011 veröffentlichte sie diese Entdeckung.

Als Charpentier im selben Jahr auf einer Konferenz die US-amerikanische Biochemikerin Jennifer Doudna (University Berkeley),eine Expertin auf dem RNA- und Cas-Gebiet kennenlernte, startete sie mit ihr eine Zusammenarbeit. Diese führte zur Vereinfachung des CRISPR-Cas Systems und programmierte es um, sodass es nun nicht nur Viren-DNA sondern jede beliebige DNA ansteuert und präzise an einer vorbestimmten Stelle schneidet.

Die erste Publikation über diese revolutionäre Technologie im Jahr 2012 hat eine Welle der Begeisterung ausgelöst - man erkannte das ungeheure Anwendungspotential in unterschiedlichsten Disziplinen von der Synthetischen Biologie, der Humanmedizin bis hin zur Landwirtschaft. Dazu kommt, dass es eine billige Methode ist, leicht und universell anwendbar. Eine nicht abebbende Flut an Untersuchungen war die Folge: die US-amerikanische Datenbank listet über 10 000 Veröffentlichungen und jährlich kommen über 2000 hinzu.

Dass verschiedene Aspekte von CRISPR-Cas auch im ScienceBlog Thema sind, ist nur zu verständlich. Im Folgenden sind mehrere Artikel (in Form von Abstracts) angeführt: i) ein leicht verständlicher Überblick über Entstehung und Anwendungen der Methode, ii) über das Potential in der Gentherapie, iii) das Potential in der Validierung von Wirkstoffen, iv) das Potential in der Therapie der Schmetterlingskrankheit und v) über die Anwendung zur Freisetzung genetisch modifizierter Organismen.


Genom Editierung mit CRISPR-Cas9 - was ist jetzt möglich?

Christina Beck, 23.4.2020 Genom Editierung mit CRISPR-Cas9 - was ist jetzt möglich? .

Christina BeckIcon BiologieBakterien haben gelernt sich gegen die sie infizierenden Viren, die sogenannten Bakteriophagen, zu schützen. Auf diesem Schutzmechanismus basiert die CRISPR-Cas9 Technik, eine einfache, billige Methode, mit der man innerhalb weniger Stunden die DNA präzise schneiden und nach Wunsch verändern kann. Die Methode funktioniert bei jedem Organismus, an dem sie ausprobiert wurde, – vom Fadenwurm über Pflanzen bis hin zum Menschen - und hat die biologisch-medizinischen Wissenschaften revolutioniert. Die Zellbiologin Christina Beck, Leiterin der Kommunikation der Max-Planck-Gesellschaft, gibt einen Überblick über Entstehung und Anwendung der Methode und spannt einen Bogen von Programmen zur Wiederbelebung bereits ausgestorbener Tiere bis zur Genchirurgie von Erbkrankheiten beim Menschen.

Was bedeutetübrigens CRISPR? Wir blicken zurück in das Jahr 1987: Bei der Untersuchung von E. coli-Bakterien stoßen japanische Mikrobiologen unter Mojica zum ersten Mal auf ungewöhnliche, sich wiederholende DNA-Sequenzen im Erbgut eines Bakteriums. Diese Sequenzen werden als Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats – oder kurz CRISPR bezeichnet. 2005 entdeckt Mojica dass sie mit Ausschnitten aus dem Genom eines Bakteriophagen, eines für Bakterien schädlichen Virus, übereinstimmen. Erstmals äußert er die Vermutung, dass CRISPR in Bakterien die Funktion eines adaptiven Immunsystems haben könnte.


Finden und Ersetzen: Genchirurgie mittels CRISPR/Cas9 erscheint ein aussichtsreicher Weg zur Gentherapie

Francis.S.Collins, 02.02.2017: Finden und Ersetzen: Genchirurgie mittels CRISPR/Cas9 erscheint ein aussichtsreicher Weg zur Gentherapie.

Francis S. Collins 2.2.2017

Francis S. CollinsIcon MedizinIn der Forschung zur Gentherapie gibt es eine immerwährende Herausforderung: Es ist die Suche nach einem verlässlichen Weg, auf dem man eine intakte Kopie eines Gens sicher in relevante Zellen einschleusen kann, welches dann die Funktion eines fehlerhaften Gens übernehmen soll. Mit der aktuellen Entdeckung leistungsfähiger Instrumente der Genchirurgie ("Gene editing"), insbesondere des CRISPR-Cas9 Systems - beginnen sich nun die Chancen einer erfolgreichen Gentherapie zu vergrößern. Francis Collins, Direktor der US National Institutes of Health (NIH) und ehem. Leiter des "Human Genome Project" berichtet hier von einer zukunftsweisenden Untersuchung , die nicht nur Fortschritte in der Heilung der seltenen Erbkrankheit "septische Granulomatose" verspricht, sondern auch von vielen anderen Erbkrankheiten.

Das CRISPR/Cas9 System ermöglicht Mutationen gezielt aus einem Gen zu entfernen und durch eine korrekte Version zu ersetzen. Das ursprünglich in Bakterien entdeckte Enzym Cas9 (Kristallstruktur, hellblau) kann eine DNA (gelb) an der gewünschten Stelle durchschneiden. Die präzise Positionierung der Schnittstelle wird durch ein an Cas9 gebundenes kurzes Gegenstück zur zu schneidenden DNA - einer "guide RNA" (rot) - ermöglicht. (Credit: Bang Wong, Broad Institute of Harvard and MIT, Cambridge, MA)

 


Wenn das angepeilte Target nicht das tatsächliche Target ist - ein Grund für das klinische Scheitern von Wirkstoffen gegen Krebs

Ricki Lwis, 28.11.2019 Wenn das angepeilte Target nicht das tatsächliche Target ist - ein Grund für das klinische Scheitern von Wirkstoffen gegen Krebs

Ricki LewisIcon MedizinDer Entwicklung neuer Arzneimittel geht die Suche nach Zielstrukturen - Targets - voraus, die essentiell in das Krankheitsgeschehen involviert sind und gegen die dann Wirkstoffe designt werden können. Der allergrößte Teil der solcherart gegen Krebserkrankungen entwickelten Stoffe scheitert aber in der klinischen Prüfung, wobei mangelnde Wirksamkeit einer der Hauptgründe ist. Eine neue Studie an einer Reihe von klinischen Entwicklungssubstanzen wendet die CRISPR-Cas Technologie nun an, um das postulierte Target zu entfernen - falls ein Wirkstoff dann immer noch wirkt, so war das angenommene Target nicht das wirkliche Target. Damit deckt die Studie auf, dass zahlreiche der postulierten Targets und damit deren Wirkungsmechanismen unrichtig sind und eine bereits in der Präklinik erfolgende Validierung der echten Targets die Zahl unwirksamer klinischer Studien reduzieren könnte. Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet über diese Studie.


Gentherapie - Hoffnung bei Schmetterlingskrankheit

Eva Maria Murauer, 02.03.2017: Gentherapie - Hoffnung bei Schmetterlingskrankheit.

Eva Maria MurauerIcon Medizin

Die Schmetterlingskrankheit - Epidermolysis bullosa (EB) - ist eine derzeit (noch) nicht heilbare, seltene Erkrankung, die durch Mutationen in Strukturproteinen der Haut hervorgerufen wird und in Folge durch eine extrem verletzliche Haut charakterisiert ist. Dr. Eva Maria Murauer vom EB-Haus Austria zeigt, dass sich derartige Mutationen in den Stammzellen von Patienten mittels Gentherapie korrigieren lassen und aus den so korrigierten Zellen Hautäquivalente produziert werden können, welche die Haut von EB-Patienten stückweise ersetzen und (langfristig) die Charakteristik einer stabilen, gesunden Haut bewahren können.

Erste Versuche zur Korrektur des Kollagen VII-Gens mittels der CRISPR Cas9 Technologie Bei dieser neuen Technologie wird kein zusätzliches Gen in die Hautzelle eingebracht, sondern die Mutation wird im defekten Gen direkt und bleibend korrigiert. Sind dominant vererbte Erkrankungen durch ein falsch funktionierendes Protein bedingt, so ist dies zweifellos gegenüber der oben beschriebenen Methode von Vorteil - es wird kein zusätzliches, fehlerhaftes Protein mehr produziert. Ein weiterer wichtiger Vorteil besteht darin, dass kein Virusvektor notwendig ist, um die Genreparatur zu bewerkstelligen und damit kein, wenn auch geringes, Risiko einer Tumorentstehung eingegangen wird.


Zur Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Natur 

Guy Reeves, 09.05.2019: Zur Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Natur

Guy ReevesIcon Politik und GesellschaftDas Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) zeigt mit seinem alljährlichen Bericht „Environment Frontiers“ Herausforderungen auf, welche die natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten künftig maßgeblich mitbestimmen werden. Im Report 2018/2019 wird fünf neu auftretenden Themen besondere Bedeutung zugemessen. Am Beginn steht die "Synthetische Biologie", in welcher das Erbgut von Organismen so verändert wird, dass für den Menschen nützliche Eigenschaften entstehen.

Dank neuer Techniken wie der Genschere Crispr/Cas9 und des sogenannten Gene Drive können Forscher das Erbgut sehr viel schneller verändern und diese Veränderungen in kurzer Zeit selbst in großen Populationen verbreiten. Im Labor werden genetisch veränderte Organismen schon seit einiger Zeit erfolgreich eingesetzt, zum Beispiel in der Grundlagenforschung oder in der Produktion von Medikamenten. Nun sollen genetisch veränderte Organismen auch in die Natur entlassen werden. Im folgenden Interview sieht Dr.Guy Reeves (Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön) vor allem die Freisetzung genetisch veränderter infektiöser Viren mit Sorge.

Forschungsprogramm mit Potenzial für militärischen Einsatz: Wissenschaftler befürchten, dass das US-amerikanische Programm andere Länder dazu verleiten könnte, selbst Biowaffen zu entwickeln. © MPG/ D. Duneka


Weiterführende Links

  • Nobelpreis in Chemie 2020: https://www.nobelprize.org/prizes/chemistry/2020/press-release/
  • Scientific Background on the Nobel Prize in Chemistry 2020. A TOOL FOR GENOME EDITING. https://www.nobelprize.org/uploads/2020/10/advanced-chemistryprize2020.pdf
  • Akademie der Naturwissenschaften, Schweiz: Gene Drives - Wundermittel? Biowaffe? Hype? (Fast Forward Science 2018). 6:19 min. (Quelle: https://naturwissenschaften.ch/topics/synbio/applications/gene_drive)

https://www.youtube.com/watch?time_continue=3&v=ezR3CzOi8j8

  • Gen-editing mit CRISPR/Cas9 Video 3:13 min (deutsch) , Max-Planck Gesellschaft (2016) (Standard-YouTube-Lizenz )
inge Thu, 08.10.2020 - 01:02

Das geklonte Przewalski-Pferd und die Aussicht auf Wiederbelebung ausgestorbener Tierarten

Das geklonte Przewalski-Pferd und die Aussicht auf Wiederbelebung ausgestorbener Tierarten

Do, 01.10.2020 Ricki Lewis Ricki LewisIcon Biologie

Weltweit ist ein dramatischer Rückgang der Biodiversität zu beobachten. Przewalski-Pferde, einst die natürlichen Bewohner der asiatischen Steppen, haben strengere Winter, übermäßiges Bejagen und Vordringen des Menschen in ihren Lebensraum nach dem zweiten Weltkrieg praktisch völlig verschwinden lassen. Basierend auf wenigen, zuvor auf freier Wildbahn gefangenen Tieren (insgesamt 12) wurde in Zoos ein Zuchtprogramm aufgebaut, das schon rund 2 000 Tiere hervorgebracht hat, allerdings das Problem der Inzucht in sich birgt. Mit einem bereits 40 Jahre alten, in der genetischen Datenbank "San Diego Frozen Zoo" konservierten genetischen Material eines Przewalski-Hengstes konnte nun ein erstmals ein gesundes Hengstfohlen geklont werden. Dass das genetische Material so langfristige Stabilität zeigt, lässt Hoffnung für die Wiederbelebung auch anderer aussterbender Spezies aufkommen. Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet über dieses erfolgreiche Projekt.*

Am 6. August wurde Kurt, das erste geklonte Przewalski-Pferd, in Texas geboren. Abbildung 1.

Abbildung 1. Kurt, das geklonte Przewalski-Pferd.

Am Anfang von Kurt stand ein Zellkern, der vor 40 Jahren von einem anderen Artgenossen im San Diego Zoo eingefroren worden war; ein gewöhnliches Hauspferd war seine Leihmutter. Das Klonierungsprojekt geht auf den San Diego Zoo Global (https://www.sandiegozooglobal.org/), auf Revive & Restore (einer führenden Organisation, die natürliche Lebensformen bewahren möchte und dazu auch biotechnologische Praktiken anwendet; Anm. Red.) und auf Viagen Equine (ein auf das Klonen von Pferden spezialisiertes erfolgreiches Unternehmen; Anm. Redn.) zurück.

Shawn Walker, Chief Science Officer bei ViaGen kommentierte: „Das neue Przewalski-Hengstfohlen wurde völlig gesund und reproduktiv normal geboren. Es versetzt Kopfstöße, schlägt aus, wenn sein Platz streitig gemacht wird und verlangt Milch von seiner Leihmutter “.

Diese Nachricht hat mich begeistert, weil diese letzten überlebenden Wildpferde bei mir in meiner Jugend einen dauerhaften Eindruck hinterlassen hatten.

Wilde Wildpferde

Die Catskill Wildfarm war in den 1960er Jahren ein zauberhafter Ort für eine angehende Biologin. Meine Erfahrungen mit Wildtieren in der Stadt beschränkten sich auf Tauben, Eichhörnchen und gelegentliche Kaulquappen, die im Brooklyn Botanical Gardens aus dem Teich gesfischt wurden.

Stadtkinder wie ich konnten auf der Wildfarm in einem riesigen, eingezäunten Gebiet umherwandern zwischen Ziegen, Schafen, Schweinen, Hirschen, Kaninchen und Gänsen und sogar einem Elefantenbaby, die dort umherstreiften, dahinwatschelten und herumhüpften. Die weitläufige Menagerie, etwa zwei Autostunden nördlich von New York, verzauberte Tierliebhaber von 1933 bis 2006. Der Besitzer Roland Lindemann nahm auch „exotische“ Kreaturen auf, insgesamt waren es 150 Arten. Das US-Landwirtschaftsministerium (USDA) beurteilte 1958 den Ort offiziell als Zoo, allerdings als Streichelzoo. Im Laufe der Jahre lebten hier mehr als 2 000 Tiere.

Meine Lieblingsinsassen waren drei ruhige Przewalski-Pferde. Sie standen in ihrem Gehege, kindshoch, hinter Tafeln, die ihre faszinierende Geschichte erklärten und wie die Wildfarm die Paarung unterstütze, um die Herde der ernsthaft gefährdeten Pferde zu vergrößern.

Die Website des San Diego Frozen Zoos hat mir geholfen, Lücken in meinen Erinnerungen zu füllen. Die Pferde Roland, Belina und Bonnette waren 1966 auf der Catskill Wildfarm angekommen. Bonnette brachte 1969 Bolinda zur Welt und Belina ein Jahr später dann Belaya. Belina und Bonnette hatten sich offenbar mit ihrem Vater gepaart. Glücklicherweise hatten sie Nachwuchs bekommen, denn solch eine enge Inzucht kann auf Grund des gepaarten Auftretens rezessiver Mutationen die Fortpflanzung zum Scheitern verurteilen.

Ich nehme an, Roland hätte seine Töchter und Enkelinnen nicht für immer schwängern können. Also wurden die fünf Bewohner von Catskill in den San Diego Zoo umgesiedelt, um sich bald nach der Geburt weiteren Artgenossen anzuschließen.

Die traditionelle Züchtung ließ die Herde im Laufe der Jahrzehnte allmählich wachsen, was ziemlich oft zu Blutsverwandtschaften geführt haben muss. Seit der Ankunft der Catskill-Tiere wurden dort 149 weitere Przewalski-Pferde geboren, von denen leben jetzt etwa ein Dutzend in San Diego. Die Tiere lieben es sich im Staub zu wälzen, zu fressen und gegenseitige Fellpflege zu betreiben.

Einiges zum Przewalski-Pferd....

Das Przewalski-Pferd, auch bekannt als asiatisches oder mongolisches Wildpferd, ist nach dem Offizier Nikolai Przewalski benannt, der 1881 Wissenschaftlern in einem Museum in St. Petersburg Haut und Schädel des Pferdes vorführte. Aber dies war wahrscheinlich nicht die erste Beschreibung, da die Tiere Pferden ähneln, wie sie vor 30.000 Jahren in Höhlenmalereien in Frankreich und Spanien dargestellt wurden. Das Tier war kaum ein noch nicht benanntes Pferd.

Das Przewalski-Pferd und die Hauspferde sind, gemeinsam mit Zebras und wilden Eseln, Unterarten der Familie Equidae. Das Tier ist klein und stämmig mit einem gelblich-braunen Fell. Der Kopf ist groß, der Hals dick, mit einem dunklen Streifen am Rücken und einem gefiederten Schwanz. Der Bauch ist blass und die Hinterbeine gestreift wie die eines Zebras oder eines somalischen Wildesels. Es gibt keine Mähne, aber an Kinn und Nacken wächst im Winter die Behaarung. Abbildung 2.

Abbildung 2. Ausgewachsene Przewalski-Pferde (Bild von Redn. eingefügt aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Equidae#/media/Datei:PrzewalskiHerde.jpg, Lizenz: gemeinfrei)

Das Wildpferd ist fast 210 cm lang, 120 - 150 cm hoch und wiegt 200 bis 300 kg. Es lebt 25 bis 30 Jahre. Przewalski-Pferde fressen Gräser in der Wildbahn und Luzerne, Heu und Karotten im San Diego Zoo.

Stuten bringen nach einer elfmonatigen Tragezeit ein einzelnes Fohlen zur Welt, das etwa 30 kg wiegt. Weibliche Tier sind mit 3 Jahren geschlechtsreif, männliche Tier zwei Jahre später.

Obwohl Przewalski-Pferde 66 Chromosomen haben und Hauspferde 64, können sie fortpflanzungsfähige Nachkommen haben, die dann 65 Chromosomen besitzen. Diese Hybriden sehen dem Przewalski-Pferd so ähnlich, dass eine Untersuchung der Chromosomen erforderlich ist, um eine Unterscheidung zu treffen. Während der Evolution der Equidae verschmolzen wahrscheinlich die zwei kleinen Chromosomen der Przewalski 's zu einem großen Chromosom der Hauspferde.

... und seinem Genom

Der Vergleich von Pferdegenomen kann künftige Züchtungsbemühungen leiten und auch Einblicke in die ferne Vergangenheit gewähren.

Forscher des Zentrums für GeoGenetik am Naturhistorischen Museum Dänemarks haben das Genom eines Pferdes sequenziert, das vor 700.000 Jahren gelebt hat; sie isolierten es aus Zellen in einem Fragment eines Beinknochens, das aus dem Yukon-Permafrost herausragte, und verglichen es mit modernen Pferdegenomen.

„Nach unserer Schätzung haben sich vor 38.000 bis 72.000 Jahren die Populationen von Przewalski's und Hauspferden voneinander getrennt, und wir finden keine Hinweise darauf, dass in jüngster Zeit eine Vermischung zwischen den Hauspferderassen und dem Przewalski-Pferd stattgefunden hätte. Dies stützt die strittige Annahme, dass Przewalski-Pferde die letzte überlebende Population von Wildpferden darstellen. Wir finden bei Przewalski 's und Hauspferdpopulationen ähnliche Level genetischer Variationen, was darauf hinweist, dass erstere genetisch stabil sind und Schutzbemühungen verdienen “, schrieben sie im Fachjournal Nature.

Schwindende Zahlen

Przewalski-Pferde gab es einst in großer Zahl auf den weiten Graslandschaften, die von Ostasien bis nach Spanien und Portugal reichten. Als aber vor ungefähr 15.000 Jahren die Gletscher zurückgingen und die Steppen sich bewaldeten, litten die Tiere darunter und das Verbreitungsgebiet schrumpfte.

Ein Zeitsprung an das Ende des 18. Jahrhunderts zeigt nur mehr wenige Tiere, die in der Mongolei, in Polen und in Südrußland übergeblieben waren. Dann trieb die Landwirtschaft die Pferde in noch kleinere Lebensräume. Einige wurden auch als Haustiere gehalten.

Mehrere Literaturverweise geben an, dass alle heutigen Przewalski-Pferde von nur 12 oder 14 Tieren abstammen, die in der Zeit von 1910 bis 1960 in der Wildnis gefangen wurden, wobei vier Hauspferde zu dem Genpool hinzukamen.

1977 wurde die Stiftung zur Erhaltung und zum Schutz des Przewalski-Pferdes gegründet und erleichterte den Austausch von Tieren zwischen den Zoos. In den 1980er Jahren verblieben in der Mongolei nur noch wenige in freier Wildbahn, und die Unterart wurde bald für ausgestorben erklärt. Die Züchter erhöhten aber die Anzahl langsam, beginnend mit der Freilassung von 16 Pferden im Jahr 1992.

Heute gibt es weltweit eine Population von etwa 2.000 Tieren, die Hälfte davon in Freilandhaltung. Sie durchstreifen mit Gazellen und Rotwild Reservate in der Mongolei, in Kasachstan und in Nordchina. Die Tiere werden in der Mongolei "Takhi" genannt, was "Geist" bedeutet.

Ein Klon zu sein

Die Paarung von reinen Przewalski-Pferden oder der Versuch ein Przewalski-reiches Genom durch die Paarung von Hybriden aufzubauen, die aufgrund ihrer genetischen Vielfalt ausgewählt wurden, geht nur langsam voran. Aber die Biotechnologie beschleunigt die Dinge. Das Klonen erzeugt eine genetische Nachbildung eines Individuums, während die Paarung genetisches Material von zwei Individuen kombiniert.

In fiktiven Geschichten haben Wissenschaftler bereits Nazis, Politiker, Dinosaurier, Kinder und Organspender geklont. Die TV-Show Orphan Black hat von 2013 bis 2017 das verwirrende Leben einer Frau mit vielen Klonen durchleuchtet. Tatsächlich haben echte Wissenschaftler Schafe, Mäuse, Ratten, Katzen, Schweine, Affen, Hunde, Hirsche, Kaninchen und Ochsen geklont.

Wer ausreichend Mittel zur Verfügung hat, kann seine Haustiere klonen lassen. Ein Unternehmen berechnet 35.000 USD für Katzen, 50.000 USD für Hunde und 85.000 USD für Pferde. Das Katzen- und Pferdegenom ist ungefähr gleich groß und jeweils größer als ein Hundegenom. Das Klonen von Katzen ist also entweder ein Schnäppchen oder die Spezies wird von den bestimmenden Personen völlig unterbewertet.

Das Klonen von Haustieren ist ein falscher Weg, da es Umwelteinflüsse auf Verhalten und Persönlichkeit ignoriert. Das Klonen zur Wiederbelebung/Wiederherstellung von Populationen stark gefährdeter Arten ist jedoch eine andere Sache.

Der San Diego Frozen Zoo ist führend im Einsatz von Fortpflanzungstechnologien, um mitzuhelfen Artenpopulationen, die im Aussterben begriffen sind, wieder herzustellen. Der Frozen Zoo beherbergt mehr als 10.000 Zellkulturen, Eizellen, Spermien und Embryonen, die fast 1.000 Arten von Organismen repräsentieren. Bei den Zellen lagern Hunderte potenzieller zukünftiger Przewalski-Pferde auf Eis.

Der Prozess des Klonens,

technisch als "somatischer Zellkerntransfer" bezeichnet, beginnt mit Zellen der gewünschten Spezies oder Subspezies - in Kurts Fall waren es Fibroblasten aus der 40 Jahre lang tiefgefronenen Haut.

Nach dem Auftauen der Zellen werden ihre Kerne abgetrennt und in Eizellen von weiblichen Hauspferden transferiert, deren Zellkerne entfernt worden waren. (Abbildung 3, von Redn. eingefügt). Es sind keine Spermien notwendig: Die transferierten Zellkerne besitzen ja bereits zwei Kopien jedes Chromosoms (anstelle einer aus einem Sperma und einer aus einer Eizelle bei einer normalen Befruchtung).

Die so behandelten Eizellen teilen sich in Glasschalen einige Male und bilden und falten sich zu winzigen Embryonen, die dann in normale Pferde als Leihmütter überführt werden. Die transferierten Genome treiben dann die Entwicklung. Die Leihmutter trägt nur ihre Mitochondrien bei, die einige Gene tragen, und das Zytoplasma aus ihrer gespendeten, entkernten Eizelle. Ihre Gene sind ansonsten vollständig ersetzt worden.

Abbildung 3. Das Klonen eines ganzen Organismus durch Nukleustransfer in eine entkernte Eizelle und Überführung des mehrzelligen Klons in die Leihmutter. (Bild von Rednn. eingefügt; Ausschnitt aus: Schorschski / Dr. Jürgen Groth in https://de.wikipedia.org/wiki/Klonen#/media/Datei:Cloning_diagram_deutsch.png. Lizenz: cc-by-sa 3.0

Der biologische Vater des Hengstfohlens Kurt wurde 1975 in Großbritannien geboren und 1978 in die USA gebracht. Seine Hautzellen wurden 1980 gespeichert. Er starb 1998. Der Klon Kurt ist nach einem Gründer des Frozen Zoos, Kurt Benirschke, benannt.

Wenn Kurt älter ist, wird er sich einer Zuchtherde im San Diego Zoo Safari Park anschließen. Man erwartet von ihm, "dass er eines der genetisch wichtigsten Individuen seiner Spezies ist. Wir hoffen, dass er die für die Zukunft der Population von Przewalski-Pferden wichtigen genetischen Variationen zurückbringen wird“, sagte Bob Wiese, Chief Life Sciences Officer bei San Diego Zoo Global.


 * Der Artikel ist erstmals am 17. September 2020 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "A Cloned Przewalski’s Horse Evokes Memories of the Catskill Game Farm" https://dnascience.plos.org/2020/09/17/a-cloned-przewalskis-horse-evokes-memories-of-the-catskill-game-farm/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit den Übersetzungen ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgen. Der gegenständliche Text wurde geringfügig gekürzt (es fehlt der letzte Absatz) und durch zwei passende Abbildungen plus Legenden von der Redaktion ergänzt.


Weiterführende Links

San Diego Zoo Global: https://www.sandiegozooglobal.org/

Kurt, the cloned Przewalski's foal, August 31, 2020, Video 0:15 min. https://www.youtube.com/watch?time_continue=4&v=JJ0oh7Al0HI&feature=emb_logo

Przewalski-Pferde: Die letzten echten Wildpferde. Video 4:04 min. https://www.youtube.com/watch?v=HgLpSpLAxqw

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inge Thu, 01.10.2020 - 00:04

Energiebedarf und Energieträger - auf dem Weg zur Elektromobilität

Energiebedarf und Energieträger - auf dem Weg zur Elektromobilität

Georg BrasseurIcon Politik und GesellschaftDo, 24.09.2020 — Georg Brasseur

Welche Energie brauchen wir, um mobil zu sein, und wie sieht nachhaltige Mobilität aus? Welche Energieträger haben wir, und was muss getan werden, um die 2015 in Paris vereinbarten Ziele der CO2-Neutralität bis 2040 oder 2050 zu erreichen? Diese Fragen lassen sich an Hand vorhandener Fakten beantworten. In einer mehrteiligen Serie zeigt der Elektrotechnik-Experte Georg Brasseur (o.Univ.Prof. für Elektrische Messtechnik und Sensorik an der TU Graz) den globalen Primärenergiebedarf auf und die Problematik, welche bei einem Umbau des Energiesystems auf Elektrizität aus erneuerbaren Energien mit dem raschen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen verbunden ist. Im vorliegenden ersten Teil geht es um den weiter steigenden globalen Primärenergieverbrauch, der (noch) zu 85 % auf fossilen Brennstoffen basiert und um den Bedarf an elektrischer Energie, der im IKT-Bereich geradezu explodieren wird.

Der globale Energiebedarf

ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig gestiegen und der bei weitem überwiegende Teil der Energie stammt auch heute noch aus fossilen Quellen (Abbildung 1).

Abbildung 1. Der globale Verbrauch von Primärenergie ist seit 1965 stetig gestiegen und speist sich zum überwiegenden Teil aus fossilen Energieträgern. Solar- und Windenergie spielen eine minimale Rolle. Primärenergie: Energie, die aus natürlich vorkommenden Energieformen/-quellen zur Verfügung steht. In einem mit Verlusten behafteten Umwandlungsprozess (z.B. Rohöl zu Benzin) entsteht daraus die Sekundärenergie/Endenergie. (Grafik modifiziert nach: BP Statistical Review of World Energy, 67th ed. June 2018)

Im Jahr 2017 wurden global bereits 157 000 TWh (1 Terawattstunde = 1 Mrd kWh) Primärenergie benötigt:

  • 85 % der Energie kamen dabei aus fossilen Brennstoffen: aus Rohöl (34 %), Erdgas (23 %) und Kohle (28 %).
  • Nur 15 % stammten aus Quellen, die kein (zusätzliches) CO2 emittieren: hier ist mit 4 % auch die Kernkraft enthalten, mit 7 % die Wasserkraft, mit 1 % Energie aus Geothermie und Biomasse.

Sonnenenergie und Windenergie - worüber wir in Europa seit vielen Jahren reden, wofür riesige Investitionen getätigt und Kraftwerke errichtet werden,-  decken global gesehen nur 1 % resp. 2 % des Energiebedarfs.

Bis zum Jahr 2050 soll laut Prognosen der globale Energieverbrauch um etwa 50 % weiter ansteigen. Abbildung 2.

Abbildung 2. Der globale Energieverbrauch wird bis 2050 auf fast das Doppelte ansteigen; im Wesentlichen auf Grund des steigenden Bedarfs der non-OECD Länder. British thermal units (BTU):1 BTU = Wärmeenergie, die benötigt wird, um ein britisches Pfund Wasser um 1 Grad Fahrenheit zu erwärmen. 1 quad = 1015 BTU. Bild: US Energy Information, International Energy Outlook, 2019 www,eia.gov/outlooks/ieo/pdf/ie02019: Lizenz: cc-by)

Dieses prognostizierte Wachstum ist erschreckend, da zur Klimazielerfüllung von „Null CO2 Emissionen“ im Jahr 2050 neben der Defossilisierung der Primärenergie auch eine signifikante Reduktion des weltweiten Energieverbrauches notwendig ist; für Deutschland beträgt diese Reduktion 40 % bezogen auf das Jahr 2015 (siehe Abb. 7) [1].

Energiebedarf - Wohlstand - CO2-Emissionen

Zugang zu Energie ist ein Grundpfeiler für Wohlstand. Wachsender Wohlstand bedeutet höheren Energiebedarf, und der Anstieg des Energieverbrauchs ist mit dem Anstieg der CO2-Emissionen gekoppelt. Es ist ein gefährlicher Trend: In Ländern, in denen der Wohlstand wächst, wie in China ab dem Jahr 2000, oder im "Rest der Welt" explodieren die Treibhausgasemissionen geradezu, auch im mit China bevölkerungsmäßig vergleichbaren Indien steigen die Emissionen (Abbildung 3).

Abbildung 3. Trends in den globalen Treibhausgasemissionen (in Gigatonnen CO2-Äquivalenten). Quelle: JGJ Olivier and JAHW Peters. Trends in Global CO2 and Total Greenhouse Emissions. Summary of the 2019 Report EUR 29849 EN, 4. Dec.2019. https://www.pbl.nl/sites/default/files/downloads(pbl-2019-trends-in-global-co2-and-total-greenhouse-emissions-summary-of-the-2019-report 4004.pdf.

Länder, wie die OECD-Länder USA, EU-Staaten und Japan, haben gelernt, dass der Umstieg von Kohle und Erdöl auf Erdgas bei gleicher Energiemenge beträchtlich CO2 einsparen hilft; es stagnieren dort die Treibhausgasemissionen und gehen sogar schwach zurück.

Das BIP ist also an den Energieverbrauch gekoppelt.

Wenn wir daher CO2-Emissionen senken wollen, müssen wir den Energieverbrauch vom BIP entkoppeln und damit Wohlstand zulassen. Wenn dies nicht geschieht, sind Unruhen die Folge und dann denkt kein Mensch mehr darüber nach CO2 zu sparen, sondern nur daran, seine Familie am Leben zu erhalten.

Energieverbrauch der OECD-Länder

Kommen wir nun auf den Energieverbrauch der OECD-Länder zurück - es sind dies insgesamt 36 hochindustrialisierte Mitgliedsländer (europäische und nordamerikanische Staaten, Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea und Türkei), die rund 17 % der Weltbevölkerung - also etwa so viele Menschen wie in China oder Indien leben - repräsentieren; die meisten Länder auf drei Kontinenten gehören nicht dazu.

Auf https://www.electricitymap.org kann man sich in Echtzeit ein Bild der bei der Stromerzeugung anfallenden CO2 Emissionen, der primärenergieabhängigen installierten Kraftwerksleistungen sowie der Stromexporte/-importe eines Landes machen.

Von dem in Abbildung 1 gezeigten Primärenergieverbrauch von 157 000 TWh im Jahr 2017 haben die OECD-Länder einen Anteil von 40 % (62 488 TWh) konsumiert. Während 85 % der globalen Energie aus fossilen Brennstoffen stammte, war deren Anteil in der OECD mit 79 % geringer (im Wesentlichen aber bedingt durch den höheren Anteil an Kernenergie).

Abbildung 4. Energieträger und Primärenergieverbrauch der OECD-Länder von 1971 – 2018. (Daten: The International Energy Agency; https://www.iea.org/statistics/kwes)

Verglichen mit dem globalen Energieverbrauch, der sich von den 1960er Jahren bis heute mehr als verdoppelte (Abbildung 1), erfolgte der Anstieg in den OECD-Staaten aber wesentlich flacher und stagniert seit 2005, bzw. nimmt sogar etwas ab (Abbildung 4).

Bei den fossilen Energieträgern sieht man den Umstieg von Kohle und Erdöl auf Erdgas, der - wie oben erwähnt - eine schwache Reduktion der Treibhausgas-emissionen zur Folge hat.

Wofür wird Energie benötigt und in welcher Form?

Laut International Energy Agency (IEA) war in den OECD-Ländern im Jahr 2017 der größte Endenergieverbraucher der Transport (36 %), gefolgt von Industrie (30 %), Wohnen (20 %) und Dienstleistungen (14 %).

Der globale Energieverbrauch des Transportsektors (zusammengefasst in Abbildung 5) ist von 1973 bis 2016 auf rund das 2,5 fache gestiegen (von 1 100 Mtoe auf 2 748 Mtoe) und zwei Drittel der Energie wurden letzthin für PKWs verbraucht. Wurden 1973 rund 65 % der Energie für die Straße verwendet, so sind es nun 75 %, wobei 94 % dieser Energie aus dem Rohöl kommen. Luft- und Seefahrt benötigen zu 100 % Rohöl. Elektrizität verwendet nur die Eisenbahn - allerdings sind die meisten Strecken noch nicht elektrifiziert.

Abbildung 5. Die Primärenergie für den Transportsektor kommt heute zum weitaus überwiegenden Teil aus dem Rohöl.

Auch in den Sektoren Industrie, Wohnen und Dienstleistungen dominieren fossile Energieträger. Elektrizität - derzeit zum überwiegenden Teil ebenfalls aus fossilen Brennstoffen produziert (siehe nächstes Kapitel) - spielt hier aber eine größere Rolle. Beispielsweise ging im Sektor Wohnen die Hälfte des Energiebedarfs in großteils elektrisch betriebene Heizung/Kühlung und Warmwasser; in unseren Ländern wird Strom in steigendem Maße auch für den Betrieb von Wärmepumpen benötigt.

Elektrizität - wie wird sie produziert…

Vom globalen Primärenergieverbrauch im Jahr 2017 (157 000 TWh) gingen rund 16 % (25 606 TWh) auf den Elektrizitätsbedarf zurück; davon rund 43 % (11 025 TWh) auf den Verbrauch in den OECD-Ländern.

Abbildung 6. Fossile Energieträger haben in den letzten Jahrzehnten die Stromerzeugung der OECD-Länder dominiert (Bild modifiziert nach: The International Energy Agency https://www.iea.org/statistics/kwes/)

Strom wird dabei zum überwiegenden Teil (noch) aus fossilen Energieträgern erzeugt: 2018 waren es global 65 %, in den OECD-Ländern 56 %. Die globale Produktion aus Kohle und aus Erdgas hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt und ebenso ist auch die Erzeugung aus den erneuerbaren Energien (vor allem aus Wasserkraft) gestiegen. Strom aus Kernkraft ist dagegen mit 10 % in etwa konstant geblieben (einige Länder sind aus der Nuklearenergie ausgestiegen, andere bauen diese auf). Auch in den OECD-Ländern hat die Stromerzeugung aus Erdgas und erneuerbaren Energien stark zugenommen, dagegen sinkt im letzten Jahrzehnt Kohle als Primärenergiequelle ab. Abbildung 6.

…und welcher Bedarf besteht

Der globale Elektrizitätsbedarf nimmt immer stärker zu und explodiert geradezu im IKT- (Informations-/ Kommunikations Technologie) Bereich. Gingen 2018 rund 10 % des globalen Stromverbrauchs in diesen Bereich, so wird für 2030 bereits der dreifache Bedarf prognostiziert [2], wobei der Löwenanteil auf den Verbrauch durch Netzwerke und Datenzentren fällt. Für diese und ebenso für Internet, Computer, Handys, TV und Streamingdienste gibt es keine Alternative, sie können nur mit Strom betrieben werden.

Der Internetverkehr ist in den letzten 30 Jahren auf das Tausendfache angewachsen, der Internet-Riese Google verbraucht heute gleich viel Strom im Jahr, wie die Stadt Graz, Unterhaltungsdienste wie der Streaming-Dienst Netflix (einer unter vielen Streamingdiensten) verursacht 30 % des gesamten Internetverkehrs in den US. Block Chain Technologien wie Bitcoin benötigen derzeit so viel Strom wie ganze Staaten (z.B. Irak oder Singapur).

In Österreich wird bis 2030 eine Zunahme des Stromverbrauchs im IKT-Bereich von 8 auf 14 TWh prognostiziert, d.i. fast ein Viertel des gesamten derzeitigen Stromverbrauchs von 60 TWh (zum Vergleich: die gesamte Donaukraftwerkskette liefert heute 13 TWh jährlich).

Woher soll also die Elektrizität kommen, wenn zusätzlich noch der Umstieg auf E-Mobilität forciert werden soll, wenn Industrie Handel und Wohnen elektrifiziert werden sollen?

Es wird in Zukunft zweifellos heftige Kämpfe der einzelnen Anwendungen um die Elektrizität geben, wobei ein Ausfall der Stromversorgung - ein Blackout - nicht nur in Europa sondern auch in allen hochindustrialisierten Ländern katastrophale Folgen haben würde. Die Sicherstellung der Elektrizitätsversorgung ist daher oberstes Gebot.

Woher soll die - heute noch vorwiegend aus fossilen Quellen generierte - Elektrizität kommen, wenn wir CO2 reduzieren müssen, um die Klimaziele zu erreichen?

Ein fundamentaler Umbau des Energiesystems

ist unabdingbar, wenn wir CO2 reduzieren und damit die Klimaziele erreichen wollen. Trotz wachsender Bevölkerung und Bewahrens/Steigerung des Wohlstands ist dies nur möglich, wenn neben der CO2 Reduktion zusätzlich Energie eingespart wird. Am Beispiel Deutschland sind rund 40 % Einsparung der heute angewandten Primärenergie (siehe Abb. 7) und die Bindung von bereits freigesetztem CO2 aus der Luft erforderlich.

Abbildung 7. Durch Ausstieg aus fossiler Primärenergie CO2-Emissionen senken und zusätzlich Energie sparen

Die Einsparung fossiler Energieträger führt allerdings zu einer kritischen Grenze, die bei einer CO2-Reduktion von etwa 85 % erreicht ist: wenn weniger als 15 - 20 % fossile Energie zur Verfügung stehen [3], also eine Primärenergie, die immer dann eingesetzt werden kann, wenn man sie zur Deckung des Strombedarfs benötigt, sind die Netze nicht mehr stabil zu halten. Man braucht mindesten 15 - 20 % flüssige oder gasförmige synthetische Kraftstoffe, um die Netze über kalorische Kraftwerke immer dann zu stützen, wenn es die Dunkelflautentage gibt (d.i. kein Wind und keine Sonne) und um den Jahreszyklus Sommer-Winter auszugleichen.

Maßnahmen, die zur Senkung der CO2 Emissionen führen, bedeuten aber gleichzeitig eine Steigerung des Elektrizitätsbedarfs: 

  • Wenn Gebäude thermisch isoliert werden und Heizung/Kühlung über Wärmepumpen erfolgt, steigt der Strombedarf.
  • Wenn in der Industrie, beispielsweise in Stahlwerken von Kohle- auf elektrische Schmelzöfen umgestellt wird, steigt der Strombedarf. (In der VOEST rechnet man dann mit einem Stromverbrauch, der fast in der Größenordnung des heutigen Stromverbrauchs von ganz Österreich liegt.)
  • Wenn Herstellungsprozesse für mineralische Produkte (z.B. Zement) und für Grundchemikalien verändert werden, steigt der Strombedarf.

Fazit

Der globale Primärenergieverbrauch - heute noch zu 85 % fossiler Energie gespeist - nimmt weiter zu. Auch wohlhabende Länder der OECD verwenden zu 75 % fossile Brennstoffe, obwohl sie sich mehr erneuerbare Energieformen leisten könnten. In diesen Ländern ist der Verkehr der größte Rohölverbraucher.

Derzeit deckt Elektrizität, die zum überwiegenden Teil noch aus fossilen Energieträgern produziert wird, nur 16 % des Weltenergiebedarfs. Der Bedarf wird aber durch den Umbau des Energiesystems auf Elektrizität stark steigen, insbesondere im geradezu explodierenden IKT-Bereich, für den es keine Alternativen zum Strombetrieb gibt.

Die Frage ist: woher soll ausreichend grüner, d.i. nicht aus fossilen Quellen produzierter Strom, kommen?

Darüber mehr in Teil 2  Die trügerische Illusion der Energiewende - woher soll genug grüner Strom kommen?


  [1] Hans-Martin Henning, Andreas Palzer, Was kostet die Energiewende? Wege zur Transformation des deutschen Energiesystems bis 2050, Fraunhofer ISE, Nov. 2015. Access 4.8.2020: https://www.ise.fraunhofer.de/content/dam/ise/de/documents/publications/studies/Fraunhofer-ISE-Studie-Was-kostet-die-Energiewende.pdf

[2] Nature 561, The information Factories, https://www.nature.com/articles/d41586-018-06610-y

[3] U. Kramer et al., FVV, Defossilisierung des Transportsektors, R586-2018, Tab. 10, access 11.1.2020. https://www.fvv-net.de/fileadmin/user_upload/medien/materialien/FVV__Kraftstoffe__Studie_Defossilisierung__R586_final_v.3_2019-06-14__DE.pdf


Artikel zur Energiewende im ScienceBlog

Robert Schlögl, Serie: Energie - Wende - Jetzt

Redaktion, 19.09.2019: Umstieg auf erneuerbare Energie mit Wasserstoff als Speicherform - die fast hundert Jahre alte Vision des J.B.S. Haldane

Niyazi Serdar Sariciftci, 22.05.2015: Erzeugung und Speicherung von Energie. Was kann die Chemie dazu beitragen?


 

inge Wed, 23.09.2020 - 20:53

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Spermidin - ein Jungbrunnen, eine Panazee?

Spermidin - ein Jungbrunnen, eine Panazee?

Fr 18.09.2020 Inge Schuster Inge SchusterIcon Medizin

Polyamine kommen in allen Organismen der Biosphäre vor und sind für das Leben essentiell. Die kleinen, flexiblen, stark positiv geladenen Moleküle sind in unterschiedlichste physiologische Vorgänge involviert, inklusive Genregulierung, Zellwachstum, Zellproliferation und Zelldifferenzierung. Altersbedingt sinken die Polyamin Konzentrationen im Organismus. Supplementierung mit dem Polyamin Spermidin löst Autophagie in Körperzellen aus, leitet damit deren Erneuerung ein und erhöht ihre Fitness; als Folge konnte Spermidin die Lebenspanne unterschiedlichster Organismen verlängern und Schutz vor altersbedingten Defekten bieten. Wird Spermidin auch am Menschen eine solche verjüngende Wirkung zeigen?

Betritt man heute eine Apotheke, so fällt einem vor allem das Arsenal an TV-beworbenen Mitteln gegen Verdauungsprobleme auf, daneben aber auch Nahrungsergänzungsmittel, die Spermidin enthalten. Was man sich von der Supplementierung mit Spermidin erhofft, ist ein Hinauszögern des Alterungsprozesses und damit eine Schutzwirkung gegen die meisten altersbedingten Krankheiten, die von metabolischen Defekten, über Herz-Kreislauferkrankungen, neurodegenerativen Krankheiten bis hin zu Krebserkrankungen reichen. Diesen Erwartungen liegen jahrelange Untersuchungen des Molekularbiologen Frank Madeo (Univ.Prof., Institut für molekulare Biowissenschaften, Uni Graz) zu Alterung, Zelltod und Autophagie zugrunde. Als Autophagie wird dabei ein Prozess verstanden, in dem überschüssige und/oder beschädigte Proteine und Zellorganellen abgebaut und daraus neue für das Überleben essentielle Bausteine erzeugt werden (für die Aufklärung dieses Prozesses erhielt Yoshinori Ohsumi 2016 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin) [1].

In einer großangelegten, international besetzten Studie konnte das Team um Madeo 2009 zeigen, dass Spermidin (wie auch Fasten oder anderer Stress ) die Autophagie in Körperzellen induzieren kann und damit deren Erneuerung einleitet; als Folge hat Spermidin die Lebenspanne unterschiedlichster Organismen (von Hefezellen, Fliegen bis zu Würmern) und auch von menschlichen Immunzellen verlängert [2, siehe auch Video "Iss Dich jung, in Weiterführende Links].

Was ist nun Spermidin?

Spermidin gehört neben Putrescin und Spermin zu den Hauptvertretern der sogenannten Polyamine, einer Klasse von kleinen, flexiblen Molekülen mit stark basischen Eigenschaften. Polyamine sind essentielle Metaboliten in allen Organismen der Biosphäre, in Prokaryoten ebenso wie in Eukaryoten. Selbst Mykoplasmen - Bakterien, die parasitär leben und ein stark geschrumpftes Genom aufweisen - enthalten hohe Konzentrationen an Polyaminen und die zu ihrer Synthese und zum Abbau nötigen Enzyme. Darauf, dass Polyamine über die Evolution hinweg bereits von frühen Lebensformen an wichtig waren, deutet die hohe Konservierung der Enzyme hin, die Polyamine metabolisieren und die strenge Regulierung ihrer Aktivität und Expression. Ein stark vereinfachtes, kanonisches Schema der schrittweisen Bildung der oben genannten Polyamine und ihres Abbaus ist in Abbildung 1 dargestellt.

Die Biosynthese

der Polyamine beginnt mit der Aminosäure Arginin (nicht gezeigt). Aus dieser entsteht Ornithin, das decarboxyliert (über die Ornithindecarboxylase - ODC) zum Putrescin wird, welches zwei positiv geladene Aminogruppen aufweist. Aus Putrescin entsteht (durch Addition einer Aminopropylgruppe) Spermidine mit nun drei positiv geladenen Aminogruppen, aus Spermidin (durch Addition einer Aminopropylgruppe) Spermin mit 4 positiv geladenen Aminogruppen.

Eine spezifische, enorm wichtige Reaktion des Spermidins ist die Synthese der ungewöhnlichen Aminosäure Hypusin, die nur in dem Protein EIF5A (eukaryotischer Initiationsfaktor 5A) vorkommt und für dessen Funktion unabdingbar ist: EIF5A bindet Messenger-RNAs (mRNAs) und ist in die Initiation und Elongation ihrer Übersetzung (Translation) in Proteine essentiell involviert. Darüber hinaus spielt EIF5A eine Rolle in anderen mRNA-bezogenen Prozessen wie im Turnover der mRNA, in der Transkription von Genen in mRNA und im Transport vom Zellkern ins Cytoplasma.

Der Abbau

via Acetylierung führt zur Reduktion der positiven Ladung, das Produkt - N-Acetylspermin oder N-Acetylspermidin verliert seine Bindungsfähigkeit an bestimmte Biomoleküle und wird eliminiert oder durch Oxidation in ein um eine Aminopropylgruppe verkleinertes Polyamin umgewandelt (aus N-Acetylspermin entsteht wieder Spermidin, aus N-Acetylspermidin Putrescin). Diese Reaktionen werden von der Entstehung reaktiver Produkte (Aldehyde und H2O2) begleitet. Spermin kann aber auch direkt zu Spermidin oxidiert werden und Spermidin zu Putrescin, dabei entstehen das hochreaktive Acrolein und H2O2.

Abbildung 1. Stark vereinfachte Darstellung von Biosynthese und Abbau der Hauptverteter der Polyamine Putrescin, Spermidin und Spermin, die in den Zellen aller Spezies in hohen Konzentrationen vorliegen. Beim Abbau werden reaktive, potentiell toxische Produkte (reaktive Aldehyde, H2O2, Acrolein) freigesetzt. Mit Ausnahme des geschwindigkeitsbestimmenden Enzyms Ornithindecarboxylase (ODC) in der Biosynthese sind keine anderen Enzyme angeführt.

Dass der Metabolismus der Polyamine über alle Spezies weitgehend konserviert blieb, weist , wie bereits erwähnt, auf seinen sehr frühen Ursprung in der Evolution hin und darauf, dass es auf die kritische Regulierung der Konzentrationen einzelner Polyamine ankommt, die in den Zellen in hohen (bis zu millimolaren) Konzentrationen vorliegen. Diese Regulierung resultiert aus dem Zusammenspiel von biosynthetischen Enzymen, abbauenden Enzymen und Polyamin-Transportern. Spermidin, Spermin können rasch aus anderen Metaboliten gebildet werden, ebenso aber auch zu Eliminationsprodukten/anderen Polyaminen umgewandelt werden.

Wenn rasch wachsende Zellen erhöhte Polyamin-Konzentrationen benötigen, wird die Biosynthese angekurbelt und der Transport aus dem extrazellulären Raum (aus der Nahrung) in die Zellen wird verstärkt. Tumorzellen sind dafür ein klassisches Beispiel; die Ornithindecarboxlase (ODC) ist erhöht und die Zellen enthalten besonders hohe Polyamin-Konzentrationen. Eine intensiv bearbeitete Antitumor-Strategie ist die Reduzierung der Polyaminspiegel durch Verbindungen, welche die Synthese der Polyamine inhibieren, deren Abbau aktivieren oder deren Transporter blockieren. Leider hatten diese Bemühungen bis jetzt nur wenig Erfolg.

Viele der beschriebenen physiologischen Wirkungen von Polyaminen stammen aus Untersuchungen mit Spermin und/oder Spermidin. Da unter Versuchsbedingungen aus Spermidin Spermin und aus Spermin Spermidin entstehen kann, wird im Folgenden für beide häufig nur der Ausdruck Polyamine synonym verwendet.

Wofür setzt die Natur Polyamine ein?

Polyamine sind für das Leben essentiell. Werden in Tiermodellen die Gene zur Synthese von Putrescin oder Spermidin inaktiviert, so sind diese Knockouts nicht lebensfähig. Die kleinen, flexiblen, stark positiv geladenen Moleküle sind in unterschiedlichste physiologische Vorgänge involviert, inklusive Genregulierung, Zellwachstum, Zellproliferation und Zelldifferenzierung.

Auf Grund ihrer positiv geladenen Aminogruppen können Polyamine mit negativ geladenen Regionen diversester Biomoleküle wechselwirken, mit großen Molekülen wie der DNA, den RNAs und mit Proteinen ebenso wie mit kleineren Verbindungen wie Phospholipiden oder Nukleotiden. Damit können sie Struktur und Funktion ihrer Bindungspartner massiv beeinflussen: beispielsweise bewirkt die Bindung an das Phosphat-Backbone der DNA deren Kondensierung, was einerseits Schutz vor schädigenden Agentien bietet, anderseits den Zugang zu Genabschnitten erschwert. Durch die Bindung von Polyaminen werden Enzyme, Ionenkanäle, Rezeptorproteine und Transportproteine moduliert, Proteine aggregiert (wie beispielsweise  alpha-Synuclein, das mit der Parkinsonerkrankung assoziiert ist oder das mit Alzheimer assoziierte beta-Amyloid) oder auch Proteine irreversibel modifiziert wie das oben erwähnte EIF5A oder neuronales Tubulin.

Störungen in Synthese, Abbau und Transport können ein Zuviel oder auch ein Zuwenig an Polyaminen hervorrufen; das zelluläre Geschehen reagiert darauf mit Änderungen in der Regulierung der Genexpression, der Translation von mRNA in Proteine bis hin zum Stressverhalten oder zur Autophagie.

Mit Spermidin den Alterungsprozess aufhalten

Mit zunehmendem Alter sinken die Polyaminspiegel in den Organen von Modellorganismen und auch im Menschen - vermutlich zumindest zum Teil auf Grund einer nachlassenden Biosynthese. Wie eingangs erwähnt, führt Supplementierung mit dem Polyamin Spermidin zur Induktion der Autophagie in Körperzellen und so zur Verbesserung der Fitness der Zellen; darüber hinaus wird die Lebenspanne verschiedener Spezies (Hefe, Nematoden, Fliegen) verlängert [2].

Trifft eine solche Verjüngung und Lebensverlängerung auch für Menschen zu, wenn sie mit Spermidin supplementiert werden?

Supplementierung über die Nahrung

Da alle Lebensformen Polyamine enthalten, wird Spermidin üblicherweise auch mit pflanzlichen und tierischen Nahrungsmitteln zugeführt. Es wird über Transportproteine rasch aus dem Darmtrakt resorbiert, in die Organe verteilt und in die Zellen aufgenommen. In vielen Lebensmitteln pflanzlichen Ursprungs ist Spermidin in hohen Konzentrationen enthalten: in Hülsenfrüchten, Cerealien (besonders in Weizenkeimen mit 24 mg Spermidin/100 g), in Gemüsen, Nüssen und Obst. In tierischen Produkten ist - mit Ausnahme einiger weniger Käsesorten (z.B. altem Cheddar mit rund 20 mg Spermidin/100 g und Blauschimmelkäse) - der Spermidin-Gehalt wesentlich niedriger (für eine rezente Zusammenstellung der Polyamingehalte in Nahrungsmitteln siehe [3]).

Entsprechend den Ernährungsgewohnheiten in verschiedenen Ländern differiert die Spermidin Aufnahme: in einigen EU-Ländern und Japan werden täglich etwa 10 - 15 mg aufgenommen; in der Türkei ist mit etwa 5 mg und den US mit rund 8 mg die Aufnahme niedriger [3]. Da Nahrungsmittel ebenso Spermin und Putrescin enthalten, die im Organismus zu Spermidin umgewandelt werden, trägt der Darm schlussendlich noch mehr zur Spermidin Konzentration in den Organen bei.

Supplementierung durch das Mikrobiom des Darms

Polyamine, die aus dem Darm in den Organismus gelangen, stammen nicht nur aus Lebensmitteln, sondern auch aus der Produktion durch das Mikrobiom des Darms; dies ist insbesondere in den unteren Darmabschnitten der Fall, wo eine hohe Dichte an Mikroorganismen vorherrscht. Die Rolle des Darms als Quelle der Supplementierung mit Polyaminen ist in Abbildung 2 zusammengefasst.

Abbildung 2. Polyaminreiche Ernährung und Produktion von Polyaminen durch das Mikrobiom im Darm können die Funktion von Polyaminen in peripheren Organen (Fettgewebe, Gehirn, Leber, Herz, Pankreas) beeinflussen. Beschreibung siehe Text . (Bild: übernommen aus B. Ramos-Molia et al., 2019 [4]. Lizenz: cc-by-4.0)

Die Zusammensetzung der Darmflora - diverse Arten von Bakterien, Archaeen und auch Pilzen - und deren Produktion von Polyaminen hängt von vielen Faktoren ab, u.a. von der Art der Ernährung (ausgewogen, nicht ausgewogen), von einer möglichen Anwendung von Antibiotika und von der Gegenwart von Präbiotika (Ballaststoffen) und Probiotika (supplementierten Mikroorganismen). Eine Erhöhung der Polyamin Konzentrationen im Darm durch Zugabe von Probiotika hat zumindest im Tierversuch an der Maus zur Verjüngung der Zellen und Erhöhung der Lebensdauer geführt. Störungen des mikrobiellen Polyamin-Metabolismus werden mit der Entstehung des Colon-Carcinoms und anderer Tumoren in Zusammenhang gebracht (Reviewed in [4]).

Haben nun Menschen mit höherem Spermidin Konsum auch eine höhere Lebenserwartung?

Die Bruneck-Studie

Eine rezente Studie an 829 Frauen und Männern im Südtiroler Ort Bruneck scheint dies zu bestätigen [5]. Die anfangs 40 - 79 Jahre alten Personen wurden in einem Zeitraum von 20 Jahren alle 5 Jahre zu ihren Ernährungsgewohnheiten in Hinblick auf Spermidin-reiche Nahrungsmittel befragt. Aus den Angaben der Probanden wurde dann die tägliche Spermidin Aufnahme abgeschätzt und ein Zusammenhang zur Mortalitätsrate hergestellt. Am Ende der Studie nach 20 Jahren waren 341 von den ursprünglich 829 Probanden verstorben; 50 % davon mit einer relativ Spermidin-armen Ernährung, signifikant weniger, nämlich 30 % mit einer relativ Spermidin-reichen Ernährung.

Dieses Ergebnis ist allerdings mit Vorsicht zu betrachten. Wenn Spermidin-arme Kost mit unter 9,1 mg Spermidin/Tag und Spermidin-reiche Kost mit über 11,7 mg Spermidin/d definiert wurde, so wiegen schon individuelle Unterschiede in Aufnahme, Verteilung und Auswirkungen von Spermidin die relativ geringen Konzentrationsunterschiede auf. Dazu kommt, dass die breite Palette an Spermidin-reichen Lebensmitteln auch viele andere Gesundheit fördernde Inhaltstoffe aufweist und Personen, die solche Nahrung bevorzugen, andere sozioökonomische Grundlagen haben können und einen anderen Lebensstil bevorzugen. Wie die Autoren der Studie auch selbst betonen, besteht auch ein großer Bias darin, dass die Probanden ihre Ernährungsgewohnheiten selbst berichtet haben und den Spermidingehalt beeinflussende Lagerungsbedingungen und Zubereitungen der Speisen, nicht berücksichtigt wurden.

Supplementierung mit den derzeit vermarkteten Spermidinkapseln?

Diese Kapseln enthalten pro Stück etwa 1 mg Spermidin, das aus Weizenkeimextrakt gewonnen wird. Im Vergleich zu dem Angebot, das durch diverse Nahrungsmittel verfügbar ist, erscheint dies sehr wenig: immerhin bietet eine Portion Champignons von 200 g bereits rund 17 mg Spermidin, 100 g gereifter Cheddar rund 20 mg Spermidin. Eine nennenswerte Erhöhung zellulärer Spermidinkonzentrationen durch solche Kapseln erscheint fraglich.

Fazit

Polyamine werden in allen Organismen gebildet und können ein unglaublich breites Spektrum an Wechselwirkungen mit Biomolekülen eingehen. Die daraus resultierenden vielfältigen Funktionen dieser Moleküle sind bis jetzt nur teilweise verstanden (trotz mehr als 100 000 Veröffentlichungen und jährlich bis zu 3000 neu dazukommende Veröffentlichungen über Polyamine). Neuere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass Spermidin den Prozess der Autophagie und damit die Zellerneuerung stimuliert und als Folge in diversen Spezies die Lebensdauer verlängert und u.a. vor Herz-Kreislaufkrankheiten, metabolischen Defekten, Krebserkrankungen und Neurodegeneration schützt. Da im alternden Organismus die Polyaminspiegel sinken, erscheint eine Supplementierung mit exogenem Spermidin als logische Strategie. Diese kann vor allem über polyaminreiche Lebensmittel erfolgen, die besonders in pflanzenbasierter Nahrung zu finden sind und auch über die Produktion von Polyaminen durch eine gesunde Darmflora. Ein Caveat dabei: schnell wachsende Zellen - und dazu gehört nicht nur das gesunde Darmepithel sondern auch maligne Entartungen - benötigen ein Mehr an Polyaminen und können diese aus dem Angebot im Darmlumen in die Zellen transportieren.


 [1] Redaktion, 07.10.2016: Autophagie im Rampenlicht - Zellen recyceln ihre Bausteine. Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2016. https://scienceblog.at/autophagie-nobelpreis-2016-i#.

[2] Frank Madeo, Tobias Eisenberg, Federico Pietrocola, Guido Kroemer: Spermidine in health and disease. Science 26 Jan 2018: Vol. 359, Issue 6374, eaan2788, DOI: 10.1126/science.aan2788

[3] Nelly C. Munoz-Esparza et al., Polyamines in Food, Front. Nutr., 11 July 2019 | https://doi.org/10.3389/fnut.2019.00108

[4] B. Ramos-Molina et al., Dietary and Gut Microbiota Polyamines in Obesity- and Age-Related Diseases. Front. Nutr., 14 March 2019 | https://doi.org/10.3389/fnut.2019.00024

[5] Stefan Kiechl et al., Higher spermidine intake is linked to lower mortality: a prospective population-based study. Am J Clin Nutr 2018;108:371–380.
 


Weiterführende Links

Videos

  • Frank Madeo (2015): Iss Dich Jung. TEDxGraz, Video, 19:32 min. https://www.youtube.com/watch?v=N-dsHgOl00M
  • John Cryan: Feed Your Microbes - Nurture Your Mind. TEDxHa'pennyBridge.. Video 16:10 min. YouTube Licence. https://www.youtube.com/watch?v=vKxomLM7SVc

Artikel im ScienceBlog


 

inge Fri, 18.09.2020 - 19:10

Verlust an biologischer Vielfalt - den Negativtrend umkehren

Verlust an biologischer Vielfalt - den Negativtrend umkehren

Do, 10.09.2020 — IIASA

IIASA Logo Icon Biologie

Weltweit verschwinden Pflanzen- und Tierarten  permanent infolge menschlicher Aktivitäten . Eine wichtige neue Untersuchung unter der Leitung des IIASA (International Institute of Applied Systems Analysis; Laxenburg bei Wien) kommt zu dem Schluss, dass bis 2050 (oder früher) der Niedergang der biologischen Vielfalt nur durch ambitionierte, integrierte Aktionen rückgängig gemacht werden kann, indem Schritte zur Erhaltung und Wiederherstellung der Natur mit einer Umgestaltung des Ernährungssystems verbunden werden.*

Die Biodiversität - d.i. die Vielfalt und Fülle der Arten zusammen mit der Größe und der Beschaffenheit der Ökosysteme, welche sie Heimat nennen - nimmt seit vielen Jahren mit besorgniserregender Geschwindigkeit ab. Verständlicherweise können wir nicht zulassen, dass sich der aktuelle Trend fortsetzt. Wenn es doch dazu kommt, wird ganz einfach nicht mehr genug Natur vorhanden sein, um künftigen Generationen eine Grundlage zu geben. Dazu wurden ehrgeizige Ziele vorgeschlagen - allerdings können praktische Probleme (wie die Frage nach der Ernährung einer wachsenden menschlichen Erdbevölkerung) das Erreichen solcher Ziele zu einer Herausforderung werden lassen.

Die vom IIASA geleitete Studie "Bending the curve of terrestrial biodiversity needs an integrated strategy" wurde im Fachjournal Nature veröffentlicht [1] und ist Teil des neuesten Living Planet Report des World Wide Fund for Nature (WWF) [2]. Die Studie hat sich zum ersten Mal mit der Erforschung von Biodiversitätszielen befasst, die den Ehrgeiz haben die globalen Biodiversitätstrends umkehren zu wollen und sie zeigt auf, was integrierte künftige Wege zur Erreichung dieses Ziels erfordern könnten.

„Wir wollten auf robuste Weise abschätzen, ob es möglich wäre den  Negativtrend der (aufgrund der gegenwärtigen und künftigen Landnutzung) sinkenden terrestrischen Biodiversität umzukehren ohne aber gleichzeitig unsere Chancen zur Erreichung anderer Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals - SDGs)  zu gefährden“, erklärt der Hauptautor der Studie , IIASA-Forscher David Leclère. "Sofern dies tatsächlich möglich ist, wollten wir auch untersuchen, wie man dorthin gelangen kann, insbesondere, welche Art von Maßnahmen erforderlich sind und wie eine Kombination verschiedener Arten von Maßnahmen die Kompromisse zwischen Zielvorstellungen verringern und stattdessen Synergien nutzen kann."

Die Studie hat eine Reihe von Modellen und neu entwickelte Szenarien eingesetzt, um zu untersuchen wie die einzelnen Aspekte beitragen die Ziele der Biodiversität zu erreichen und sie liefert daraus essentielle Informationen über Wege, welche die Vision der UN-Konvention von einer biologischen Vielfalt im Jahr 2050 verwirklichen könnten: „Leben im Einklang mit der Natur ”.

Um die globalen Abwärtstrends der von veränderter Landnutzung betroffenen, terrestrischen Biodiversität zu stoppen und bis 2050 oder schon früher eine Erholungsphase einzuleiten, sind nach Meinung der Forscher Maßnahmen in zwei Schlüsselbereichen erforderlich:

  • Mutige Schritte zur Erhaltung und Wiederherstellung der Natur sowie eine höhere Effizienz des Managements müssen rasch intensiviert werden. Die Studie geht davon aus, dass Schutzgebiete schnell 40% der globalen terrestrischen Gebiete erreichen. Dies sollte mit großen Anstrengungen zur Wiederherstellung von degradiertem Land (das in den Studienszenarien bis 2050 etwa 8% der Landflächen erreicht) einhergehen und mit Planungen der Landnutzung, welche die Ziele von Produktion und Schutz auf allen bewirtschafteten Flächen in Einklang bringen. Ohne solche Bemühungen könnte der Rückgang der biologischen Vielfalt nur verlangsamt aber nicht gestoppt werden, und jedwede potentielle Erholung würde nur langsam vonstattengehen.

 

  • Umgestaltung des Ernährungssystems: Da mutige Bemühungen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Natur wahrscheinlich allein nicht ausreichen, sind zusätzliche Maßnahmen erforderlich, um dem globalen Druck auf das Ernährungssystem zu begegnen. Zu den Maßnahmen den Abwärtstrend der globalen terrestrischen Biodiversität umzubiegen, gehören eine Reduktion der Verschwendung von Lebensmitteln, Ernährungsweisen mit geringeren Auswirkungen auf die Umwelt sowie eine weitere  Intensivierung der Nachhaltigkeit und ein nachhaltiger Handel.

In beiden Bereichen müssten jedoch gleichzeitig integrierte Maßnahmen ergriffen werden, um  bis 2050 oder früher den Negativtrend der Biodiversität umzukehren.

„In einem Szenario, das nur vermehrte Anstrengungen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Natur beinhaltet, konnte fast die Hälfte der im Business-as-usual-Szenario geschätzten Verluste an biologischer Vielfalt nicht vermieden werden. Ein Umbiegen des Negativtrends wurde nicht in allen Modellsimulationen beobachtet, und wenn dies auftrat, kam es häufig erst in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts dazu. Darüber hinaus haben wir festgestellt, dass mutige Bemühungen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Natur allein betrachtet den Preis für Lebensmittelprodukte erhöhen und damit künftige Erfolge im Kampf gegen den Hunger möglicherweise beeinträchtigen können “, sagt Michael Obersteiner, IIASA-Forscher und Direktor des Environmental Change Institute an der Universität Oxford.

Szenarien, in denen verstärkte Bemühungen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Natur mit Maßnahmen zur Umgestaltung des Ernährungssystems kombiniert wurden, zeigten dagegen, dass nun bessere Möglichkeiten für ehrgeizige Bemühungen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Natur bestanden und potenzielle nachteilige Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit entschärft wurden. Damit wurde ein Aufwärtstrend der durch veränderte Landnutzung betroffenen Biodiversität sichergestellt. Schlussendlich kann eine solche tiefgreifende Änderung der Ernährungs- und Landnutzungssysteme auch erhebliche Vorteile mit sich bringen, wie einen wesentlichen Beitrag zu ehrgeizigen Klimaschutzzielen, einen verminderten Druck auf die Wasserressourcen, ein reduziertes Ausmaß s an reaktivem Stickstoff in der Umwelt und gesundheitliche Vorteile.

Die wesentlichen Ergebnisse der Studie sind in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1. Der bislang rasche Niedergang der Biodiversität setzt sich fort im "Business as usual", wird zum Stoppen gebracht im Szenario 1 "Erhaltung und Wiederherstellung der Natur" und führt zur Erholung der Biodiversität, wenn Szenario 1 mit einer Änderung des Ernährungssystems kombiniert wird.

Indem sie auf den Niedergang der Biodiversität in Zusammenhang mit dem Klimawandel eingehen, meinen die Autoren, dass eine echte Umkehrung des Niedergangs wahrscheinlich ein noch breiteres Spektrum von Maßnahmen erforderlich macht.

„Wachsende Bedrohungen für die biologische Vielfalt wie Klimawandel und biologische Invasionen können - falls sie nicht gemindert werden - in Zukunft genauso wichtig werden wie Änderungen der Landnutzung, die bislang die größte Bedrohung der biologischen Vielfalt ist. Ein echtes Umkehren der Verluste an biologischer Vielfalt erfordert einen ehrgeizigen Klimaschutz, der Synergien mit der biologischen Vielfalt nutzt, anstatt die biologische Vielfalt weiter zu untergraben “, sagt Andy Purvis, Professor am Imperial College London und Forscher am National History Museum in Großbritannien. Da der Strategieplan für Biodiversität 2011-2020 mit uneinheitlichen Ergebnissen endet, sind die Ergebnisse der Studie direkt relevant für die laufenden Verhandlungen zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt.

„Diese Studie zeigt, dass die Welt den Verlust der Natur möglicherweise noch stabilisieren und rückgängig machen kann. Um dies jedoch bereits 2030 tun zu können, müssen wir die Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren und konsumieren ändern, sowie mutigere und ehrgeizigere Bemühungen zum Umweltschutz ausüben“, sagt Mike Barrett, Executive Director für Wissenschaft und Naturschutz beim WWF -UK und Mitautor der Studie. "Wenn wir dies nicht tun und wie gewohnt weitermachen, werden wir einen Planeten haben, der für gegenwärtige und zukünftige Generationen von Menschen keine Grundlage bieten kann." Nie zuvor war ein „New Deal für Natur und Menschen“ nötiger, der den Verlust der biologischen Vielfalt stoppt und rückgängig macht. “


[1] Leclere D, Obersteiner M, Barrett M, Butchart SHM, Chaudhary A, De Palma A, DeClerck FAJ, Di Marco M, et al. (2020). Bending the curve of terrestrial biodiversity needs an integrated strategy. Nature DOI: 10.1038/s41586-020-2705-y

 

[2] Living Planet Reports 2020 (Kurzfassung, in Deutsch) https://www.wwf.ch/sites/default/files/doc-2020-09/WWF_LPR_2020_summary_D_WEB.pdf


* Der von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzte Artikel ist am 10. September 2020 auf der IIASA Webseite unter dem Titel: " Bending the curve of biodiversity loss" https://iiasa.ac.at/web/home/about/news/200910-biodiversity.html erschienen. IIASA hat freundlicherweise der Veröffentlichung von Inhalten seiner Website und Presseaussendungen in unserem Blog zugestimmt.


Weiterführende Links

IIASA : https://iiasa.ac.at/

Fragen und Antworten: EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 – Mehr Raum fürdie Natur in unserem Leben. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/QANDA_20_886


 

inge Thu, 10.09.2020 - 00:43

Telearbeit wird bleiben. Was bedeutet das für die Zukunft der Arbeit?

Telearbeit wird bleiben. Was bedeutet das für die Zukunft der Arbeit?

Do, 03.09.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Politik & Gesellschaft

Die Coronavirus-Pandemie hat die Welt stark verändert und dabei die zentrale Stellung von Wissenschaft, Forschung und Innovation im Kampf gegen das Virus aufgezeigt. Maßnahmen, die als Reaktion auf das Virus getroffen wurden, haben unsere Gesellschaften in vielen Bereichen umgeformt und dabei auch manche Prozesse - wie den Übergang zur Telearbeit - beschleunigt. Der Anteil der Europäer, die nun außerhalb ihrer Arbeitsstätte tätig sind, ist von 5% auf 40% gestiegen und laut Expertenmeinung ist es unwahrscheinlich, dass die Situation wieder auf das Niveau von vor der Pandemie zurückkehrt. Abgesehen davon, dass Pendeln und Bürotratsch ausfallen, wie wird dies unsere Arbeitsweise verändern? Das EU Research and Innovation Magazine "Horizon" berichtet darüber.*

Telearbeit hat im Jahr 2020 explosionsartig zugenommen. Schätzungen zufolge haben infolge der Pandemie EU-weit fast 40% der Beschäftigten angefangen im Home Office in Vollzeit zu arbeiten. "Was ein grundlegender, aber langsam fortschreitender Trend zu sein schien, wurde nun in kürzester Zeit beschleunigt", sagt Xabier Goenaga von der Gemeinsamen Forschungsstelle (JRC), dem wissenschaftlichen Dienst der Europäischen Kommission; Goenaga ist Mitautor eines Berichts aus dem Jahr 2019 wie sich Art der Arbeit und Qualifikationen im digitalen Zeitalter verändern [1].

Vor dem heurigen Jahr haben in der EU etwa 5 % der Menschen regelmäßig von zu Hause aus gearbeitet, ein Prozentsatz, der sich seit 2009 nicht wesentlich geändert hatte. Einige Berufssparten hatten mehr Erfahrung mit Telearbeit als andere. Telearbeit ist häufiger bei hochqualifizierten Arbeitskräften anzutreffen; am meisten bei Lehrern, IKT(Informations-Kommunikationstechnologie)-Fachleuten und Managern [2].

Es bestehen auch regionale Unterschiede. Im Jahr 2019 war Telearbeit in nordeuropäischen Ländern wie Schweden, Finnland und Dänemark häufiger anzutreffen - in diesen Ländern hat auch der Großteil der Arbeitnehmer während der Pandemie mit der Telearbeit begonnen. Teilweise liegt dies daran, dass es dort mehr Arbeitsplätze in Berufen gibt, in denen Telearbeit möglich ist. Laut Goenaga spielen jedoch auch kulturelle Unterschiede eine Rolle, da in Südeuropa viele Arbeitsplätze noch in gewohnter Weise etabliert sind.

"Sie stellen sich möglicherweise nicht auf Home Office um, weil ihren Mitarbeitern nicht in gleichem Maße vertrauen, wie manche Unternehmen in Nordeuropa", sagt er. "Das wird sich meiner Meinung nach in Zukunft aufgrund der Pandemie erheblich ändern."

Home Office - Vorteile, Risiken

Ein Wechsel zum Home-Office kann für Mitarbeiter Vorteile bringen. Durch den Wegfall des täglichen Pendelns können sie mehr Freizeit und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erreichen. Und es gibt den Nachweis, dass die Produktivität in normalen Zeiten nicht beeinträchtigt wird, sondern sogar gesteigert werden kann.

Man muss natürlich auch die Risiken ansprechen. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht deutet an, dass Menschen im Home Office möglicherweise länger arbeiten und weniger Pausen einlegen als von den EU-Richtlinien empfohlen, da es schwieriger ist, Kontrolle über die Arbeitszeit zu haben. Und soziale Isolation kann ebenfalls ein Problem sein.

"Wir haben gesehen, dass sich Menschen einsam und depressiv fühlen und soziale Interaktion brauchen, um ein ausgeglicheneres Leben zu führen", sagte Goenaga. Sein Team untersucht derzeit das Problem, um herauszufinden, wie man Abhilfe schaffen kann.

Aufgrund von Schulschließungen während der Pandemie musste Fernarbeit häufig mit Kinderbetreuung in Einklang gebracht werden - mehrere Rollen, die häufig Frauen angelastet werden. Eine kürzlich in Frankreich durchgeführte Umfrage ergab, dass hauptsächlich Frauen berichteten Telearbeit wirke sich negativ auf ihre psychische Gesundheit aus. Dies wird auf die zusätzliche familiäre Verantwortung zurückgeführt, die während der Pandemie auf ihren Schultern lag.

"Wir sollten uns gemeinsam damit befassen und herausfinden, welche Maßnahmen wir ergreifen müssen, damit Frauen nicht erneut bestraft werden, weil sie Frauen sind", sagt Goenaga.

Nach der Pandemie

Wenn die Pandemie endet, wird Telearbeit wahrscheinlich fortgesetzt. Technologie Unternehmen wie Google haben bereits angekündigt, dass ihre Mitarbeiter bis zum Sommer 2021 von zu Hause aus arbeiten werden. Laut George Tilesch, einem globalen KI-Berater (KI: künstliche Intelligenz; Anm. Redn.) und Autor von Between Brains, einem Buch über die gegenwärtigen und zukünftigen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz, werden kleine Unternehmen bald nachziehen.

Telearbeit ist für Unternehmen attraktiv, da sie Kosten senkt. Eine Umfrage hat ergeben, dass manche Mitarbeiter sogar bereit wären, eine Lohnkürzung in Kauf zu nehmen, wenn sie von zu Hause aus arbeiten könnten. "Ich denke, die menschliche Natur neigt dazu, an einer Sache festzuhalten, nachdem sie erkannt hat, dass diese funktioniert", sagte Tilesch.

Viele Unternehmen werden beim Übergang zum Telearbeiten möglicherweise Künstliche Intelligenz einsetzen, insbesondere mittels Echtzeitsystemen, mit denen Mitarbeiter im Home Office kontrolliert werden können. Es gibt bereits Überwachungstechnologien, die verfolgen, was Mitarbeiter tun, die beispielsweise E-Mails überwachen und wer auf Dateien zugreift und diese bearbeitet. Diese Methoden können aber noch verbessert und weiter verbreitet werden.

Unternehmen müssen auch die Cybersicherheit überdenken. Während der Pandemie haben viele Mitarbeiter externe Plattformen zur Kommunikation via Videokonferenzen genutzt, und einige waren anfällig für Hacking. "Unternehmen müssen bei der Auswahl der von Telearbeitern verwendeten Videokonferenzeinrichtungen vorsichtig sein, um das Risiko gehackt zu werden und sensible Informationen zu verlieren zu minimieren", sagt Goenaga.

Digitale Kompetenzen

Umschulung ist ebenfalls ein Problem, da viele Menschen nicht über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, um im Home Office zu arbeiten. In einem kürzlich veröffentlichten EU-Bericht wurde beispielsweise festgestellt, dass ein Drittel der Arbeitnehmer in der EU nur sehr begrenzte oder gar keine digitalen Kompetenzen besitzt. In Zukunft erfordern jedoch die meisten Jobs zumindest mittelmäßige Computerkenntnisse.

Abbildung 1. Arbeiten im Home Office kann höhere Produktivität bedeuten aber auch zu Isolation und längerer Arbeitszeit führen. (Bild: PickPik)

Große Unternehmen haben bereits einen Schritt gesetzt, um Arbeitslosen beim Erwerb digitaler Kenntnisse zu helfen. Im Juni hat Microsoft ein Covid-19-Wiederaufbau Programm in Zusammenarbeit mit LinkedIn gestartet, um Jobs, für die Bedarf besteht und welche Kenntnisse dafür erforderlich sind zu ermitteln. Sie wollen dann allen Interessierten freien Zugang zu relevanten Lernmaterialien anbieten.

"Diese Art von Initiativen, die von der Industrie ausgehen und an die sich hoffentlich die Regierungen anschließen, sind der Weg in die Zukunft", sagt Tilesch.

Goenaga geht davon aus, dass die EU im Rahmen des Wiederaufbaus nach Corona in den nächsten 18 Monaten auch Schulungen anbieten wird. "Ich denke, es wird viele Programme geben, die auf die Umschulung von Arbeitslosen und die Weiterbildung der arbeitenden Bevölkerung abzielen", sagt er.

Wenn Arbeit im Home Office bestehen bleiben soll, kann dies tiefgreifende Auswirkungen auf die regionale Verteilung von Arbeitsplätzen haben. Derzeit gibt es in Hauptstädten viel mehr hochbezahlte Arbeitsplätze als in anderen Regionen eines Landes. Goenaga glaubt jedoch, dass Telearbeit zu einer Umkehrung dieses Trends führen könnte. "In Unternehmen entscheiden sich möglicherweise viele Mitarbeiter dafür, dass sie ihre Arbeit von einem weiter entfernten Ort aus erledigen, der auch am Land sein kann", meint er.

Unternehmen können auch beschließen, ihre Büroflächen zu verkleinern. Seit der Aufhebung der Lockdowns wurde die Bürokapazität in manchen Fällen um 30% bis 50% reduziert. Wenn auch derzeitige Beschränkungen weitgehend eingeführt wurden, um die Richtlinien zur räumlichen Distanzierung zu befolgen, dürften Unternehmen feststellen, dass sie die Anzahl der intern arbeitenden Mitarbeiter dauerhaft reduzieren können. Laut Tilesch würden Büros nicht vollständig verschwinden, sondern nur genügend Raum benötigen, um etwa 30% der Mitarbeiter gleichzeitig aufzunehmen.

Auf lange Sicht sollte die Adaptierung an Telearbeit von Vorteil sein, wenn eine andere Gesundheitskrise oder vergleichbare Situation eintritt. "Organisationen, die bereits weitgehende Telearbeit eingeführt haben, werden imstande sein diese - noch effizienter und erfolgreicher - wieder einzuführen", sagt Goenaga.


*Der Artikel ist am 1.September 2020 im Horizon, the EU Research and Innovation Magazineunter dem Titel: "Teleworking is here to stay – here’s what it means for the future of work" erschienen (Autorin: Sandrine Ceurstemont). Der unter einer cc-by-Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt. Zahlreiche Literaturangaben können im Original nachgesehen werden.


 [1] The changing nature of work and skills in the digital age.  EU Science Hub. 2019. https://ec.europa.eu/jrc/en/publication/eur-scientific-and-technical-research-reports/changing-nature-work-and-skills-digital-age

[2] Telework in the EU before and after the COVID-19: where we were, where we head to. https://ec.europa.eu/jrc/sites/jrcsh/files/jrc120945_policy_brief_-_covid_and_telework_final.pdf

inge Wed, 02.09.2020 - 23:53

Visualiserung des menschlichen Herz-Kreislaufsystems mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET)

Visualiserung des menschlichen Herz-Kreislaufsystems mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET)

Do, 27.08.2020 — Francis S. Collins

Francis S. CollinsIcon Medizin Die Positronen-Emissions-Tomographie ist zu einer unentbehrlichen Methode vor allem in Onkologie, Kardiologie und Neurologie aber auch in vielen Aspekten der Grundlagenforschung geworden. Indem die Verteilung einer injizierten, schwach radioaktiv markierten Substanz (Radiotracer) im Körper verfolgt wird, können physiologische und pathologische Zustände funktionell abgebildet werden. Eine bahnbrechende Neuerung ist nun der an University of California in Davis entwickelte Ganzkörper-PET-Scanner EXPLORER, der- kombiniert mit Computertomographie (CT) - bei gesteigerter Sensitivität und in kürzesten Intervallen - den gesamten Körper gleichzeitig scannen und die Dynamik der Tracer-Verteilung in 3D-Bildern und Videos abbilden kann. Wie am Beispiel des menschlichen Herz-Kreislaufsystems ersichtlich, hat die völlig neue Möglichkeit Vorgänge in verschiedenen Organen gleichzeitig zu visualisieren ein ungeheures Potential für Forschung und klinische Anwendung. Francis S. Collins, Direktor der US-National Institutes of Health (NIH) und ehem. Leiter des "Human Genome Project" berichtet darüber.*

Wenn man dieses kurze Video anschaut, denkt man vielleicht eine animierte Strichzeichnung zu sehen, die nach und nach zu einer filigranen Darstellung eines wohlbekannten Systems führt, nämlich in die inneren Strukturen des menschlichen Körpers. Dieses Video fängt jedoch nicht das Werk eines talentierten Zeichners ein. Es wurde mit dem ersten 3D-Ganzkörper-Scanner mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET) erzeugt.

Das Gerät trägt die Bezeichnung EXPLORER-Ganzkörper-PET-Scanner (EXtreme Performance LOng Axial Research Scanner). In Kombination mit einer verbesserten Methode der Bildrekonstruktion aus riesigen Datenmengen ermöglicht der Scanner Videos zu erzeugen.

Eine dynamische Erfassung des Herz-Kreislaufsystems in Echtzeit

In dem hier gezeigten Video haben die Forscher kleine Mengen eines kurzlebigen radioaktiven Tracers - ein wesentlicher Bestandteil aller PET-Scans (im gegenständlichen Fall 18F-Fluodeoxyglucose; Anm. Redn.) - in den rechten Unterschenkel einer freiwilligen Probandin intravenös injiziert. Sie haben sich dann zurückgelehnt und zugesehen, wie der Scanner Bilder vom Weg des Tracers aufzeichnete: dieser wandert im venösen Blutstrom das Bein hinauf in den Körper und ins Herz hinein. Von der rechten Herzkammer fließt der Tracer zur Lunge,(Blut wird dort mit Sauerstoff beladen, Anm. Redn) und als arterielles Blut zurück durch die linke Herzkammer (von der aus arterielles Blut in den ganzen Organismus gepumpt wird; Anm. Redn.) und bis ins Gehirn. Abbildung 1 zeigt einige repräsentative Screenshots des Videos (von der Redaktion eingefügt).

Abbildung 1. PET-Scan des Wegs des Tracers 18F-Deoxyglucose von der Injektionsstelle in das Herz-Kreislaufsystem und Verteilung in die Organe. (Screenshots von dem oben gezeigten Video von der Redaktion eingefügt)

Ab etwa der 30-Sekunden-Marke sieht man dann vergrößert ein beeindruckende Bilderfolge des schlagenden Herzens.

Die gleichzeitige Visualisierung des ganzen Körpers ...

Dieser bahnbrechende Scanner wurde von Jinyi Qi, Simon Cherry, Ramsey Badawi und deren Kollegen an der University of California in Davis entwickelt und getestet [1]. Wie die vom NIH finanzierten Forscher kürzlich im Fachjournal Proceedings der National Academy of Sciences berichteten, kann der neue Scanner dynamische Veränderungen im Körper erfassen, die in einer Zehntelsekunde stattfinden [2]. Das ist schneller als ein Wimpernschlag!

Das Video ist aus Bildern zusammengesetzt, die in Intervallen von 0,1 Sekunden aufgenommen wurden. Es weist deutlich auf die Eigenschaft hin, die diesen Scanner so einzigartig macht: es ist seine Fähigkeit, den gesamten Körper auf einmal zu visualisieren. Andere medizinische Bildgebungsverfahren, einschließlich MRT, CT und herkömmlicher PET-Scans, können verwendet werden, um beispielsweise schöne Bilder des Herzens oder des Gehirns aufzunehmen. Sie können jedoch nicht zeigen, was im Herzen und im Gehirn gleichzeitig passiert.

....eröffnet ein neues Fenster zur Biologie des Menschen

Die Fähigkeit, die Dynamik radioaktiver Tracer in mehreren Organen gleichzeitig zu erfassen, eröffnet ein neues Fenster zur Biologie des Menschen. Das EXPLORER-System ermöglicht es beispielsweise, Entzündung zu messen, die in vielen Körperteilen nach einem Herzinfarkt auftritt, sowie Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Darm bei Morbus Parkinson und anderen Erkrankungen zu untersuchen.

Der EXPLORER bietet auch andere Vorteile. Auf Grund seiner besonders hohen Sensitivität kann er Bilder aufnehmen, die anderen Scannern entgehen würden - und das bei einer geringeren Strahlungsdosis. Er ist auch viel schneller als ein normaler PET-Scanner; das ist besonders von Vorteil, wenn quirlige Kinder gescannt werden. Und er erweitert den Bereich der Forschungsmöglichkeiten für PET-Bildgebungsstudien. Beispielsweise können Forscher eine Person mit Arthritis im Laufe der Zeit wiederholt scannen, um Veränderungen zu erkennen, die auf Behandlungen oder körperliche Betätigung zurückzuführen sein könnten.

........und zu klinischen Anwendungen

Derzeit arbeitet das UC Davis-Team mit Kollegen an der University of California in San Francisco zusammen, um mithilfe von EXPLORER unser Verstehen der HIV-Infektion zu verbessern. Erste Ergebnisse zeigen, dass der Scanner es einfacher macht zu erfassen, wo das humane Immundefizienzvirus (HIV), die Ursache von AIDS, im Körper lauert, weil er Signale erfasst, die zu schwach sind, um in herkömmlichen PET-Scans gesehen zu werden.

Das Potential, das der Scanner für die Forschung hat, ist riesig, er ist aber auch für den klinischen Einsatz vielversprechend. Tatsächlich wurde eine kommerzielle Version des Scanners mit dem Namen uEXPLORER bereits von der FDA zugelassen und ist in der University of California im Einsatz [3]. Die Forscher haben herausgefunden, dass seine erhöhte Sensitivität die Erkennung von Krebserkrankungen bei übergewichtigen Patienten erheblich erleichtert, mit konventionellen PET-Scannern jedoch schwieriger zu erfassen ist.

Sobald der COVID-19-Ausbruch so weit abgeklungen ist, dass die klinische Forschung wieder aufgenommen werden kann, wollen die Forscher Krebspatienten in eine klinische Studie aufnehmen, in der herkömmliche PET- und EXPLORER-Scans direkt verglichen werden sollen.

Wenn diese und andere Forscher auf der ganzen Welt beginnen, diesen neuen Scanner einzusetzen, können wir uns darauf freuen, viele weitere bemerkenswerte Videos wie diesen zu sehen. Stellen Sie sich vor, was diese alles aufdecken werden!


[1] First human imaging studies with the EXPLORER total-body PET scanner Badawi RD, Shi H, Hu P, Chen S, Xu T, Price PM, Ding Y, Spencer BA, Nardo L, Liu W, Bao J, Jones T, Li H, Cherry SR. J Nucl Med. 2019 Mar;60(3):299-303.

[2] Subsecond total-body imaging using ultrasensitive positron emission tomography Zhang X, Cherry SR, Xie Z, Shi H, Badawi RD, Qi J. Proc Natl Acad Sci U S A. 2020 Feb 4;117(5):2265-2267.

[3] “United Imaging Healthcare uEXPLORER Total-body Scanner Cleared by FDA, Available in U.S. Early 2019 ” Cision PR Newswire. January 22, 2019.


*Dieser Artikel von NIH Director Francis S. Collins, M.D., Ph.D. erschien zuerst (am20. August 2020) im NIH Director’s Blog unter dem Titel: " See the Human Cardiovascular System in a Whole New Way";  https://directorsblog.nih.gov/2020/08/20/see-the-human-cardiovascular-system-in-a-whole-new-way/?fbclid=IwAR1ZA6F4ttWAh0wbOItHFgWqboeex66vOJBbM_lMnoYDGb4sUgKjfz3NE2w. Der Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu übersetzt und mit einigen Screenshots aus dem gezeigten Video und  Untertiteln ergänzt. Reprinted (and translated by ScienceBlog) with permission from the National Institutes of Health (NIH).


 

inge Wed, 26.08.2020 - 23:55

Wie COVID-19 entstand und sich über die Kette der Fleischversorgung intensivierte

Wie COVID-19 entstand und sich über die Kette der Fleischversorgung intensivierte

Do, 20.08.2020 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon MedizinViele der vom Tier auf den Menschen überspringenden Infektionskrankheiten (sogenannte Zoonosen) haben ihren Ursprung in Ostasien und hängen mit den dortigen Essgewohnheiten zusammen. Eine vietnamesische Forschergruppe hat an Fleischproben aus den Jahren 2013 und 2014 mittels Gentests festgestellt, dass vor allem Fledermäuse und Ratten bis zu 75 % , resp. 34 % mit verschiedenen Coronaviren infiziert waren. Interessanterweise steigerte sich der Anteil infizierter Ratten über die Versorgungskette vom Tier bis zum Endkonsumenten auf etwa das Doppelte. Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet über wesentliche Erkenntnisse der Studie, die uns verstehen helfen, wie für den Menschen tödliche Virusinfektionen in Asien entstehen und wie man diese abwehren könnte. *

Früh in diesem denkwürdigen Jahr hat sich ein Wet Market in Wuhan, China als Ursprungsort der Pandemie von COVID-19 oder zumindest als mögliche Station auf dem Weg zum Ausbruch herausgestellt (Wet Market - Nassmarkt; lt. Wikipedia ein traditioneller Ort, wo lebendige oder frisch geschlachtete Tiere verkauft werden und die Böden vom häufigen Abspritzen/Reinigen durchnässt sind; Anm. Redn.). Noch vor diesem Ausbruch haben Forscher Fleischproben, die sie in den Jahren 2013 und 2014 gesammelt hatten, untersucht, um mithilfe von Gentests nachzuvollziehen, was nun neuerdings wieder passiert sein dürfte: die Verstärkung der Durchseuchung auf dem Weg vom Fleisch von Wildtieren oder Zuchttieren über große Märkte bis hin zu Restaurants. Der Bericht ist eben in PLoS ONE erschienen [1].

„Diese Studie zeigt, dass die Versorgungskette der lebenden Wildtiere vom Händler zum Konsumenten das Risiko des Überspringens verdoppelt. Man weiß, dass damit die Kontakthäufigkeit zwischen Wildtieren und Menschen erhöht wird, und wir zeigen hier, wie die Anzahl infizierter Tiere auf dem Weg stark steigt“, schreibt das Team um Amanda E. Fine von der Wildlife Conservation Society in Hanoi.

Für niemanden, der Viren kennt, war COVID-19 eine Überraschung. Viele Leute haben halt nicht zugehört, auch wenn sie wiederholt gewarnt wurden.

Einsammeln von Tieren

Genetische Tests (PCR-Tests) zeigten klar RNAs von sechs Arten von Coronaviren in drei Settings:

  • in wilden, freillebenden Feldratten
  •  in kommerziellen Wildtierfarmen, die Großmärkte und Restaurants mit Bambusratten und malaiischen Stachelschweinen beliefern
  • in Guano-Farmen.

Guano-Farmen sehen aus wie Reihen umgedrehter Besen (Abbildung 1). Es sind im Hinterhof angesiedelte Fledermausbehausungen, die gefördert von der kambodschanischen Regierung seit 2004 geschaffen wurden, um Geld zu verdienen, die Bodenfruchtbarkeit zu verbessern, Schädlinge zu bekämpfen, den Einsatz chemischer Düngemittel zu reduzieren und gefährdete Fledermäuse zu schützen.

Unter den mit Exkrementen verkrusteten Rändern befinden sich Gartenbeete, Vieh wandert durch und Kinder spielen. Die Tatsache, dass Fledermäuse voller Viren sind, war nicht Teil des Plans - persönliche Schutzmaßnahmen wurden nicht vorgeschlagen.

Abbildung 1. Fledermaus-Guanofarmen in der Provinz Soc Trang (October 2013. Bild aus [1] https://doi.org/10.1371/journal.pone.0237129.g003

In den Jahren 2013 und 2014 haben die Forscher Tiere gesammelt „in Gegenden, die als Hochrisiko-Plätze für das Überspringen von Viren von Wildtieren auf Menschen identifiziert wurden“ da in den letzten zwei Jahrzehnten neuartige Coronaviren auftauchten. Vietnam ist eine solcher Ort.

Insgesamt haben die Forscher 2.164 Gewebeproben von 1.506 Tieren analysiert (von 702 Feldratten, von 429 gezüchteten Nagetieren und von 375 Fledermäusen). Die Tiere stammten von 70 Standorten in den Provinzen Dong Thap, Soc Trang und Dong Nai im Süden Vietnams nahe dem Mekong-Delta.

Feldratten sind beliebt. In Vietnam und Kambodscha stehen sie mindestens einmal pro Woche auf dem Speiseplan. Geschätzt werden Geschmack und niedriger Preis und es herrscht die Meinung, dass Fleisch von Nagetieren „gesund, nahrhaft, natürlich und krankheitsfrei“ ist. Tausende Tonnen Feldratten werden jährlich zum Verzehr gefangen.

An den abgetrennten Köpfen der Feldratten und auch der Zuchtratten haben die Forscher nun Proben aus dem Rachenraums entnommen und neben Kot und Urin auch Gewebeproben, hauptsächlich aus dem Dünndarm, manchmal aber auch aus dem Gehirn, der Niere oder der Lunge, gesammelt. Sie bemerkten, dass alle drei Orte, an denen geschlachtet wurde - bei Händlern, Großmärkten und in Restaurants - nur sporadisch gereinigt wurden.

Zunehmende Durchseuchung und Veränderung von Coronaviren kann eine Pandemie auslösen

Die Ergebnisse der Studie erzählen, wie eine Coronavirus-Pandemie beginnt.

Von 702 Feldratten hatten 239 (34%) Coronaviren. Aber sehen wir die Zahlen im Detail an. Wie die Forscher berichten "stieg die Wahrscheinlichkeit eines positiven RNA-Tests auf ein Coronavirus entlang der Verkaufskette signifikant an, von Feldratten, die von Händlern verkauft wurden (20,7%) über Feldratten, die auf großen Märkten gehandelt wurden (32,0%), bis zu Feldratten, die in Restaurants serviert wurden (55,6%)". Abbildung 2.

Abbildung 2. Die Durchseuchung von Ratten mit Coronaviren nimmt in der Versorgungskette vom Händler bis zum Kosumenten im Restaurant zu. Bild aus [1]: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0237129.g005 (von Red. eingefügt)

Tiere vom Bauernhof scheinen sicherer zu sein. Ungefähr 6% der Bambusratten und der malaiischen Stachelschweine, die in 17 von 28 untersuchten Wildtierfarmen für den menschlichen Konsum aufgezogen wurden, hatten Coronaviren.

Besonders beunruhigend waren die Ergebnisse aus den Guano-Farmen. In einer unmittelbar an menschliche Behausungen angrenzenden Guano-Farm trugen 234 (74,8%) von 313 Fledermäusen Coronaviren.

Die Steigerung der Durchseuchung ist nicht das einzige Problem. Vielleicht noch Besorgnis erregender ist die natürliche Tendenz von Viren, Teile ihres Genoms auszutauschen. Diese Rekombination kann im Wirtsorganismus auftreten, in ihren Reservoirs und sogar in Haufen von Fledermausdung oder Vogelkot. Das Mischen und Anpassen von genetischem Material kann leicht einen neuartigen Erreger hervorbringen, der auf den Menschen überspringt. Genau das ist es, was 2019 in Wuhan geschehen sein kann.

Warum China?

Ein Rückblick lässt uns verstehen, wie es zu SARS-CoV-2 gekommen ist. Nach SARS (China; 2003), MERS (Naher Osten; 2012) und dem Akuten Schweine Durchfall-Syndrom (China; 2017) haben viele Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis ein anderes Coronavirus (CoV) von Fledermäusen auf Menschen überspringen würde. In einem Bericht in der Fachzeitschrift Virology haben im März 2019 vier Forscher des CAS Key Laboratory of Special Pathogens and Biosafety am Wuhan-Institut für Virologie davor gewarnt, dass eine solche Zoonose wahrscheinlich wäre, wenn nicht unmittelbar bevorstünde:

„Es wird allgemein angenommen, dass durch Fledermäuse übertragene CoVs wieder auftauchen und den nächsten Krankheitsausbruch verursachen werden. China ist ein wahrscheinlicher Hotspot. Die Herausforderung besteht darin, vorherzusagen, wann und wo, damit wir so gut wir können derartige Ausbrüche verhindern. …. Die Untersuchung von Coronaviren in Fledermäusen wird zu einem vorrangigen Thema, um frühe Warnzeichen zu erkennen; dies wiederum reduziert die Auswirkungen solcher künftiger Ausbrüche in China. “

Diejenigen, die für die Kürzung der NIH-Mittel für ein Fledermaus-Coronavirus-Projekt im April 2020 verantwortlich waren, waren sich offensichtlich der Warnungen vor neu auftretenden Viruserkrankungen in der wissenschaftlichen Literatur nicht bewusst. Sie reagierten möglicherweise auf politischen Druck, basierend auf dem Glauben - nicht auf Fakten - dass das Virus aus dem Wuhan-Labor stammte (wie man in einem Artikel im Fachjournal Science lesen kann).

Man braucht keine Verschwörungstheorie aufzustellen, um zu vermuten, wie und warum in China virale Zoonosen auftreten könnten.

China bietet dafür eine perfekte biologische Bühne. Es ist das Land mit den meisten Menschen und einem Klima, das eine große Vielfalt an Fledermäusen samt deren Viren fördert. Die Menschen leben in engem Kontakt mit Fledermäusen und/oder deren Ausscheidungen und wie in Vietnam und Kambodscha essen sie gerne Arten wie Ratten, Stachelschweine (Abbildung 3) und vielleicht auch Schuppentiere. "Die chinesische Esskultur behauptet, dass frisch geschlachtete Tiere nahrhafter sind, und dieser Glaube kann zu einer verstärkten Übertragung von Viren führen", schrieben die Forscher 2019.

Abbildung 3. Malayische Stachelschweinfarm in der vietnamesischen Provinz Dong Nai ; November 2013. Bild aus [1] https://doi.org/10.1371/journal.pone.0237129.g002

Es war daher keine große Überraschung, dass der nächste Verwandte des neuartigen Coronavirus ein Fledermausvirus, RaTG13, ist. Die beiden Genome sind zu 96% ident, viel näher verwandt als es SARS-CoV-2 zu SARS-CoV, dem Virus aus dem Jahr 2003, ist. Wir wissen dies, weil Forscher in China am 11. Januar die erste Genomsequenz des neuen Virus veröffentlicht haben.

Der früh als Quelle des Ausbruchs erwähnte Wet Market war eher der Ort eines „Zwischenwirtes, der die Entstehung des Virus beim Menschen erleichtert“, schrieb ein großes Team aus China in der Zeitschrift The Lancet am 30. Januar 2020.

Die Zukunft: ein Ende für Wet Markets

Um das Auftreten pathogener Viren zu minimieren, fordern Dr. Fine und ihre Kollegen globale „Vorsichtsmaßnahmen, die das Töten, die kommerzielle Züchtung, den Transport, den Kauf, den Verkauf, die Lagerung, die Verarbeitung und den Verzehr von Wildtieren einschränken“.

Sie fordern auch den Aufbau und die Verbesserung von Kapazitäten zur Erkennung von Coronaviren; Kontrollen, um Coronaviren bei Menschen, Wildtieren und Nutztieren zu identifizieren und beschreiben; und sich mit menschlichen Verhaltensweisen zu befassen, welche die Übertragung von Viren von Tieren auf uns erleichtern.

„Je mehr Möglichkeiten wir dem Menschen bieten, in direkten Kontakt mit einer Vielzahl von Wildtierarten zu kommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein weiteres Überspringen stattfindet. Der Preis für ein Nicht-Handeln ist astronomisch hoch und wir müssen sicherstellen, dass die zukünftige Nahrungsmittelproduktion und -sicherheit nachhaltig und gerecht ist und die globale Gesundheit fördert. “

Es könnte ein guter Zeitpunkt sein, eine Pflanzen-basierte Ernährung in Betracht zu ziehen.


 [1] N.Q.Huong et al., Coronavirus testing indicates transmission risk increases along wildlife supply chains for human consumption in Viet Nam, 2013-2014,PLoS ONE, 10.08.2020. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0237129


 * Der Artikel ist erstmals am 13.August 2020 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel " How COVID-19 Arose and Amplified Along the Meat Supply Chain " https://dnascience.plos.org/2020/08/13/how-covid-19-arose-and-amplified-along-the-meat-supply-chain/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgen. Abbildung 2 und die Legende wurden von der Redaktion aus [1] eingefügt.


Bisherige Artikel zu COVID-19 im ScienceBlog

 

Diese und weitere 24 Artikel über Viren sind zusammengefasst in: Redaktion 04.06.2020:Themenschwerpunkt Viren


 

inge Thu, 20.08.2020 - 00:01

Handel und Klimawandel erhöhen die Bedrohung der europäischen Wälder durch Schädlinge

Handel und Klimawandel erhöhen die Bedrohung der europäischen Wälder durch Schädlinge

Do,13.08.2020 Redaktion

Redaktion

Icon Wald

Europas Wälder sehen sich aufgrund des Welthandels und des Klimawandels einer wachsenden Bedrohung durch Schädlinge ausgesetzt. Jedes Jahr vernichten Schädlinge weltweit 35 Millionen Hektar Wald. Allein im Mittelmeerraum ist nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) jährlich ein Gebiet von der Größe der Slowakei - fünf Millionen Hektar - von Schädlingen betroffen. In von der EU unterstützten Projekten ("HOMED"," MySustainableForest") entwickeln Wissenschaftler Techniken, die frühzeitig vor Befall warnen können, um schädliche Insekten und Krankheiten zu bekämpfen.*

Europas Wälder sind aufgrund von Welthandel und Klimawandel einer wachsenden Bedrohung durch Insekten und Krankheitserreger ausgesetzt. Der Klimawandel ermöglicht es einigen einheimischen Schädlingen sich häufiger zu vermehren, während der internationale Handel exotische Insekten und Krankheitserreger weiter verbreitet.

Eingeschleppte Baumschädlinge

Nur ein kleiner Bruchteil der exotischen Schädlinge, die in Europa ankommen, schädigen Bäume. "Aber diese sind sehr zerstörerisch und es werden immer mehr", sagte Dr. Hervé Jactel, Forschungsdirektor für Waldentomologie und Biodiversität am französischen Nationalen Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt (Paris). Im Mittel werden jedes Jahr sechs neue Arten von Baumschädlingen in Europa eingeschleppt, in den 1950er Jahren waren es jährlich bloß zwei, sagt Dr. Jactel. Diese kommen in Topfpflanzen und Holzprodukten an oder in Verpackungsmaterialien.

Der asiatische Eschenprachtkäfer

Viele der für die Wälder Europas entstehenden Bedrohungen haben in Asien ihren Ursprung. Beispielsweise hat sich der Asiatische Eschenprachtkäfer von Asien aus in die USA verbreitet, wo er mehr als 150 Millionen Bäume vernichtete und in den letzten zehn Jahren mehr als 10 Milliarden US-Dollar Schaden angerichtet haben dürfte. Abbildung 1.Das Insekt pocht nun an Europas Tür.

Abbildung 1. Der Asiatische Eschenprachtkäfer (Agrilus planipennis, links) hat in den letzten zehn Jahren in den USA mehr als 150 Millionen Bäume vernichtet (rechts durch Larvenfrass verursachte Gänge in der Rinde einer Esche) und ist nun eine potenzielle Bedrohung für die Wälder Europas. (Bildnachweis: links: Wikipedia, Pennsylvania Dept Conservation and Natural Resources - Forestry Archive ,cc-by 3.0; rechts: Pikist, gemeinfrei)

"Wir wissen, dass alle oder zumindest die meisten Eschen vernichtet werden", sagt Dr. Jactel; er koordiniert das HOMED-Projekt [1], das neue Wege entwickelt, um solche exotischen Schädlinge frühzeitig zu erkennen.

Der Teezweigbohrer

ist eine weitere große Bedrohung. Es kann praktisch alle Arten von Laubbäumen in Europa befallen, sagt Dr. Jactel. Abbildung 2.

Abbildung 2. Der Teezeweigbohrer (Euwallacea fornicatus) kann praktisch alle Laubbäume befallen und wurde im April d.J. erstmals in Europa gesichtet. (Bild: Ken Walker, Lizenz cc.3.0).

"Es ist ein sehr, sehr gefährlicher kleiner Käfer", sagte er. "Dies ist wahrscheinlich das nächste große Problem für Europa." Dieses kleine Insekt stammt ursprünglich aus Asien und hat sich in Israel, Kalifornien und dann in Südafrika verbreitet, wo es Hunderttausende Bäume vernichtet hat. Im April dieses Jahres wurde es zum ersten Mal in einem tropischen Garten in Italien entdeckt. Bis jetzt gibt es noch keine Anzeichen dafür, dass es sich irgendwo anders in Europa verbreitet hat.

Obwohl alle vom Käfer betroffenen Länder davor gewarnt waren, konnte ihn keines entdecken bevor er bereits Schaden angerichtet hatte, sagt Dr. Jactel. Das Problem besteht darin, exotische Schädlinge und Krankheitserreger zu entdecken, noch bevor sie Bäume befallen können.

Tagtäglich kommen Hunderttausende mit Waren gefüllte Container in Europas Häfen und Flughäfen an. Winzige Insekten oder Sporen von pathogenen Pilzen können in Sendungen mit Holzprodukten, Paletten oder Verpackungen oder lebenden Pflanzen verborgen sein. Die bloße Zahl der Sendungen überfordert die Mittel der gesundheitlichen Prüfer zur Entdeckung von Insekten und Sporen, sagt Dr. Jactel.

"Es ist, als wolle man eine Nadel im Heuhaufen finden."

Lösungsansätze

Sobald die Container geöffnet werden, können Schädlinge leicht zu umliegenden Bäumen entkommen. Ein guter Anfang ist damit gemacht, dass Bäume, die rund um Häfen und Flughäfen wachsen, besser kontrolliert werden, sagt Dr. Jactel.

Lösungsansätze gegen solche Schädlinge zu finden, ist unabdingbar. Wälder bedecken 43% der Landfläche der EU - insgesamt 182 Millionen Hektar. Der Forstsektor steht für etwa 1% des EU-BIP und bietet rund 2,6 Millionen Menschen Arbeitsplätze. Wenn sich die Schädlinge unkontrolliert verbreiten dürfen - ohne die natürlichen Feinde, die sie in ihren ursprünglichen Lebensräumen hatten und an Bäumen, die keine Abwehrkräfte gegen sie entwickelt haben -, könnten dies verheerende Folgen haben.

Zusätzlich werden aber auch neue Hilfsmittel benötigt, um die Inspektoren auf das Vorhandensein von Schädlingen in Containern aufmerksam zu machen, bevor diese entkommen können, fügt er hinzu. Das Team des HOMED-Projekts (siehe [1]) entwickelt ganz generelle Fallen, um eine Vielzahl von Insekten anzulocken. Diese Fallen werden in Container vor dem Abschicken aus dem Herkunftsland gelegt werden sowie auf Flughäfen, Häfen und Bahnhöfen, an denen die Importe ankommen. Abbildung 3.

Abbildung 3. Lichtfallen, die in Fracht-Container gelegt werden, können helfen nach Europa eingeschleppte, neue Insekten erfassen (Bild: Matteo Marchioro).

Die Teams entwickeln auch Fallen für Pilzsporen sowie DNA-Tools und Datenbanken von Arten, um festzustellen, ob eine Spore einheimisch oder importiert ist.

Das HOMED-Projekt pflanzt auch europäische Bäume als "Wächter" in Asien, Nordamerika und anderswo, um frühzeitig erkennen zu können, welche Schädlinge eine besondere Bedrohung für europäische Bäume darstellen könnten.

Für Schädlinge, die bereits in Europa Fuß gefasst haben, besteht eine mögliche Lösung darin, die natürlichen Feinde dieses Schädlings aus seinem Herkunftsland zu importieren, sagt Dr. Jactel. Wissenschaftler in Frankreich und der Schweiz untersuchen, ob die natürlichen Feinde des zerstörerischen Buchsbaumzünslers, der sich aus China kommend in ganz Europa verbreitet hat, importiert und zur Eindämmung verwendet werden können. Die Freisetzung dieser parasitären Wespe gegen den Zünsler könnte jedoch andere Probleme mit sich bringen.

"Wir müssen sehr vorsichtig sein zu prüfen, ob die chinesischen Parasiten nicht Auswirkungen auf europäische Arten haben könnten", sagte Dr. Jactel.

Einheimische Schädlinge

Viele Bedrohungen für die Wälder Europas sind jedoch eher hausgemacht. In vielen Regionen trägt die Klimaerwärmung dazu bei, dass nun einige einheimische Schädlinge häufiger auftreten.

Der Borkenkäfer ist einer der übelsten Schädlinge, die derzeit die Wälder Europas befallen und die Fichten in Mitteleuropa zerstören. In den letzten Jahren musste die Tschechische Republik so viele infizierte Bäume fällen, dass der Holzpreis abgestürzt ist, als das resultierende Schadholz verkauft wurde, sagt Dr. Julia Yagüe, Projektmanagerin von My Sustainable Forest (MSF), das die Gesundheit der Wälder Europas überwacht ([2]). Es dauert an die 140 Jahre, bis Fichten völlig ausgewachsen sind; der Verlust so vieler Bäume wird noch lange spürbar sein.

Dies liegt hauptsächlich daran, dass die wärmeren Temperaturen den Käfern ermöglichten mehrere Generationen hervorzubringen. "Vor ungefähr 20 Jahren hatten wir einen Generationszyklus pro Sommer, aber heute haben wir in der Tschechischen Republik und in Süddeutschland bis zu vier Zyklen von Borkenkäfern", sagte Dr. Yagüe.

...und wärmeres Klima

Dazu kommt, dass in wärmeren, längeren und trockeneren Sommern Bäume auch anfälliger für Angriffe sind, aufgrund der Bedingungen weniger in der Lage sind, der Schädlinge Herr zu werden, sagt sie.

Wissenschaftler schaffen nun Variationen einheimischer Fichten, von denen sie hoffen, dass sie widerstandsfähiger gegen höhere Temperaturen und Trockenheit sind und so Angriffe von Schädlingen besser abwehren können. Bis es soweit ist, müssen die Wälder dringend genauer überwacht werden, sagt Dr. Yagüe. Forstverwalter führen in der Regel alle fünf bis zehn Jahre eine Bestandsaufnahme durch. "Weil der Klimawandel so starken Druck ausübt, müssen wir unsere Daten über Wälder viel häufiger aktualisieren", sagte sie.

Überwachung der Wälder

Die effizienteste Methode zur Überwachung großer Waldgebiete sind Satellitenbeobachtungen, mit deren Hilfe frühe Warnzeichen von Bäumen erkannt werden können, die unter Wassermangel oder Hitzestress stehen und daher anfälliger für Angriffe sind. Diese können Forstmanagern es auch ermöglichen, die ersten Anzeichen eines Befalls zu erkennen, wie Trockenheit, Laubverlust oder Absterben.

"Mit der Fernerkundung von Satelliten aus können wir solche Krankheiten erkennen, bevor noch das menschliche Auge sie entdecken kann", sagte Dr. Yagüe, Fernerkundungsexpertin beim spanischen Luft- und Raumfahrtunternehmen GMV.

Die Aufgabe von My Sustainable Forest Daten zu sammeln, wurde durch den Start der europäischen Copernicus-Satelliten im Jahr 2014 und die Entwicklung von Technologien zur Verarbeitung großer Informationsmengen erleichtert. MSF erhält jetzt alle fünf Tage Schnappschüsse der europäischen Wälder anstatt alle 15 bis 30 Tage vor Copernicus. "Wir erhalten diese Informationen kostenlos", sagte Dr. Yagüe.

Es gibt jedoch noch ein weiteres entscheidendes Element zur Verbesserung der Gesundheit der Wälder in Europa, und dieses liegt bei uns.

Viele Wälder Europas wurden vernachlässigt. Während sie einst sorgfältig verwaltete Landschaften waren, "ist das Wissen um das Zusammenleben mit der Natur verloren gegangen, als die Menschen in die Städte zogen", sagte Dr. Yagüe. "Dies wiederherzustellen ist sehr wichtig."


* Dieser von Alex Whiting verfasste Artikel wurde ursprünglich am 5.August 2020 in Horizon, the EU Research and Innovation Magazine unter dem Titel: ‘Trade and climate change increase pest threat to Europe’s forests" publiziert. https://horizon-magazine.eu/article/trade-and-climate-change-increase-pest-threat-europe-s-forests.html . Der unter einer cc-by-4.0 Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt und geringfügig (mit einigen Untertiteln und einer Abbildung) für den Blog adaptiert.


[1] HOMED Projekt: HOlistic Management of Emerging forest pests and Diseases. Laufzeit: 10.2018 - 9.2022. https://cordis.europa.eu/project/id/771271

[2] MySustainableForest: Operational sustainable forestry with satellite-based remote sensing. Laufzeit: 22.2017 - 10.2020. https://cordis.europa.eu/project/id/776045


 

inge Wed, 12.08.2020 - 21:11

Voltaren (Diclofenac) verursacht ein globales Umweltproblem

Voltaren (Diclofenac) verursacht ein globales Umweltproblem

Fr 07.08.2020 Inge Schuster Inge SchusterIcon Medizin

Diclofenac (ursprüngliche Markenbezeichnung Voltaren) ist einer der weltweit am meisten angewandten Wirkstoffe gegen Entzündungen und Schmerzen und dies vor allem im Bereich des Bewegungsapparates. Da auf Grund des Wirkungsmechanismus auch zahlreiche unerwünschte Nebenwirkungen auf Leber, Niere, Verdauungstrakt und Herz-Kreislaufsystem auftreten können, verspricht man sich eine signifikante Reduktion solcher Risiken durch die sogenannte topische Anwendung, d.i. durch auf die Haut aufgetragene Wirkstoff enthaltende Cremen, Salben oder Gele (darüber wurde vor Kurzem im ScienceBlog berichtet [1]). Der Nutzen solcher Anwendungen ist allerdings meistens bescheiden, die Gefahr für die Umwelt - der überwiegende Teil des Wirkstoffs gelangt über das Abwasser in den Wasserkreislauf - dagegen groß.

Massensterben von Geiern

Als ich vor rund 30 Jahren das erste Mal in Indien war, gehörten Geier zum gewohnten Straßenbild. Sie hockten in Massen auf Bäumen und warteten darauf, dass ein Tier verendete, dass ein Tier überfahren wurde und ihnen dann für einige Zeit reichlich Nahrung garantierte. Abbildung 1.

Abbildung 1. Entlang der Straße von Agra nach Fatehpur Sikri (Uttar Pradesh, Indien) waren 1991 Geier in großer Zahl anzutreffen (Bild I.Schuster)

Aus anfangs unerklärlichen Gründen begannen in den darauffolgenden Jahren die Geier-Populationen zu schrumpfen - 2007 gab es von einzelnen Stämmen nur mehr 0,1 bis 3 % der Tiere. Als offensichtliche Ursache für das Aussterben entdeckte man Diclofenac (der Wirkstoff von Voltaren), das in Indien nicht nur am Menschen sondern auch in der Veterinärmedizin an Rindern gegen verschiedenste Erkrankungen - von Pneumonie bis Arthritis - angewandt wurde. Da Rinder in Indien nicht der menschlichen Nahrung dienen, bleiben ihre Kadaver auf den Straßen liegen und wurden bis in die 1990er-Jahre üblicherweise von den Geiern "entsorgt". Diclofenac-Rückstände in behandelten Tiere erwiesen sich dann aber als hochtoxisch für die Vögel, die an Nierenversagen verendeten. (Nierentoxizität gehört u.a. auch zu den unerwünschten Nebenwirkungen von Diclofenac in der Humananwendung).

Die Auswirkungen auf das Ökosystem waren massiv. Die verrottenden Kadaver - eine ideale Brutstätte für verschiedenste infektiöse Keime - wurden nun von wilden Hunden und Ratten gefressen, welche Infektionen (von Anthrax über Tollwut bis hin zur Pest) weiter verbreiteten. Schlussendlich wurde 2006 dann in Indien, Nepal und Pakistan die Anwendung von Diclofenac in der Tiermedizin verboten (und als Äquivalent das für Geier angeblich ungiftige Meloxicam erlaubt).

In der EU wurde allerdings Diclofenac 2014 für veterinärmedizinische Anwendungen zugelassen. Für Spanien, das die größte Geier-Population Europas beherbergt, wird nun ein ähnliches Schicksal der Tiere wie in Indien befürchtet.

Geier sind ein zwar markanter Indikator für Diclofenac-verursachte Schädigungen, stellen aber nicht einmal die Spitze des Eisbergs ökologischer Risiken dar. Zahlreiche ökotoxikologische Studien weisen darauf hin, dass Diclofenac schädliche Auswirkungen auf aquatische Lebensgemeinschaften und ebenso auf Tiere und Pflanzen an Land haben kann. In verschiedenen Säugetiersystemen wurden toxische Effekte auf Herz-Kreislauf, Leber, Niere, Nervensystem u.a. aufgezeigt.

Diclofenac gehört zu den weltweit populärsten Mitteln gegen Entzündungen und Schmerzen

und wird in oraler Form (Tabletten), in Form von Injektionen und in topischer Form (Salben und Gele) angewandt. Der Bedarf für Diclofenac am Weltmarkt belief sich 2018 auf mehr als 2000 Tonnen (https://topicsonchemeng.org.my/paper/ICNMIM080.pdf) und steigt weiter an. Auch, wenn das Patent auf diesen Wirkstoff bereits vor langer Zeit abgelaufen ist und darauf basierende Arzneimittel billig sind, wird für 2025 ein Umsatz von 5,6 Milliarden $ US prognostiziert.

Haupteinsatzgebiet sind dabei Schmerzen im Bewegungsapparat, die man durch Einreiben der Haut mit Salben und Gelen zu lindern versucht (siehe [1]). Allein in Deutschland lag der Verbrauch von Diclofenac bei rund 85 Tonnen im vergangenen Jahr, in Österreich bei rund 5,6 Tonnen im Jahr 2014 (Zahlen vom Deutschen resp. Österreichischen Bundesumweltamt).

Diclofenac im Wasserkreislauf

Der weitaus überwiegende Teil dieser Wirkstoffmengen landet schlussendlich im Abwasser. Aus oral verabreichtem oder injiziertem Diclofenac entstehen im Organismus mehrere (z.T. biologisch wirksame) Metabolite, die neben unveränderter Substanz vorwiegend über den Urin ausgeschieden werden. Von dem in Salben/Gelen topisch aufgebrachten Wirkstoff gelangen nur wenige Prozente in den Organismus, die dann - wie im Fall des oral oder durch Injektion verabreichten Diclofenac -metabolisiert und ausgeschieden werden; bis zu 95 % (und mehr) verbleiben in unveränderter Form auf der Haut und werden abgewaschen.

Abbildung 2. Der Weg des Diclofenac vom Patienten in die Fliessgewässer. Auch eine effiziente Kläranlage hält nur einen Teil des im Abwasser vorhandenen Wirkstoffs zurück. (Bild modifiziert nach[2]: C.Font et al., https://doi.org/10.5194/gmd-12-5213-2019 [2]; Lizenz: cc-by 4.0)

Tausende Tonnen Wirkstoff werden also laufend über das Abwasser in die Flusssysteme, von dort ins Grundwasser, Trinkwasser in die Seen und schlussendlich ins Meer geleitet. Abbildung 2 skizziert diesen Weg in vereinfachter Form.

Die in Abbildung 2 dargestellten Schritte sind Basis des GLOBAL-FATE Modells, eines ersten Modells das darauf hinzielt weltweit aus dem Verbrauch von Arzneimitteln deren Eintrag undin die Gewässersysteme zu simulieren. Input sind Parameter wie Bevölkerungsdichte, Arzneimittelverbrauch pro Kopf, Metabolisierungs- und Ausscheidungsrate im Menschen und morphologische und hydrologische Parameter des Gewässersystems. Als Output wird angestrebt die Konzentration des Fremdstoffs und seine Verweilzeit in Gewässern zu prognostizieren. Die Leistungsfähigkeit des Modells wird am Beispiel des Diclofenac dargestellt: Die Simulierung für die Fluss-Systeme in Zentral- und Südeuropa und in anderen Ländern im Mittelmeerraum zeigt in weiten Bereichen mittlere Diclofenac-Konzentrationen, die über O,1 µg/l liegen - Ergebnisse, die mit direkten Messungen korrelieren (siehe unten) Abbildung 3.

Abbildung 3. Mit dem GLOBAL-FATE Modell erstellte Simulation der mittleren jährlichen Diclofenac-Konzentrationen in europäischen Gewässern und Ländern des Mittelmeerraums. An vielen Stellen überschreitet Diclofenac die Konzentration von 0,1 µg/l (= 100ng/l; rot). (Bild aus [2]: C.Font et al., https://doi.org/10.5194/gmd-12-5213-2019 [2]; Lizenz: cc-by 4.0)

Dieses benutzerfreundliche Multi-Platform Modell sollte es Wissenschaftern und auch Politikern ermöglichen die Auswirkungen eines veränderten Arzneimittelverbrauchs und/oder verbesserter Kläranlagen auf den Eintrag von Wirkstoffen in die Umwelt zu simulieren und Maßnahmen zu begleiten.

2015 hat die Europäische Kommission eine erste Watchlist für Arzneistoffe mit erheblichem Gefährdungspoteial für die aquatische Umwelt herausgegeben  und Bewerungskriterien festgelegt.  Diclofenac ist in dieser Liste vertreten, daneben u.a. 3 Antibiotika und ebenso viele Steroidhormone.

Basierend auf experimentell gemessenen Konzentrationen (über 120 000 Messwerten) aus insgesamt 1016 Publikationen und Datenquellen hat das Deutsche Umweltbundesamt 2016 eine Analyse und Bewertung des weltweiten Vorkommens von Arzneimitteln in der Umwelt herausgegeben [3].

Insgesamt wurden  713 Substanzen (plus 142 Metabolisierungsprodukte) geprüft. Von allen Substanzen wurde Diclofenac am häufigsten (nämlich in insgesamt 50 Ländern) in der Umwelt - d.i. im Oberflächen-, Grund- und Trinkwasser - nachgewiesen. Länderbasierte Mittelwerte zeigten in vielen Regionen Konzentrationen über 0,1 µg/l (die sogenannte Predicted No Effect Concentration, siehe unten). Die höchste Durchschnittskonzentration - 1,55 µg/l - trat in Pakistan auf. Betrachtet man die höchsten, in jeweiligen Regionen gemessenen Konzentrationen, so übersteigen diese - wie Abbildung 4 zeigt - in einer Reihe von Ländern die 1µg/l Marke.

Abbildung 4. Höchste Konzentrationen von Diclofenac in Oberflächenwässern übersteigen in einigen Ländern 1µg/l. Dies kann auf ökotoxikologische Probleme an diesen Messstellen hinweisen. (Bild aus Bericht des Deutschen Umweltbundesamtes, Texte 67/2016 [3])

Diclofenac findet sich auch in österreichischen Gewässern. Eine rezente Studie des Österreichischen Umweltbundesamtes hat 90 verschiedene Arzneimittel-Wirkstoffe in insgesamt 2o repräsentativen Fließgewässern und Abwässern aus allen Bundesländern  analysiert, wobei die Probennahme zu jeweils zwei Zeitpunkten erfolgte.

Diclofenac konnte in allen Wasserproben nachgewiesen werden, in 9 der Gewässer in Konzentrationen um und über 0,1 µg/l. Besonders hohe Konzentrationen - um 1,0 µg/l traten an der Messstelle der Wulka (Burgenland) auf, die einen hohen Anteil an Abwasser mit sich führt. Abbildung 5.

Abbildung 5. Diclofenac Konzentrationen in österreichischen Fließgewässern. An den einzelnen Messstellen wurden 2 mal Proben genommen: im Herbst/Winter 2017 und im Frühjahr 2018. Die hohe Konzentration um 1,0 µg/l in der Wulka erklärt sich aus deren hohen Abwasseranteil. Die Bewertung eines No-Toxic-Effect Levels (rote Linie) wurde hier bei 0,05 µg/l festgesetzt.(Bild aus [4], GZÜV Sondermessprogramm 2017/2018)

Können diese Konzentrationen ein ökotoxikologisches Risiko darstellen?

Aus standardisierten Laborexperimenten mit Organismen wie z.B. Daphnien, Fischen oder Pflanzen wurde eine sogenannte Predicted No Effect Concentration (PNEC) von 0,1 µg/l für Diclofenac bestimmt (EU 2013), d.i. eine Konzentration bei deren Einhaltung man davon ausgehen kann, dass keine Schädigung des aquatischen Ökosystems zu erwarten ist.

Sowohl die Simulierung des GLOBAL-FATE Modells (Abbildung 3) als auch die Messwerte aus den 50 Ländern (Abbildung 4, 5)  zeigen, dass in vielen Ländern die No Effect Konzentration von 0,1 µg/l überschritten wird und es an den entsprechenden Messstellen zu einer Gefährdung der Ökosysteme kommen kann.

Der Eintrag von Diclofenac in Abwasser und Fließwasser führt in weiterer Folge zu messbaren Konzentrationen im gesamten Wasserkreislauf - in Grundwasser, Trinkwasser, Seen- und Meereswasser und im Sediment. Aus dem Wasser gelangt Diclofenac in Meerestiere - in diversen Fischen und in Muscheln wurden Konzentrationen bis über 20 µg/kg nachgewiesen [5]. Aus dem Boden /Wasser dringt Diclofenac in Pflanzen ein - in Tomaten aus Zypern wurden rund 12 µg/kg gemessen, in Melanzani aus Jordanien waren es < 20 µg/kg [5]. Über die Nahrungskette kann sich Diclofenac dann über die gesamte Biosphäre ausbreiten und sensitive Spezies und Ökosysteme negativ beeinflussen.

Es ist offensichtlich, dass der Eintrag von Diclofenac in die Umwelt verringert werden soll. Am einfachsten kann dies durch eine reduzierte Anwendung des Schmerzmittels erfolgen, vor allem in der Form von Salben und Gelen, die ja bei bescheidener Wirksamkeit [1] einen besonders hohen Eintrag in das Wassersystem verursachen.


[1] Inge Schuster, 27.06.2020: Auf die Haut geschmiert - wie gelangt Voltaren ins schmerzende Gelenk?

[2] C.Font et al., GLOBAL-FATE (version 1.0.0): A geographical information system (GIS)-based model for assessing contaminants fate in the global river network. Geosci. Model Dev., 12, 5213–5228, 2019. DOI:10.5194/gmd-12-5213-2019

[3] Tim aus der Beek et al., Pharmaceuticals in the environment: Global occurrence and potential cooperative action under the Strategic Approach to International Chemicals Management (SAICM). Umweltbundesamt Texte 67/2016

[4] Manfred Clara, Christina Hartmann und Karin Deutsch: Arzneimittelwirkstoffe und Hormone in Fließgewässern. GZÜV Sondermessprogramm 2017/2018 (Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus, Herausgeber)

[5] Palanivel Sathishkumar et al., Occurrence, interactive effects and ecological risk of diclofenac in environmental compartments and biota - a review. Science of the Total Environment 698 (2020) 134057


 

inge Thu, 06.08.2020 - 23:46

Das Puzzle des Lebens: Vom Bau einer synthetischen Zelle

Das Puzzle des Lebens: Vom Bau einer synthetischen Zelle

Do, 30.07.2020 - 05:13 — Kerstin Göpfrich

Kerstin GöpfrichIcon BiologieDie Entstehung von Leben auf der Erde beweist: Belebte Materie kann aus unbelebten Bausteinen hervorgehen. Doch ist es möglich, diesen Prozess im Labor nachzuvollziehen? Können einzelne Moleküle zu einer künstlichen Zelle zusammengesetzt werden? Die Biophysikerin Dr. Kerstin Göpfrich (Gruppenleiterin am MPG für Medizinische Forschung, Heidelberg) und ihr Team entwerfen mit DNA-Origami, der Faltkunst in der Nanowelt, zelluläre Komponenten. Anschließend setzen sie diese und andere Molekularbausteine in zellähnlichen Kompartimenten zusammen. Stück für Stück soll so eine künstliche Zelle entstehen, die zukünftig auch im lebenden Organismus wichtige Aufgaben übernehmen könnte.*

„Was ich nicht nachbauen kann, kann ich nicht verstehen.“ Was der Nobelpreisträger Feynman über physikalische Systeme sagt, gilt auch für lebende Zellen. Doch der Bau einer künstlichen Zelle aus unbelebten Bausteinen blieb lange Gegenstand philosophischer Spekulation – zu komplex erschien das Experiment.

Vereinfachung heißt das Erfolgsrezept der synthetischen Biologie. In dem sogenannten Bottom-up Ansatz werden nur die wichtigsten zellulären Bausteine isoliert und je nach Funktion in zellähnlichen Kompartimenten zusammengesetzt. So entstehen minimale Funktionseinheiten, die eine einzelne Eigenschaft einer lebenden Zelle nachahmen. Sie können beispielsweise Licht in chemische Energie umwandeln, auf Reize reagieren oder sich fortbewegen [1]. Doch der Zusammenbau der Module zu einer voll funktionsfähigen synthetischen Zelle bleibt bislang Vision – zu schwierig ist die Isolation einiger Bauteile, zu komplex ihre Wechselwirkung und ihr Zusammenbau.

De novo synthetische Biologie

Vielleicht hilft es, die Perspektive zu wechseln: Natürlich können wir versuchen, wie Archäologen die Bruchstücke akribisch zusammenzusetzen, um das Original bestmöglich zu rekonstruieren. Tatsächlich mag es aber einfacher sein, neue Werkzeuge und neue Materialien zu verwenden. Aus einem Replikat wird eine Eigenkonstruktion, die die Grundeigenschaften der Zelle nachahmt. Abbildung 1.

Abbildung 1. Stück für Stück setzten wir das Puzzle des Lebens neu zusammen. Nicht jedes Teil passt – deshalb verwenden wir neben natürlichen auch künstliche Bausteine für den Bau einer synthetischen Zelle. © Max-Planck-Institut für medizinische Forschung/Göpfrich & Gödel.

Denn Leben, so definiert wenigstens die NASA, ist Selbst-Replikation mit Evolution. Beschrieben werden also Funktionen und nicht die chemische Natur der Bausteine. Das gibt Freiraum für kreative Lösungen, wie wir sie verfolgen:

Mit einem de novo Ansatz wollen wir eine synthetische Zelle von Grund auf neu aufbauen. Das Ergebnis wären zelluläre Roboter, die ihre Umgebung wahrnehmen, eine Antwort berechnen und ausführen – als Bindeglieder zwischen der belebten und der unbelebten Welt.

Doch welche Werkzeuge und welche Materialien eignen sich für den Bau zellulärer Komponenten?

Programmierbare Präzisionswerkzeuge müssen es sein, die flexibel hohe Stückzahlen an molekularen Maschinen bereitstellen können, passgenau für eine Vielzahl verschiedener Funktionen. Ein geeignetes Werkzeug, glauben wir, ist DNA-Origami, die Faltkunst mit DNA.

DNA-Origami

DNA-Origami verwendet DNA nicht als Erbinformationsspeicher, wie die Natur, sondern als Baumaterial. Die spiralförmige DNA-Doppelhelix wird entwunden und in Einzelstränge zerlegt. Ein langer Einzelstrang DNA kann nun durch viele kurze, eigens hergestellte DNA-Sequenzen in die gewünschte Form gefaltet werden. Tatsächlich werden aus einer 3D-Zeichnung am Computer die nötigen DNA Sequenzen errechnet und schließlich im Labor zusammengemischt. In einem Tropfen Wasser entstehen nach Erhitzen Billionen von nanoskaligen Kopien der entworfenen Form. Was nach Magie klingt, ist einfache Physik – Energieminimierung. Die DNA findet sich so zusammen, wie sie am besten zusammenpasst. Abbildung 2.

Abbildung 2. DNA-Origami verwendet einen langen Einzelstrang DNA (schwarz), der durch kurze DNA Fragmente (blau) in die gewünschte Form gefaltet wird. © Max-Planck-Institut für medizinische Forschung / Göpfrich

Durch präzise chemische Funktionalisierung werden passive Formen zu funktionalen Einheiten. So haben wir unter anderem künstliche Membranporen aus DNA hergestellt - Komponenten, die sich oft nur schwer aus Zellen isolieren lassen [2].

DNA als Bindeglied

Doch nicht immer müssen es komplizierte Bauwerke sein: Schon eine einzelne DNA-Doppelhelix mit chemischer Modifikation genügt, um zwei zelluläre Komponenten miteinander zu verknüpfen. Das ist hilfreich, denn oft verwendet die Natur nicht ein oder zwei, sondern Hunderte von Bindegliedern, zum Beispiel, um das Zellskelett an die Zellmembran anzuheften. Alle zu isolieren und in synthetische Zellen einzubringen, scheint schier unmöglich. Deshalb haben wir – im wahrsten Sinne des Wortes – eine Abkürzung gewählt und DNA als künstliches Bindeglied verwendet [3]. Die Bindung über die DNA-Doppelhelix lässt sich als Reaktion auf äußere Einflüsse, zum Beispiel eine Änderung der Temperatur, kontrolliert anheften oder lösen.

Zusammenbau in einer zellartigen Hülle

Schließlich gilt es, die verschiedenen konstruierten Komponenten innerhalb eines membranumschlossenen Kompartiments zusammenzusetzen. Klar ist: Der Prozess bestimmt das Ergebnis. Geschüttelt, nicht gerührt – wie beim guten Cocktail.

Das Vorgehen beim Zusammenbau der Komponenten einer synthetischen Zelle will gut überlegt sein, denn besonders die Zellhülle ist fragil. Wenn die dünne Fettschicht einmal ausgebildet ist, gestaltet sich der Einbau von Komponenten schwierig. Deshalb haben wir eine Methode entwickelt, die dem Cocktail-Shaking zumindest augenscheinlich gleicht: Alle Komponenten werden in ein Reagenzglas geschichtet, durch Schütteln entsteht eine Tröpfchenemulsion, die die zellulären Komponenten einkapselt. An der Grenzschicht der Tröpfchen bildet sich eine künstliche Zellhülle aus, durch Aufbrechen der Emulsion können die synthetischen Zellen in eine wässrige Umgebung überführt werden. Auf diese relativ einfache Art und Weise gelingt der Einbau von vielzähligen verschiedenen Komponenten [4]. Auch Mikrofluidik und 3D-Druck erweisen sich als hilfreiche Werkzeuge. Mit diesen an der Hand können wir uns der nächsten Funktion annehmen: einem Informationsspeicher für künstliche Zellen.

Ausblick

Wann gelingt das Kunststück Leben, Selbstreplikation mit Evolution?

Auf der Erde dauerte es Milliarden Jahre. Anstatt auf eine Verkettung glücklicher Zufälle zu warten, verfolgt die synthetische Biologie klare Ziele. Das lässt hoffen, dass die Konstruktion eines lebendigen Modellsystems nicht mehr lange Vision bleibt.

Eine alte Frage erlangt neue Bedeutsamkeit: Was ist Leben und könnte es auch anders sein?


1. Göpfrich, K.; Platzman, I.; Spatz, J. P. Mastering Complexity: Towards Bottom-up Construction of Multifunctional Eukaryotic Synthetic Cells. Trends in Biotechnology 36(9), 938–951 (2018), open access.

2. Göpfrich, K.; Li, C.-Y.; Ricci, M.; Bhamidimarri, S. P.; Yoo, J.; Gyenes, B.; Ohmann, A.; Winterhalter, M.; Aksimentiev, A.; Keyser, U. F. Large-Conductance Transmembrane Porin Made from DNA Origami. ACS Nano 10(9), 8207-8214 (2016), open acces (cc-by livense)

3. Jahnke, K.; Weiss, M.; Frey, C.; Antona, S.; Janiesch, J.-W.; Platzman, I.; Göpfrich, K;*, Spatz, J. P.* Programmable Functionalization of Surfactant-Stabilized Microfluidic Droplets via DNA-Tags. Advanced Functional Materials 29 (2019)

4. Göpfrich, K.; Haller, B.; Staufer, O.; Dreher, Y.; Mersdorf, U.; Platzman, I.; Spatz, J. P. One-Pot Assembly of Complex Giant Unilamellar Vesicle-Based Synthetic Cells. ACS Synthetic Biology 8, 937–947 (2019). open access (cc-by license)


*Der im Jahrbuch 2019 der Max-Planck Gesellschaft unter dem Titel " Das Puzzle des Lebens: Vom Bau einer synthetischen Zelle" erschienene Artikel https://www.mpg.de/14230029/mpimf_jb_2019?c=153095) wurde mit freundlicher Zustimmung der Autorin und der MPG-Pressestelle ScienceBlog.at zur Verfügung gestellt und erscheint in praktisch unveränderter Form.


Weiterführende Links

Max-Planck-Institut für medizinische Forschung (Heidelberg): https://www.mpg.de/forschung/institute/medizinische-forschung

Kerstin Göpfrich, Ilia Platzman & Joachim P. Spatz: Aus dem Baukasten der molekularen Ingenieure. Auf dem Weg zur synthetischen Zelle, erschienen im Forschungsmagazin Ruperto Carola der Universität Heidelberg (2019).

Kerstin Göpfrich: Microfluidics for bottom-up assembly of synthetic cells. Video 2:01 min. (2018). https://www.youtube.com/watch?v=cO3AVYF1Fpc&feature=youtu.be. Nach: K. Göpfrich, I. Platzman, J. P. Spatz: Mastering Complexity: Towards Bottom-up Construction of Multifunctional Eukaryotic Synthetic Cells, Trends in Biotechnology, 26, 2018, https://doi.org/10.1016/j.tibtech.201...

Petra Schwille, 22.08.2017: Zelle 0:0 – Was braucht es, um zu leben? Video 13 min. https://www.br.de/mediathek/video/prof-dr-petra-schwille-zelle-00-was-braucht-es-um-zu-leben-av:584f8f883b46790011a483ea

Artikel im ScienceBlog:


 

inge Wed, 29.07.2020 - 20:35

Es genügt nicht CO₂-Emissionen zu limitieren, auch der Methanausstoß muss reduziert werden

Es genügt nicht CO₂-Emissionen zu limitieren, auch der Methanausstoß muss reduziert werden

Do, 23.07.2020 — IIASA

IIASA LogoIcon GeowissenschaftenEin internationales, im Rahmen des Global Carbon Project arbeitendes Forscherteam, an dem auch Forscher des IIASA beteiligt sind, hat festgestellt, dass die globalen Methanemissionen im letzten Jahrzehnt um 9% (oder ungefähr 50 Millionen Tonnen) gestiegen sind und dass für den größten Teil dieses Anstiegs vom Menschen verursachte Emissionen verantwortlich sind. Diese Emissionen werden insbesondere durch die Landwirtschaft und durch die Verwendung fossiler Brennstoffe verursacht.*

Methan (CH4) ist nach Kohlendioxid (CO2) das am zweithäufigsten vorkommende anthropogene Treibhausgas. Seine Treibhauswirkung ist - bezogen auf einen Zeitraum von 100 Jahren - pro kg 28-mal höher als die von CO2. Seit Beginn der industriellen Revolution sind die Methankonzentrationen in der Atmosphäre um mehr als auf das Zweieinhalbfache gestiegen. Die Ursache für diesen Anstieg der Emissionen hängt weitgehend mit menschlichen Aktivitäten zusammen.

Nach einer Phase der Stabilisierung in den frühen 2000er Jahren haben internationale Messstationen einen weiteren kontinuierlichen Anstieg der Methankonzentrationen beobachtet, der sich dann ab 2014 zu beschleunigen begann. Abbildung 1.

Abbildung 1. Global gemittelter Anstieg von Methan in der Atmosphäre. Daten von 4 Messprogrammen: National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA), Advanced Global Atmospheric Gases Experiment (AGAGE), Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO) und University of California, Irvine (UCI). Abb. aus [1] "The Global Methane Budget 2000–2017"; https://doi.org/10.5194/essd-12-1561-2020 (Lizenz: cc-by 4.0)

Derzeit steigen die Methankonzentrationen mit einer Rate von etwa 8 - 12 ppb/Jahr (1 ppb = 1Teilchen pro 1 Milliarde Teilchen; zum Vergleich CO2 -Konzentrationen werden in ppm - parts per Million - angegeben; Anm. Redn.). In den Jahren 2017 und 2018 lag die Zunahme von Methan in der Atmosphäre bei 8,5 und 10,7 ppb /Jahr, dies machte sie zu den stärksten Jahren seit 2000 .

Sofern in den kommenden Jahren nicht dringend Maßnahmen zur Reduzierung von Methan ergriffen werden, so wird - laut dem umfassenden Bericht des Global Carbon Project [1]- dieser Trend uns künftig Szenarien bringen, die mit den Zielen des Pariser Abkommens unvereinbar sind. Die im Bericht dargelegte Einschätzung basiert auf dem gesamten aktuellen Wissen über alle Methanquellen, von den größten (den Feuchtgebieten) bis zu den kleinsten (den Hydraten) Quellen. Die Arbeit stützte sich auf die Beiträge von mehr als 80 Wissenschaftlern aus verschiedenen Institutionen, einschließlich des IIASA; eine große Anzahl wissenschaftlicher Fachgebiete sind darin vertreten, um die Vielfalt der Quellen von Methanemissionen in geeigneter Weise behandeln zu können.

Quellen und Senken

„Die Identifizierung der Quellen bottom-up (d.i. die Summe aller Quellen, die aus Inventaren und Modellen geschätzt wurden; Anm. Redn.) und die Verifizierung dieser Quellen top-down durch atmosphärische Messungen ist ein wichtiger erster Schritt, um wirksame zukünftige Strategien zur Minderung der Methanemissionen zu finden“, erklärt die Koautorin Lena Höglund-Isaksson, eine Forscherin des IIASA "Programms für Luftqualität und Treibhausgase".

Dem Bericht zufolge sind rund 60% der Methanemissionen auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Die Autoren betonen allerdings, dass diese 60% ein ungefährer Wert sind, da Beiträge aus natürlichen Methanquellen (aus überfluteten Gebieten, Seen, Stauseen, geologischen Formationen, von Termiten hervorgerufen, aus Hydraten, etc.) immer noch ziemlich schwierig kalkulierbar sind. Abbildung 2 gibt eine Übersicht über das globale Methan Budget im Jahr 2017.

Abbildung 2. Eine Abschätzung des globalen Methanbudgets für das Jahr 2017 in Tg/Jahr (1 Tg = 1 Million Tonnen; Anm. Redn.). Anthropogene (rot) und natürliche (grün) Quellen und Senken von Methan. Chemische und biologische Prozesse in Luft und Boden verbrauchen Methan, sind also Senken, wobei etwa 90 % des Methans durch Oxidation mit dem Hydroxyl-Radkal. aus der Atmosphäre entfernt wird. (Bild: http://www.globalcarbonproject.org/methanebudget; Lizenz cc-by-sa)

Art der anthropogenen Methan Emissionen

Die anthropogenen Methan Emissionen nehmen jedoch weiter zu und teilen sich in den globalen Emissionsinventaren (d.i. den Bestandsaufnahmen der Emissionssituation; Anm. Redn.) in folgender Weise auf:

  • 30% gehen auf die Tierhaltung zurück
  • 22% auf die Förderung von Erdöl und Erdgas
  • 18% auf die Entsorgung fester und flüssiger Abfälle
  • 11% auf den Kohlebergbau
  • 8% auf den Anbau von Reis
  • 8% auf das Verbrennen von Biomasse und Biokraftstoffen
  • plus ein Restbetrag, der sich auf Verkehr und Industrie bezieht.

Regionale Unterschiede

Die Methanemissionen unterscheiden sich auch regional.

Abbildung 3 gibt einen globalen Überblick über die wichtigsten Quellen von Methanemissionen.

Abbildung 3. Weltkarte mit den größten natürlichen und anthropogenen Quellen der Methanemissionen (Bild: Saunois et al. 2020, ESSD (Fig 3). Lizenz cc-by 4.0 )

60% des Anstiegs der Methanemissionen sind auf tropische Regionen zurückzuführen und der Rest auf mittlere Breiten. In der Arktis führen steigende Temperaturen dazu, dass der nördliche Permafrost schmilzt und Tauwasserseen entstehen, was laut Modellergebnissen zu erhöhten Methanemissionen im 21. Jahrhundert führen sollte. Die Forscher kommen allerdings zu dem Schluss, dass mit den auf Messungen der atmosphärischen Konzentrationen basierenden Methoden bis jetzt noch kein Anzeichen in diese Richtung detektiert wird.

Die drei hauptsächlich für den Anstieg von Methan verantwortlichen Regionen sind Afrika, Asien und China mit einem Anstieg von jeweils 10-15 Mt. Nordamerika dürfte etwa 5-7 Mt beitragen, wovon 4-5 Mt aus den Vereinigten Staaten stammen. Afrika und Asien (ohne China) tragen maßgeblich zum Anstieg der aus Landwirtschaft und Abfallswirtschaft stammenden Emissionen bei. In China und Nordamerika dominiert der Anstieg der Emissionen aus dem Sektor der fossilen Brennstoffe. Europa ist die einzige Region der Welt, in der die Emissionen anscheinend gesunken sind: je nach verwendeter Schätzmethode zwischen -4 und -2 Mio. t. Dieser Rückgang ist hauptsächlich auf die Entwicklungen im Agrarsektor und auf die Verlagerung des Abfalls weg von den Deponien zurückzuführen.

Die Autoren betonen, dass es wichtig ist, den Anstieg der Methankonzentrationen in der Atmosphäre weiterhin genau zu überwachen und die Emissionsquellen besser zu verstehen.

„Es ist unbedingt erforderlich, die Anstrengungen zur Quantifizierung der globalen Methanbilanz in denselben regelmäßigen Intervallen wie für CO2 fortzusetzen, da die Reduzierung der Methanemissionen dem Klima schnell zugute kommen kann. Wenn wir deutlich unter 2° C Temperaturerhöhung bleiben und die Ziele des Pariser Abkommens erreichen wollen, sollten wir uns nicht damit zufrieden geben, nur die CO2-Emissionen zu begrenzen, sondern auch Methan reduzieren “, schließt die Hauptautorin Marielle Saunois, eine Forscherin am Labor für Klima und Umweltwissenschaften (LSCE, CEA-CNRS-UVSQ) in Frankreich.

Zusätzlich zu dem vom Global Carbon Project erstellten Bericht wurden zwei Forschungsarbeiten in den Zeitschriften Environmental Research Letters und Earth System Science Data veröffentlicht.


[1] Saunois M, Stavert AR, Poulter B, Bousquet P, Canadell JG, Jackson RB, Raymond PA, et al. (2020). The Global Methane Budget 2000–2017. Earth System Science Data DOI: 10.5194/essd-12-1561-2020


* Der von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzte Artikel ist am 15. Juli 2020 auf der IIASA Webseite unter dem Titel: " Limiting CO2 emissions is not enough, methane must also be reduced" erschienen (https://iiasa.ac.at/web/home/about/news/200715-the-global-methane-budget.html). IIASA hat freundlicherweise der Veröffentlichung von Inhalten seiner Website und Presseaussendungen in unserem Blog zugestimmt. Der Text wurde von der Redaktion durch passende Abbildungen aus [1] und Legenden ergänzt.


Einige Artikel über Methan Emissionen im ScienceBlog


 

inge Thu, 23.07.2020 - 00:00

Fortschritte auf dem Weg zu einem sicheren und wirksamen Coronaimpfstoff - Gepräch mit dem Leiter der NIH-COVID-19 Vakzine Entwicklung

Fortschritte auf dem Weg zu einem sicheren und wirksamen Coronaimpfstoff - Gepräch mit dem Leiter der NIH-COVID-19 Vakzine Entwicklung

Do, 16.07.2020 — Francis S. Collins

Francis S. CollinsIcon MedizinBereits am Beginn der COVID-19 Pandemie, im März d.J., hat Francis S. Collins, Direktor der US-National Institutes of Health (NIH) und ehem. Leiter des "Human Genome Project", über die Aktivitäten der NIH zur Entwicklung von Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 berichtet [1]. Basierend auf der Strukturanalyse des Spike-Proteins, mit dem das Virus an die Wirtszellen andockt, haben die NIH in Zusammenarbeit mit der Biotech-Firma Moderna (Cambridge, MA) in Rekordzeit einen spezifischen Impfstoff entwickelt, dessen klinische Testung in Phase 1 bereits im März begonnen hat [2]. Die Ergebnisse geben Anlass zu (vorsichtigem) Optimismus: der Impfstoff ist verträglich und hat in allen Probanden die gewünschte Immunantwort erzeugt. Nun soll in wenigen Tagen die klinische Testung dieses Impfstoffes - in Phase 3 - an etwa 30 000 Probanden beginnen. Zahlreiche Fragen zu diesem und auch zu anderen Impfstoffen werden im Gespräch mit John Mascola, Direktor am NIH-Vaccine Research Center (VRC) und Leiter der COVID-19 Vakzine Entwicklung beantwortet.*

Ein sicherer und wirksamer Impfstoff ist unabdingbar, um die durch COVID-19 verursachte Pandemie zu beenden. Auf dem Weg zu einem solchen Impfstoff macht die biomedizinische Forschung täglich Fortschritte, ob es sich um die in der Entwicklung innovativer Technologien handelt oder um die Suche nach schnelleren Testungen im Menschen. Erst in dieser Woche hat das NIH-National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) ein neues Netzwerk für klinische Studien eingerichtet, das Zehntausende von Freiwilligen rekrutieren wird, um an diesen in groß angelegten klinischen Studien verschiedene COVID-19-Impfstoff-Kandidaten zu testen.

Unter den Impfstoffen, die den Entwicklungsprozess schnell durchlaufen, gibt es einen, der vom Dale and Betty Bumpers Vaccine Research Center (VRC) des NIAID in Zusammenarbeit mit Moderna, Inc., Cambridge, MA, entwickelt wurde. Um einen schnellen Überblick über die COVID-19-Impfstoffforschung zu geben, kann ich mir Niemanden besseren vorstellen als Dr. John Mascola vom NIH, der Direktor des VRC ist. Unser aktuelles Gespräch hat per Videokonferenz stattgefunden - John war dabei in seinem Haus in Rockville, MD und ich an meinem Platz im nahe gelegenen Chevy Chase. Abbildung 1.

Im Folgenden ist ein komprimiertes Transkript unseres Gesprächs (Anm. Redn.: zur Gliederung des sehr langen Gesprächs wurden von der Redn. einige Untertitel eingefügt.).

Abbildung 1.Gespräch per Videokonferenz. Links: Francis S. Collins, Direktor der NIH. Rechts: John Mascola, Direktor des Vaccine Research Center (VRC) des NIAID (NIH).

Von der Funktion von Impfstoffen…

Collins: Impfstoffe gibt es seit Edward Jenner und den Pocken im späten 18. Jahrhundert. Wie aber funktioniert ein Impfstoff, um jemanden vor Infektionen zu schützen?

Mascola: Das Immunsystem funktioniert, indem etwas als fremd erkennt und darauf reagiert. Impfstoffe sind von dem Faktum abhängig, dass das Immunsystem, wenn es einmal ein fremdes Protein, einen fremden Stoff gesehen hat, bei einer zweiten Begegnung viel rascher reagiert. Diesen Prinzipien entsprechend impfen wir mit einem Teil eines viralen Proteins, das vom Immunsystem als fremd erkannt wird. Die Reaktion auf dieses virale Protein oder Antigen ruft spezialisierte T- und B-Zellen - sogenannte Gedächtniszellen - auf den Plan, die sich an die Begegnung erinnern. Ist man dem Virus dann tatsächlich ausgesetzt, ist das Immunsystem bereits vorbereitet. Es reagiert so schnell, dass das Virus beseitigt ist, bevor man erkrankt.

…zu ihrer Entwicklung

Collins: Welche Schritte gibt es in der Entwicklung eines Impfstoffs?

Mascola: Ganz allgemein: man kann keinen Impfstoff herstellen, ohne etwas über das Virus zu wissen. Wir müssen seine Oberflächenproteine kennen. Wir müssen verstehen, wie das Immunsystem das Virus sieht. Sobald dieses Wissen vorhanden ist, können wir ziemlich schnell einen Impfstoffkandidaten im Labor herstellen.

Anschließend transferieren wir den Impfstoff in eine Produktionsanlage, eine sogenannte Pilotanlage, die Material in klinischer Reinheit für Testungen herstellt. Sobald ausreichend Testmaterial verfügbar ist, führen wir eine Erststudie am Menschen durch, häufig in unserer Impfklinik im NIH Clinical Center.

Wenn diese Tests erfolgversprechend aussehen, besteht der nächste große Schritt darin, einen Partner aus der Pharmaindustrie zu finden, um den Impfstoff in großem Maßstab herzustellen, die Zulassung durch die Behörde einzuholen und ihn kommerziell zu vertreiben. Normalerweise benötigt dies einige Zeit - vom Anfang bis Ende des Prozesses sind es oft fünf oder mehr Jahre.

Collins: Bei der jetzigen globalen Krise können wir offensichtlich keine fünf Jahre zuwarten. Erzählen Sie uns, bitte, welche Aktivitäten das VRC gestartet hat, sobald man von dem Ausbruch in Wuhan, China, Kenntnis erhielt.

Ein neuartiger Impfstoff auf Nukleinsäurebasis…

Mascola: Das ist eine faszinierende Geschichte. Wir hatten mit NIAID-Direktor Dr. Anthony Fauci und unseren Kollegen darüber gesprochen, wie wir uns auf die nächste Pandemie vorbereiten können. Weit oben auf unserer Liste standen Coronaviren, über die wir bereits bei früheren Ausbrüchen von SARS und MERS [anderen durch Coronaviren verursachten Atemwegserkrankungen] gearbeitet hatten. Also untersuchten wir Coronaviren und konzentrierten uns auf das einzigartige Spike-Protein, das ihre Oberflächen krönt. Wir haben einen Impfstoff entwickelt, der das Spike-Protein dem Immunsystem präsentiert. Abbildung 2.

Abbildung 2. Mit dem Spike-Protein , das seine Oberfläche "krönt", dockt das SARS-CoV-2 Virus an die Wirtszellen im menschlichen Organismus an und infiziert diese. Im Hintergrund ein Virusmodell mit dem Spikeprotein (rot), im Vordergrund die 3D- Struktur des Spikeproteins. (Bild: NIH-Image Gallery)

Collins: Mit dem Wissen, dass das Spike-Protein wahrscheinlich Ihr Antigen sein kann, wie sind Sie bei der Entwicklung des Impfstoff vorgegangen?

Mascola: Unser Ansatz war ein Impfstoff auf Nukleinsäurebasis. Eine solcher, auf genetischem Material - entweder DNA oder RNA - basierender Typ eines Impfstoffs kann besonders schnell für erste Testungen in die Klinik gebracht werden.

…der für das Spike-Protein kodiert

Als wir von dem Ausbruch in Wuhan erfuhren, haben wir einfach auf die Nukleinsäuresequenz von SARS-CoV-2, dem neuartigen COVID-19 verursachenden Virus, zugegriffen. Der Großteil der Sequenz befand sich auf einem Server chinesischer Forscher. Wir haben uns die für das Spike-Protein kodierende Sequenz angesehen und diese in einen RNA-Impfstoff eingebaut (ein sogenanntes in silico Impfstoffdesign). Aufgrund unserer Erfahrung mit dem ursprünglichen SARS-Virus in den 2000er Jahren wussten wir, dass ein solcher Ansatz funktionierte. Wir haben das Impfstoffdesign einfach nur der Sequenz des Spike-Proteins von SARS-CoV-2 entsprechend verändert. Buchstäblich innerhalb weniger Tage haben wir begonnen den Impfstoff im Labor herzustellen.

Gleichzeitig haben wir mit dem Biotechnologieunternehmen Moderna zusammengearbeitet, das personalisierte Krebsimpfstoffe herstellt. Von der Verfügbarkeit der Sequenz Anfang Januar bis zum Beginn der ersten Studie am Menschen hat es dann etwa 65 Tage gedauert. 

Collins: Wow! Wurde jemals ein Impfstoff in 65 Tagen entwickelt?

Mascola: Ich glaube nicht. Es gibt Vieles, was erstmalig bei COVID ist - die Entwicklung von Impfstoffen gehört dazu.

Collins: Was war eigentlich in der Spritze, welche in der Phase-1-Studie die Freiwilligen erhielten?

Mascola: Die Spritze enthielt die Messenger-RNA (mRNA) des Spike-Proteins - d.i. die kodierte Anweisungen zu seiner Biosynthese - verpackt in eine Lipid-Nanopartikel-Hülle. Diese Verpackung schützt die mRNA, die weniger stabil als DNA ist und im Proberöhrchen von Enzymen abgebaut werden kann. Darüber hinaus ermöglicht dieses Schutzpartikel die Injektion in den Muskel und erleichtert die Aufnahme der mRNA in die Muskelzellen. Die Zellen übersetzen die mRNA dann in Spike-Proteine, das Immunsystem erkennt diese und löst eine Immunantwort aus. Abbildung 3.

Abbildung 3. Der Impfstoffkandidat des NIH-Vaccine Research Centers in Zusammenarbeit mit dem Biotechunternehmen Moderna. Ein nicht-infektiöses Stück mRNA, das für das virale Spike Protein kodiert, wird in den Muskel injiziert, löst die Produktion des Spike-Proteins aus, welches die Produktion von neutralisierenden Antikörpern triggert. (Bild: https://twitter.com/nih/status/1278697208548782081 )

Collins: Wissen Muskelzellen, wie sie dieses Protein auf ihre Zelloberflächen bringen können, wo das Immunsystem es sehen kann? Mascola: Mit einer richtig konstruierten mRNA machen sie das. Wir haben mit der DNA diesbezüglich lange Erfahrung. Verglichen mit der DNA hat die mRNA den Vorteil, dass sie nur in die Zelle gelangen muss und nicht in den Zellkern. Es hat uns jedoch etwa ein Jahrzehnt gekostet, um herauszufinden, wie die Zelle die mRNA sehen kann, ohne sie zu zerstören und tatsächlich wie ein Stück normaler mRNA zur Umwandlung in ein Protein benutzt. Da dies geklärt ist, ist es nun ziemlich einfach, jeden spezifischen Impfstoff herzustellen.

Collins: Das ist wirklich ein bemerkenswerter Zug der Wissenschaft. Während es so aussieht, als ob dies alles in einem Augenblick, in 65 Tage, geschehen ist, ist das Verstehen wie Zellen mit mRNA umgehen, aus jahrelanger Grundlagenforschung hervorgegangen.

Wie ist der aktuelle Status des Impfstoffs?

Mascola: Vorläufige Ergebnisse aus der Phase-1-Studie sind sehr ermutigend. Eine in Vorbereitung befindliche Veröffentlichung wird in Kürze aufzeigen, dass der Impfstoff sicher war und eine sehr robuste Immunantwort auf das Spike-Protein ausgelöst hat. Wir haben speiziell nach neutralisierenden Antikörpern gesucht, die sich an den Spike anlagern und verhindern, dass das Virus an eine Zelle bindet. In der Impfstoffentwicklung gibt es ein allgemeines Prinzip: Wenn das Immunsystem neutralisierende Antikörper erzeugt, ist dies ein sehr gutes Zeichen.

Collins: Auch wenn dies gute Anzeichen sind, beweist dies noch nicht, dass dieser Impfstoff auch funktionieren wird. Was muss man noch wissen?

Mascola: Die einzige reale Möglichkeit herauszufinden, ob ein Impfstoff funktioniert oder nicht funktioniert, besteht darin, ihn an Menschen zu testen. Die klinischen Studien sind in die Phasen 1, 2 und 3 unterteilt.

Phase 1 zur Beurteilung der Sicherheit wurde bereits durchgeführt.

Phase 2 ist eine umfassendere Evaluierung von Sicherheit und Immunantwort. Diese Studie läuft noch und hat 500 oder 600 Personen rekrutiert.

Der Beginn der Phase-3-Studie ist im Juli geplant. Auch das ist unglaublich schnell, wenn man bedenkt, dass wir bis Januar überhaupt nicht wussten, dass dieses Virus existiert. Collins: Wie viele Personen brauchen Sie für die Phase-3-Studie? Mascola: Wir denken an 20.000 oder 30.000.

Collins: Und eine Hälfte erhält den Impfstoff und die andere Hälfte ein Placebo?

Mascola: Manchmal kann es anders gemacht werden, aber der klassische Ansatz ist halb Placebo, halb Impfstoff.

Andere Impfstoffe

Collins: Wir haben nun über den Nukleinsäure-Impfstoff von VRC-Moderna gesprochen. Aber es gibt auch andere, die ziemlich schnell unterwegs sind. Welche anderen Strategien werden angewendet und wie sind ihre Zeitpläne?

Mascola: Viele Dutzende Impfstoffe befinden sich in der Entwicklungs-Pipeline. Es hat ein außergewöhnliches Echo bei akademischen Gruppen, Biotech-Unternehmen, Pharmaunternehmen und der NIH-ACTIV Partnerschaft (Accelerating COVID-19 Therapeutic Interventions and Vaccines) gegeben. Ich glaube nicht, dass ich jemals so viel Aktivität und ein solches Tempo in einem Impfbereich erlebt habe.

Um in fortgeschrittene klinische Studien eintreten zu können, gibt es nur eine Handvoll Impfstoff-Kandidaten und es handelt sich dabei um verschiedene Typen. Mindestens drei Nukleinsäure-Impfstoffe befinden sich in klinischen Studien. Es gibt auch zwei Impfstoffe, die Proteine verwenden, was ein üblicherer Ansatz ist.

Darüber hinaus gibt es mehrere Impfstoffe, die auf einem viralen Vektor basieren. Dafür baut man die Gene für das Spike-Protein in ein Adenovirus (ein harmloses Erkältungsvirus) ein und injiziert dieses in die Muskeln.

Was Phase-3-Studien betrifft, wird es im Herbst möglicherweise drei oder vier Impfstoffe in solchen Testungen geben.

Zur beschleunigten Entwicklung

Collins: Wie ist es möglich, dies so viel schneller als in der Vergangenheit zu tun, ohne dabei Risiken einzugehen?

Mascola: Das ist eine wirklich wichtige Frage. Anders als normalerweise üblich, wird nun eine Reihe von Aktivitäten parallel ausgeführt. Dank zeitsparender Technologien können wir einen Impfstoff viel schneller in eine Studie am Menschen einbringen.

Tatsächlich entscheidend ist aber, dass es für die Phase-3-Studie keine Zeitersparnis gibt. Man muss 30.000 Menschen rekrutieren und sie über Monate in einem sehr strengen, placebokontrollierten Ambiente beobachten. Das NIH hat für alle Versuche ein sogenanntes Data Safety Monitoring Board eingerichtet. Dies ist eine unabhängige Gruppe von Forschern, die regelmäßig alle Daten aus Impfstoffversuchen überprüfen. Sie können auf die Daten reagieren: Sollte die Studie vorzeitig abgebrochen werden, weil der Impfstoff wirkt? Gibt es ein Besorgnis erregendes Signal hinsichtlich Sicherheit?

Während die Phase-3-Studie läuft, wird die US-Regierung auch die Herstellung des Impfstoffs in großem Maßstab finanzieren. Üblicherweise würde man die Impfstoffstudie durchführen, warten, bis alles abgeschlossen ist, und dann die Ergebnisse analysieren. Bei positivem Ausgang würde man dann eine Impfstoffanlage bauen, um ausreichend Material herzustellen, was zwei oder drei Jahre dauert, und dann für die behördliche Zulassung durch die Food and Drug Administration (FDA) einreichen.

Hier wird nun alles parallel gemacht. Wenn der Impfstoff funktioniert, ist er bereits lieferbar. Und die FDA gibt uns Feedback in Echtzeit. Das spart viel Zeit.

Collins: Ist es möglich, dass wir eine ganze Menge von Impfdosen herstellen, die weggeworfen werden müssen, wenn der Impfstoff nicht funktioniert?

Mascola: Das ist sicherlich möglich. Man tendiert zur Annahme, dass Impfstoffe bei Coronaviren wahrscheinlich wirken, weil diese durch die natürliche Immunantwort beseitigt werden. Menschen erkranken schwer an COVID-19, schlussendlich beseitigt aber das Immunsystem das Virus. Wenn wir das Immunsystem also mit einem Impfstoff primen können, gibt es Grund zu der Annahme, dass Impfstoffe funktionieren sollten.

Zur Dauer der Immunität

Collins: Wenn der Impfstoff wirkt, wird dies lebenslange Prävention von COVID-19 bedeuten? Oder wird es wie die Grippe sein, bei der sich das Virus ständig ändert und jedes Jahr neue Versionen des Impfstoffs benötigt werden?

Mascola: Nach allem, was wir über Coronaviren wissen, denken wir, dass COVID-19 wahrscheinlich nicht wie die Grippe ist. Coronaviren mutieren zwar, die Daten legen aber nahe, dass sie nicht so schnell mutieren wie Influenza. Wenn wir Glück haben, braucht der Impfstoff nicht geändert zu werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Immunität ein Jahr, fünf Jahre oder zehn Jahre anhält. Dazu brauchen wir weitere Daten.

Collins: Können wir sicher sein, dass jemand, der COVID-19 hatte, es einige Monate später nicht wieder bekommen kann?

Mascola: Das wissen wir noch nicht. Um dies zu beantworten, müssen wir den natürlichen Zeitverlauf untersuchen, ehemals infizierte Personen beobachten und prüfen, ob ihr nunmehriges Infektionsrisiko viel geringer ist. Klassisch in der Virologie ist: wenn das Immunsystem neutralisierende Antikörper gegen ein Virus zeigt, ist es sehr wahrscheinlich, dass man ein gewisses Maß an Immunität hat.

Etwas schwierig ist, dass es Menschen gibt, die sehr milde Symptome von COVID-19 bekommen. Bedeutet das, dass ihr Immunsystem nur wenig vom viralen Antigen gesehen hat und nicht sehr robust reagiert hat? Wir sind uns nicht sicher, ob jeder, der eine Infektion bekommt, gleichermaßen geschützt ist. Dies erfordert eine Verlaufsstudie, die etwa ein Jahr dauern wird, bis die Antworten vorliegen.

Teilnehmer an der Phase 3 Studie

Collins: Kehren wir zu den Versuchen zurück, die diesen Sommer stattfinden müssen. Sie haben von 20.000 bis 30.000 Menschen gesprochen, die sich für den einen Impfstoff freiwillig melden müssen. Welche Freiwilligen möchten Sie haben?

Mascola: Eine Phase-3-Studie sieht ein breites Spektrum an Teilnehmern vor. Die Durchführung eines Versuchs mit 30.000 Personen ist eine enorme logistische Herausforderung, die jedoch für die Rotavirus- und HPV-Impfstoffe stattgefunden hat. Wenn man in Phase 3 eintritt, möchte man nicht nur gesunde Erwachsene rekrutieren. Man möchte Personen dabei haben, die für die Vielfalt der Bevölkerung repräsentativ sind, die man schützen möchte.

Collins: Möchten Sie einen höheren Anteil an Hochrisikopopulationen? Dazu gehören diejenigen, von denen wir den den größten Nutzen eines Impfstoffs erwarten: ältere Menschen mit chronischen Krankheiten, Afroamerikaner und Hispanics.

Mascola: Auf jeden Fall. Wir möchten sicherstellen, dass wir mit ruhigem Gewissen den Impfstoff gefährdeten Bevölkerungsgruppen empfehlen können.

Sind Human Challenge Studien derzeit angebracht?

Collins: Einige Leute haben eine andere Möglichkeit aufgebracht. Sie fragen, warum wir teure klinische Langzeitstudien mit Zehntausenden von Menschen brauchen. Könnten wir nicht eine sogenannte Human-Challenge-Studie durchführen, in der wir den Impfstoff einigen gesunden, jungen Freiwilligen geben, ein paar Wochen warten und sie dann absichtlich dem SARS-CoV-2 aussetzen. Wenn sie nicht krank werden, haben wir es geschafft. Sind Challenge-Studien eine gute Idee für COVID-19?

Mascola: Im Moment noch nicht. Zunächst muss ein Challenge-Vorrat von SARS-CoV-2 angelegt werden, der nicht zu pathogen ist. Wir wollen im Labor ja nichts machen, was zu einer schweren Lungenentzündung führt. Für Challenge-Studien wäre es auch vorzuziehen, eine sehr wirksame Behandlung mit synthetischen Arzneimitteln oder Antikörpern zur Hand zu haben. Wenn jemand krank wird, kann man sehr schnell mit den Behandlungen gegen die Infektion beginnen. Wir haben keine kurativen Behandlungen, daher sind wir derzeit noch nicht für COVID-19-Challenge-Studien gerüstet [3]. Wenn Sie sich unseren beschleunigten Zeitplan ansehen, sind formelle Impfstoffversuche möglicherweise immer noch der schnellste und sicherste Weg, um Antworten zu erhalten.

Collins: Ich bin froh, dass Sie es anders machen, John. Es wird sehr mühsam sein. Man muss irgendwo hin gehen, wo das Virus sich noch verbreitet, sonst weiß man ja nicht, ob der Impfstoff wirkt. Das wird schwierig.

Mascola: Ja. Wie wissen wir, wo wir den Impfstoff testen müssen? Wir verwenden Predictive Analytics - wir versuchen, vorherzusagen, wo im Land  fortlaufende Übertragungen stattfinden werden. Wenn wir das wirklich gut können, bekommen wir Echtzeitdaten zur Übertragung in einer bestimmten Region. Wir können dort impfen und zugleich die am stärksten gefährdeten Menschen schützen.

Wann wird ein Coronaimpfstoff verfügbar sein?

Collins: John, dieses Gespräch war sehr informativ. Was ist Ihre optimistischste Meinung darüber, wann wir möglicherweise einen COVID-19-Impfstoff haben werden, der sicher und ausreichend wirksam ist, um an die Bevölkerung verteilt zu werden?

Mascola: Ein optimistisches Szenario wäre, dass wir gegen Ende dieses Jahres aus der Phase-3-Studie eine Antwort erhalten. Parallel zur Studie haben wir die Produktion hochgefahren, daher sollte der Impfstoff in großer Menge verfügbar sein. Wir benötigen aber noch den Review der Daten durch die FDA und das Einverständnis mit der Lizenzierung des Impfstoffs. Dann müssen wir ein wenig Zeit für die Verteilung und Werbung der Impfung einplanen.

Collins: Nun, es ist wunderbar, dass jemand mit Ihren Fähigkeiten, Erfahrungen und Visionen zusammen mit Ihren vielen Kollegen im Impfstoffforschungszentrum eine so führende Rolle spielt. Leute wie Kizzmekia Corbett, Barney Graham und all die anderen, die Teil dieses großartigen Teams sind, das Sie zusammengestellt haben und das von Dr. Fauci gemanagt wird.

Wenn auch noch ein langer Weg vor uns liegt, können wir stolz darauf sein, wie weit wir seit dem Erscheinen dieses Virus vor etwa sechs Monaten gekommen sind. In meinen 27 Jahren am NIH habe ich so etwas noch nie erlebt. Es gab eine Bereitschaft der Menschen  alle anderen Sorgen zur Seite zu schieben. Sie sind an einem Tisch zusammengekommen, haben an Design und Implementierung von Impfstoffen gearbeitet und sind schließlich in die reale Welt getreten, um klinische Studien zu starten.

John, vielen Dank für das, was Sie rund um die Uhr tun, um diese Art von Fortschritt zu ermöglichen. Wir alle beobachten, hoffen und beten, dass dies die Antwort sein wird, die die Menschen nach einer so schrecklich schwierigen Zeit im Jahr 2020 dringend brauchen. Ich glaube, dass 2021 eine ganz andere Art von Erfahrung sein wird, vor allem aufgrund der Impfwissenschaft, über die wir heute gesprochen haben.

Mascola: Vielen Dank, Francis. Und danke für die Anerkennung aller Menschen hinter dem Vorhang, die dies möglich gemacht haben. Sie arbeiten wirklich hart!


[1] Francis S. Collins, 05.03.2020: Strukturbiologie weist den Weg zu einem Coronavirus-Impfstoff

[2] Redaktion, 18.03.2020:Experimenteller Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bereits in klinischer Phase 1-Testung

[3] Deming ME, Michael, NL, Robb M., Cohen MS, Neuzil KM. Accelerating Development of SARS-CoV-2 Vaccines—The Role for Controlled Human Infection Models . N Engl J Med. 2020 1. Juli. [Epub vor Druck].


* Dieser Artikel von NIH Director Francis S. Collins, M.D., Ph.D. erschien zuerst (am 9. Juli 2020) im NIH Director’s Blog unter dem Titel: " Meet the Researcher Leading NIH’s COVID-19 Vaccine Development Efforts";

https://directorsblog.nih.gov/2020/07/09/meet-the-researcher-leading-nihs-covid-19-vaccine-development-efforts/. Der Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu übersetzt und geringfügig (mit einigen Untertiteln, um den überlangen Text zu gliedern und mit zwei zusätzlichen Abbildungen) für den ScienceBlog adaptiert. Reprinted (and translated by ScienceBlog) with permission from the National Institutes of Health (NIH).


Artikel zu COVID-19 im ScienceBlog:


 

inge Thu, 16.07.2020 - 14:41

Wir stehen erst am Anfang der Coronavirus-Pandemie - Interview mit Peter Piot

Wir stehen erst am Anfang der Coronavirus-Pandemie - Interview mit Peter Piot

Do, 09.07.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Medizin Der weltweit anerkannte Virologe Professor Dr.Peter Piot, hat die letzten 40 Jahre damit verbracht Viren aufzugspüren und zu bekämpfen. Zusammen mit Kollegen hat er 1976 das Ebolavirus entdeckt, ab den 1980er Jahren den Kampf gegen HIV/AIDS geleitet (dabei den Übertragungsmodus entschlüsselt) und war u.a. Direktor des Anti-HIV Programms der UNO. Der nunmehrige Direktor der Londoner Schule für Hygiene und Tropenmedizin (UK) und Sonderberater der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, für Coronavirus hat sich Anfang dieses Jahres mit dem Coronavirus selbst infiziert. In dem Interview mit dem EU Research and Innovation Magazine Horizon spricht er darüber, wie Covid-19 seine Sicht auf die Krankheit verändert hat, warum wir einen Impfstoff brauchen und über die langfristigen Auswirkungen der Pandemie.*

"Wir stehen erst am Anfang der Coronavirus-Pandemie, obwohl die zweite Welle einen anderen Verlauf nehmen kann als die erste", sagt der renommierte Virologe Prof. Peter Piot (Abbildung 1).

Abbildung 1. Prof. Dr. Peter Piot, Direktor der London School of Hygiene and Trpical Medicine.

Horizon (H): Das wichtigste zuerst. Nach 40 Jahren, in denen Sie Jagd auf Viren gemacht hatten, kamen Sie kürzlich selbst in engen Kontakt mit dem Coronavirus. Wie geht es Ihnen jetzt?

Peter Piot (P.P.): Vom Beginn der Erkrankung bis, dass ich wiederhergestellt war, hat es drei Monate gedauert; jetzt bin ich wieder mehr oder weniger gesund. Was ich erlebt habe, hat mir aber gezeigt, dass Covid-19 mehr ist als nur ein bisschen Grippe oder dass 1% auf die Intensivstation kommen und sterben. Da liegen Welten dazwischen.

Die Erkrankung hat mir aber zu neuen Einsichten verholfen. Jetzt kenne ich das Virus auch von Innen her - nicht bloß von der Seite des Untersuchens oder Bekämpfens. Der Blickwinkel ist ein völlig anderer geworden..

H: Inwiefern?

PP: Vor allem, weil es in dieser Krise um Menschen geht. Im Großteil der offiziellen Covid-19-Kommunikation geht es um die Abflachung der Kurve und kaum um Menschen. Was dann die Einsichten betrifft, ist esTatsache, dass es hier keine Frage "Grippe oder Intensivpflege" ist. Es wird viele Menschen mit Langzeitfolgen geben.

Meine persönliche Motivation gegen das Virus zu kämpfen ist nun doppelt so hoch geworden. Nachdem ich den größten Teil meines Lebens gegen Viren gekämpft habe, haben sie mich jetzt eingeholt; einen gewaltigen Unterschied macht meiner Meinung aber die menschliche Erfahrung. In Holländisch bezeichnen wir das mit ervaringsdeskundige - aus Erfahrung ein Experte geworden. Ein Begriff, der aus der Sozialpolitik kommt. Man hat also nicht nur Experten, die den Leuten sagen, was für sie gut ist. Man spricht auch mit den Betroffenen. Ich komme ja aus der AIDS-Bewegung. Bei HIV würden wir nicht im Traum daran denken, Forschung zu designen, zu entwickeln oder sogar zu betreiben, ohne Menschen mit HIV einzubeziehen. Das ist eben meine Meinung.

H: Derzeit gibt es weltweit mehr als 9 Millionen Fälle (12,04 Millionen; update Redn. am 9.7.2020 ), und die Pandemie hat Einzug in Lateinamerika gehalten. Wie sehen sie die aktuelle Situation?

P.P.: Ehrlich gesagt sind diese Zahlen zuallererst sicherlich unterschätzt, da es sich ja nur um bestätigte Fälle handelt. Wir sind also wahrscheinlich Zahlen von mehr als 20 Millionen weit näher und erreichen bald eine halbe Million Todesfälle (am 9.7.2020 waren es bereits knapp 550 000 Todesfälle; Anm. Redn.).

Neben HIV, einer stillen Epidemie, an der jedes Jahr immer noch 600.000 Menschen sterben, und der spanischen Grippe ist das Coronavirus sicherlich die größte nicht nur epidemische, sondern auch gesellschaftliche Krise in Friedenszeiten.

Denken wir an Europa, so ist es fast jedem Land gelungen die Ausbreitung des Virus einzudämmen - das sind gute Nachrichten. Die Gesellschaften machen nun kehrt und lockern verschiedene Maßnahmen.

Jetzt müssen wir uns auf eine sogenannte zweite Welle vorbereiten. Ich hoffe, dass es kein Tsunami werden wird, sondern eher in der Art der Ausbrüche, die wir bereits sahen, wie beispielsweise in einer Fleischverarbeitunggsanlage in Deutschland oder im Bereich von Nachtclubs in Korea. Auch in Großbritannien gibt es immer noch Ausbrüche in einigen Pflegeheimen. Ich denke, wir müssen uns jetzt darauf vorbereiten.

Die Wahrheit ist: Wir stehen erst am Anfang dieser Pandemie. Solange es Menschen gibt, die für Infektionen anfällig sind, wird uns das Virus liebend gerne infizieren -  es benötigt unsere Zellen ja zum Überleben.

H: Gibt es Grund zum Optimismus?

P.P.: Die gute Nachricht ist eine bisher beispiellose wissenschaftliche Zusammenarbeit. Es ist schwierig, mit all den neuen Informationen und wissenschaftlichen Erkenntnissen Schritt zu halten, die über etwas herauskommen, das - man glaubt es kaum - erst fünf Monate alt ist.

Manchmal sage ich: "Mein Gott, wie kann ich mit all den Veröffentlichungen Schritt halten?" Andererseits ist es gut damit ein Problem zu haben, da in früheren Epidemien Informationen nicht ausgetauscht wurden. Bisher ebenfalls beispiellos ist, dass Industrie und Länder enorm in die Entwicklung von Impfstoffen, Therapeutika u.a. investieren. Es gibt also einen Silberstreifen.

H: Wenn wir erst am Anfang der Pandemie stehen, wie lange könnte diese dauern?

P.P.: Ich habe meine Kristallkugel nicht mit; es könnte sich aber um mehrere Jahre handeln. Kurz- oder mittelfristig könnte meiner Meinung nach ein Impfstoff einen großen Unterschied machen, obwohl ich meine Zweifel habe, dass es ein 100% wirksamer Impfstoff sein wird. Es wurde versprochen, dass möglicherweise bis Oktober Hunderte Millionen Impfstoffdosen verfügbar sein werden. In der Praxis wird es eher 2021 werden; damit könnte die Epidemie tatsächlich weitgehend unter Kontrolle gebracht werden.

Die geänderte Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, werden wir aber weiterhin beibehalten müssen. Sehen Sie sich zum Beispiel Japan an: dort tragen Menschen seit Generationen Gesichtsmasken, auch wenn sie nur erkältet sind, um andere zu schützen. Wir zählen auf einen Wunderimpfstoff, daneben besteht auch die Notwendigkeit einer breiten Verhaltensänderung.

H: Der von der Europäischen Kommission veranstaltete Spendenmarathon hat Zusagen in Höhe von fast 10 Mrd. EUR mobilisiert, die für Impfstoffe, Behandlungen, Tests und eine Stärkung der Gesundheitssysteme aufgeteilt werden (Abbildung 2). Was sind aus Ihrer Sicht die Prioritäten für die Vergabe dieses Geldes - und reicht das Geld?

P.P.: Das Spendensammeln ist aus zwei Gründen notwendig: um sicherzustellen, dass Geld vorhanden ist und, um einen für alle gleichberechtigten Zugang zu Impfstoffen und anderen Ressourcen zu gewährleisten. Den höchsten Bedarf gibt es in der Entwicklung und Produktion von Impfstoffen.

Enorm wichtig ist jedoch, dass die Mittel nicht nur für Forschung und Entwicklung da sind, sondern auch für die Einsetzung von Mechanismen, damit auch Länder Zugang zu Impfstoffen haben, die diese entweder nicht selbst herstellen oder sehr arm sind.

Insgesamt könnte man sagen, es ist ein Menge Geld, aber es ist nicht genug.

Abbildung 2. "Die Welt wird diese Pandemie erst dann überwinden, wenn Impfstoffe, Tests und die richtige medizinische Versorgung für alle verfügbar und erschwinglich sind, die sie brauchen" (Ursula Van der Leyen; 27.6.2020). Weltweite Coronavirus-Krisenreaktion, eine Geberkampagne der EU, die bisher 9,8 Mrd. € gesammelt hat . (Quelle: https://global-response.europa.eu/system/files/2020-06/CGRS_United_final.pdf)

 

H: Warum nicht?

P.P.: Was auch noch nie da war, ist, dass wir über Milliarden und nicht über Millionen Menschen sprechen, die geimpft werden müssen. So etwas wurde noch nie versucht. Etwa 4 oder 5 Milliarden Menschen werden Zugang zu dem Impfstoff benötigen. Und das bedeutet auch Milliarden von Glasfläschchen, die mit dem Impfstoff befüllt werden müssen - es sind grundlegende Dinge, um die man sich kümmern muss.

Unternehmen und Regierungen müssen das Risiko eingehen in die Produktion einer Vakzine zu investieren, ohne zu wissen, ob diese dann tatsächlich wirksam sein wird. Das ist eine enorme Herausforderung; dass auch öffentliche Gelder benötigt werden, ist darin begründet, dass damit ein öffentliches Gut entstehen wird.

Es gibt dann das Thema „Impfstoff-Nationalismus“. Begonnen hat es damit damit, dass die USA sagten, dass in den USA hergestellte Impfstoffe für Amerikaner bestimmt sind. Wenn jedes Land genau so verfährt, wird die Mehrheit der Menschen auf der Welt ausgeschlossen, da nur sehr wenige Länder Impfstoffe herstellen.

H: Wie stellen wir also sicher, dass niemand zurückgelassen wird?

Das ist eine wichtige Frage. Ich denke, dass das letztendlich ein politisches Problem sein wird. Deshalb betone ich, dass bei der von der Kommission veranstalteten Spendeninitiative der gleichberechtigte Zugang zur Vakzine ein integraler Bestandteil ist. Es geht nicht nur darum, Geld für die Entwicklung eines Impfstoffs zu sammeln. Es geht darum, Geld für die Entwicklung eines Impfstoffs zu sammeln, der für alle verfügbar ist, die ihn brauchen. Dies ist ein ziemlich großer Unterschied.

H: In einem Interview im Mai haben Sie gesagt: wir "lernen während wir segeln" und "ohne Impfstoff kann keine Rückkehr in ein normales Leben erfolgen." Ist dies heute noch Ihre Meinung?

P.P.: Es ist jetzt etwas nuancierter geworden. Nun sage ich, "wir lernen, während wir Rennen fahren", weil das Segeln ziemlich langsam ist. Derzeit fahren alle Rennen. Und ja, ich denke immer noch, dass es ohne Impfstoff extrem schwierig sein wird, zu einer normalen Gesellschaft zurückzukehren.

Es wird viel davon abhängen, ob Impfstoffe vor Übertragung schützen. Anders ausgedrückt: wenn ich geimpft bin, kann ich die Krankheit nicht bekommen, oder - wie im Fall der Influenza - der Impfstoff ist speziell geeignet, um schwere Erkrankung und Mortalität zu verhindern.

Es gibt viele Unbekannte.

Für mich haben Wissenschaft und Ansprechen auf den Impfstoff oberste Priorität, denn ohne diesen bedeutet es, dass wir jahrelang mit dem Virus leben müssen.

H: Gibt es einen Impfstoff-Kandidaten, der sie überzeugt und den Sie herausstellen können?

P.P.: Es gibt deren ein paar. Das Schöne aber ist momentan, dass es sehr unterschiedliche Ansätze zur Herstellung eines Impfstoff gibt. Man nutzt vollkommen neue Ansätze mittels der Messenger- RNAs und dann solche die traditioneller sind. Ich persönlich bin diesbezüglich Agnostiker.

H: Selbst wenn ein Impfstoff verhindern könnte, dass Menschen krank werden, haben Sie erwähnt, dass viele Menschen Langzeitfolgen haben werden. Wie sollen längerfristige Perspektiven gestaltet werden?

Wir sind alle mit der akuten Krise beschäftigt und - obwohl wir jetzt etwas Zeit haben, uns auf Ausbrüche einer zweiten Welle vorzubereiten - brauchen auch eine langfristige Perspektive. Für die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen ist das ganz offensichtlich. Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, nicht nur infolge der Epidemie, sondern auch infolge der Gegenmaßnahmen - isoliert zu sein, Kinder, die nicht zur Schule gehen können u. a. - können soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verschärfen. Epidemien decken oft die Verwerfungslinien in der Gesellschaft auf und verstärken Ungleichheiten. Das geht weit über die biologischen und medizinischen Aspekte hinaus; das ist aber, was wir jetzt planen müssen.


 * Dieses Interview mit Prof. Peter Piot wurde von Annette Ekin geführt und am 26. Juni 2020 in Horizon, the EU Research and Innovation Magazine unter dem Titel Q&A: ‘"We are only at the beginning of the coronavirus pandemic’ – Prof. Peter Piot" publiziert. Der unter einer cc-by-Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt .


Artikel zu COVID-19 im ScienceBlog:


 

inge Wed, 08.07.2020 - 23:53

Der erste Artikel vor neun Jahren im ScienceBlog: Hat die Menschheit bereits den Boden unter den Füßen verloren?

Der erste Artikel vor neun Jahren im ScienceBlog: Hat die Menschheit bereits den Boden unter den Füßen verloren?

Do, 2.07.2020 (ursprünglich 28.6.2011)- 06:00 — Gerhard Glatzel

Icon BiologieGerhard GlatzelVor genau 9 Jahren erfolgte der Start von ScienceBlog.at. Seitdem sind 463 Artikel aus dem gesamten Gebiet der Naturwissenschaften bis hin zur molekularen Medizin und inklusive Mathematik, Informationstechnologie erschienen, die zum überwiegenden Teil von renommierten Experten in den einzelnen Disziplinen stammen. Der Großteil dieser Artikel hat noch nichts an Aktualität eingebüßt. Ein Beispiel ist Artikel Nummer 1, mit dem der Blog gestartet wurde. Darin zeigt der international angesehene Experte für Waldökosysteme emer. Univ. Prof. Gerhard Glatzel auf, dass die Ressource „Boden“, als Grundlage der Biomasseproduktion auf dem Festland ein kritischer Engpass für die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung und deren Versorgung mit pflanzlichen Rohstoffen geworden ist. Aus Anlass des 9 jährigen Bestehens von ScienceBlog.at bringen wir nun nochmals diesen Artikel, der nichts an Brisanz verloren hat.

Sechs, acht oder in wenigen Jahrzehnten vielleicht mehr als neun Milliarden Menschen zu ernähren und mit pflanzlichen Rohstoffen zu versorgen, ist keine einfache Aufgabe. Bisher war es möglich, zumindest in der entwickelten Welt, die wachsende Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen, weil Pflanzenzüchtung, Pflanzenschutz, Düngung und Mechanisierung der Pflanzenproduktion in Großbetrieben eine Vervielfachung der Produktivität je Flächeneinheit Boden ermöglichten. Durch Umwandlung von Wald in Weide- und Ackerland sowie durch Bewässerung von Trockengebieten und Entwässerung von Sumpfland konnten scheinbar unbegrenzte Mengen an Nahrungsmitteln und pflanzlichen Rohstoffen erzeugt werden.

Überschüsse stellten die Agrarpolitik vor die schwierige Aufgabe, die Grundlagen der Agrarproduktion in den ländlichen Räumen der entwickelten Länder trotz extrem niedriger Weltmarktpreise für Agrargüter zu sichern. In vielen Entwicklungsländern hingegen konnte die Agrarproduktion mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt halten, und Hunger, Brennholzmangel sowie dadurch begünstigte Krankheiten sind für fast eine Milliarde Menschen nach wie vor drückende Realität.

Die steigenden Preise von Lebensmitteln und pflanzlichen Rohstoffen wie Baumwolle zeigen, dass die Zeiten agrarischer Überproduktion und Überschüsse vermutlich vorüber sind, und dass wir uns in Zukunft immer mehr anstrengen werden müssen, um genügend pflanzliche Biomasse für Ernährung, Industrie und verstärkt auch für die energetische Nutzung bereitstellen zu können. Man kann natürlich einwenden, dass einiges an der Verknappung auf Spekulation oder Agrarpolitik zurückgeführt werden kann.

Es fällt aber auch auf, dass in der Diskussion um Energie aus Biomasse immer mehr die Energiesicherheit im Vordergrund steht und nicht mehr der Klimaschutz, der oft als Feigenblatt dafür diente, dem ländlichen Raum zusätzliche, aus öffentlichen Mitteln geförderte Einkommensmöglichkeiten zu erschließen. Besonders nach dem Nuklearreaktorunfall von Fukushima und der Abschaltung von Atomkraftwerken in Deutschland wird der Anbau von Energiepflanzen energisch gefordert und gefördert, auch wenn dessen Wirksamkeit hinsichtlich des Klimaschutzes oft umstritten ist und negative ökologischen Folgen in Kauf genommen werden müssen.

Die alles entscheidende Frage für eine Zukunft ohne Hunger und Rohstoffmangel ist, ob mit den klassischen Ansätzen der „grünen Revolution“ der stetig steigende Bedarf an Biomasse beherrschbar sein wird. Die massiven Investitionen in Agrarland seitens der internationalen Agrarindustrie und anderer Investoren („Land Grabbing“) zeigen, dass der Verfügbarkeit von Boden eine Schlüsselrolle eingeräumt wird. Daher soll im Folgenden über Boden als knappe Ressource diskutiert werden.

Die FAO (Food and Agricultural Organisation) der Vereinten Nationen veröffentlicht regelmäßig globale und regionale Übersichten über die Landnutzung und deren Veränderung (http://www.fao.org/landandwater/agll/landuse/). Die Daten zeigen, dass laufend landwirtschaftlich genutzter Boden durch Erosion, Versalzung, Wüstenbildung, Inanspruchnahme für Siedlungen sowie industrielle und Verkehrsinfrastruktur verloren geht, dass aber auch nach wie vor neues Land für die agrarische Produktion erschlossen wird.

Erschließung neuer Nutzflächen durch Rodung von Waldboden

Gobal nutzbare AckerbauflächenAbbildung 1. Gobal nutzbare Ackerbauflächen.

Anhand einer groben Übersicht über die globale Bodennutzung (Abbildung „Soil limits agriculture“) kann man die Möglichkeiten und Grenzen der Urbarmachung des bisher nicht für den Ackerbau genutzten Landes aufzeigen. Nur ein sehr kleiner Teil der Böden der Erde, nämlich gerade einmal 11 Prozent, sind ohne Einschränkungen für acker-bauliche Pflanzenproduktion, also für den Anbau von Getreide, Kartoffeln, Gemüse oder Faserpflanzen nutzbar.

Ursprünglich war ein Teil dieses Landes Steppe, ein erheblicher Teil aber auch Wald auf tiefgründigen Böden, welche nach der Rodung fruchtbares Ackerland ergaben. Die Rodung von Wald zur Gewinnung von Acker- und Weideland hat in allerjüngster Zeit einen neuen Höhepunkt erreicht. In Brasilien hat die Waldrodung im März und April 2011 gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres um 473 Prozent zugenommen (The Economist, Sunday, June 5th, 2011). Brasilien hat im Mai dieses Jahres weitere Rodungen im Regenwald des Amazonas legalisiert. Die negativen Auswirkungen auf die Biodiversität und das Weltklima sind unbestritten, werden aber aus ökonomischen und politischen Gründen in Kauf genommen.

Die Satellitenbilder, die man sich in Google Earth ansehen kann, zeigen aber auch eine neue Dimension der Landnutzung nach der Rodung des Regenwaldes. Während man rechts im Bild die traditionelle Umwandlung in Weideland erkennen kann, die legal und illegal von Kleinbauern durch Brandrodung betrieben wird (achten Sie auf die gut erkennbaren Rauchfahnen), finden sich links die ausgedehnten Betriebe der Großgrundbesitzer und der Agrarindustrie. Umwandlung des Regenwalds im Amazonasgebiet in Weideland und AgrarlandAbbildung 2. Umwandlung des Regenwalds im Amazonasgebiet in Weideland und Agrarland.

Der immer weiter wachsende Markt für Rindfleisch, für den die OPIC (International Meat Organisation) bis 2050 eine Verdoppelung vorhersagt (Merco Press, September 28, 2010), führt zu diesem Boom. Da die Produktion von qualitativ hochwertigem Rindfleisch eine Mästung mit Kraftfutter voraussetzt, werden auf den besseren Böden zunehmend Getreide sowie Hülsen- und Ölfrüchte angebaut.

In Südostasien wurden riesige Regenwaldflächen in Ölpalmenplantagen umgewandelt. Zunächst hat man das naiven Europäern als Beitrag zum Klimaschutz verkauft, in der Zwischenzeit ist der Schwindel längst aufgeflogen, aber die Plantagen werden weiter ausgebaut, weil sich der Markt für Pflanzenöl günstig entwickelt hat.

Eine in der Öffentlichkeit weniger beachtete Umwandlung ist die Rodung von Naturwald für Holzplantagen. Im Urwald sterben die Bäume eines natürlichen Todes und ihr Holz ist oft morsch und von minderer Qualität. In Plantagen werden die Bäume, lange bevor sie altersschwach werden, geerntet. Durch Mechanisierung und Verwendung besonders wüchsiger Zuchtsorten, kann die Produktivität sehr wesentlich gesteigert werden. Auf der Strecke bleibt die Biodiversität, weil nur einige wenige Baumarten, wie Eukalyptus-, Akazien- oder Kiefernarten verwendet werden. Auch auf diesem Sektor hat massiv steigende Nachfrage an Holz für die Papier- und Zellstoffindustrie, insbesondere aus China und Indien, zu stark steigenden Investitionen in Forstplantagen geführt. Die WBCSD (World Business Council for Sustainable Development) sagt bis 2050 weltweit eine Verdreifachung der Holzplantagenflächen voraus. (http://www.internationalforestindustries.com/2011/05/23/fierce-competition-over-worlds-wood-supply/).

In Mitteleuropa haben sich Forstbetriebe nach der durch die Industrialisierung ausgelösten Energiekrise des 19. Jahrhunderts und der Ablöse des Holzes durch Kohle, Erdöl und Erdgas als thermische Energieträger zu Veredelungsbetrieben entwickelt, die darauf spezialisiert sind, den Zuwachs an Holzbiomasse in möglichst wertvolle Holzsortimente umzuwandeln. Ob unsere hochentwickelte, naturnahe Forstwirtschaft langfristig dem Trend zu vollmechanisierten Plantagen raschwüchsiger Baumarten widerstehen kann, wird sich zeigen. Massive Subvention von Energieholz nach Fukushima könnte den Trend verstärken, denn Forstbetriebe sind letztendlich auch nur Wirtschaftsbetriebe, die am Ende Ausgaben für die Waldbewirtschaftung mit den Erlösen vergleichen. Natürlich wird die Nachhaltigkeit der forstlichen Produktion weiterhin beachtet werden, aber negative Auswirkungen auf die Biodiversität, den Erholungswert und den Wasserhaushalt wird man wohl in Kauf nehmen müssen.

Erschließung anderer Böden durch Trockenlegung oder Bewässerung

Wie steht es um Möglichkeiten, andere als Waldböden für die Befriedigung des Hungers nach Biomasse der weiter wachsenden und anspruchsvoller werdenden Weltbevölkerung zu erschließen? Sieht man von den Permafrostböden und den Böden mit schwer änderbaren chemischen Problemen ab, sind die größten Tortenstücke im FAO-Kuchen die zu trockenen Böden (28%), die zu seichten Böden (22%) und die zu nassen Böden (10%).

In Mitteleuropa war die Entwässerung von Mooren ein probates Mittel, um der Landwirtschaft bislang nicht genutztes Land zu erschließen. Das Oderbruch, unter dem preußischen König Friedrich II. im 16. Jahrhundert entwässert und urbar gemacht, ist ein klassisches Beispiel für erfolgreiche technische Maßnahmen zur Erschließung von Neuland für die wachsende Bevölkerung mit militärisch strategischer Perspektive. Die Trockenlegung von Feuchtgebieten wurde in Mitteleuropa bis nach dem Zweiten Weltkrieg gefördert.

Heute weiß man, dass dabei riesige Mengen an CO2 freigesetzt wurden, der Landschaftswasserhaushalt oft massiv verschlechtert und die Biodiversität sowie der Erholungswert extrem geschmälert wurden. Daher erfolgte in den letzten Jahrzehnten oft ein Rückbau der Drainagen, und nicht zuletzt aus Klimaschutzgründen ist die Trockenlegung von Sümpfen zur Zeit kein Thema und wird auch in Entwicklungsländern international kaum gefördert.

Ganz anders sieht es hinsichtlich der trockenen Böden aus. Weltweit werden Bewässerungsprojekte gefördert und es gibt eine starke Zunahme der bewässerten Agrarflächen. Die FAO berichtet, dass während der vergangenen vier Jahrzehnte die künstliche Bewässerung den wesentlichsten Beitrag zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion leistete. Gegenwärtig werden 30 bis 40 Prozent der global konsumierten Nahrungsmittel auf bewässertem Land erzeugt. Während der vergangenen 50 Jahre hat sich die Fläche an Agrarland, das bewässert wird, verdoppelt (http://www.paristechreview.com/2011/03/03/hungry-land-potential-availability-arable-land-alternative-uses-impact-climate-change/). Bodenbewässerung mit Wasser aus Gletscherregionen in NeuseelandAbbildung 3. Bodenbewässerung mit Wasser aus Gletscherregionen in Neuseeland.

Ein neuerer Trend ist die Bewässerung von Weideland, wie sie beispielsweise in Neuseeland (Google Bild) betrieben wird. Mit Wasser aus Gletscherregionen kann sommerliche Trockenheit überbrückt werden, und für den Ackerbau zu seichtgründige Böden können bewässert und als Weideland genutzt werden. Tiefgründigere Böden im selben Bewässerungssystem können für den Anbau von Mastfutter genutzt werden.

Ein kritisches Problem wird in Zukunft der Rückgang der Gletscher im Gefolge der globalen Erwärmung sein. Bestehende Probleme sind die Verminderung der sommerlichen Wasserführung der Flüsse und die Grundwasserverschmutzung durch Düngemittel und Agrarchemikalien.

Besonders bedenklich ist die nicht nachhaltige Nutzung von Grundwasser für die Bewässerung von Ackerland. In vielen Gegenden der Welt, insbesondere in Nordafrika, in Indien und in Arabien wird Grundwasser aus dem Boden gepumpt, das durch Niederschläge nicht oder nicht hinreichend ergänzt wird. Wasser ist unter diesen Bedingungen genauso erschöpflich wie Erdöl. Bevölkerungswachstum, das sich auf begrenzte und zu Ende gehende Grundwasserreserven stützt, verschiebt derzeit unlösbare Probleme in die Zukunft und verstärkt sie. Defizite in der Grundwasserneubildung sind aber auch in Teilen Europas ein Problem und müssen in der Diskussion über die Steigerung der Biomasseproduktion zur Absicherung der Energieversorgung berücksichtigt werden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Ressource „Boden“, als Grundlage der Biomasseproduktion auf dem Festland ein kritischer Engpass für die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung und deren Versorgung mit pflanzlichen Rohstoffen geworden ist. Wir sind tatsächlich dabei, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Über Biomasse aus der Retorte oder aus den Meeren nachzudenken ist geboten, auch wenn sich befriedigende Lösungen noch nicht klar abzeichnen.


Weitere Artikel von Gerhard Glatzel im ScienceBlog


 

inge Wed, 01.07.2020 - 19:13

Auf die Haut geschmiert - wie gelangt Voltaren ins schmerzende Gelenk?

Auf die Haut geschmiert - wie gelangt Voltaren ins schmerzende Gelenk?

Sa, 27.06.2020 Inge Schuster Inge SchusterIcon Medizin

Arthrosen sind weltweit die häufigsten Gelenkserkrankungen und betreffen etwa zwei Drittel der über 65-Jährigen. Zur Schmerzlinderung werden vielfach Substanzen aus der Klasse der "Nicht-steroidalen anti-entzündlichen Wirkstoffe" (NSAID) - und hier insbesondere Voltaren (Diclofenac) - verwendet. Da dieses in oraler Form eine Reihe von ernsten Nebenwirkungen auslösen kann, wird es nun in rezeptfreien Salben und Gele genutzt unter der Vorstellung, dass der Wirkstoff von der Haut direkt in das darunterliegende Gelenk gelangt ohne den restlichen Organismus zu belasten. Wie eine Reihe von Studien zeigt, dürfte dies allerdings nicht der Fall sein.

"Toooniiii... Ja?! Spazieren Gehen?" Den TV-Werbespots für Voltaren (Diclofenac) enthaltende Salben, Gele, Pflaster, die man auf die Haut über schmerzenden Gelenken aufträgt und im Nu Beschwerdefreiheit erreicht, kann man nicht entgehen. War es vor kurzem ein Kater, der über die -dank des Schmerzgels - neu erlangte Beweglichkeit seines Frauchens sinnierte, die nun mit Enkeln Fußball spielte und abends auf wilden Partys tanzte, so beschwert sich aktuell nun der Hund Toni (in Deutschland Bruno), dass er von der Couch aufgescheucht wird, um mit dem Frauchen spazieren zu gehen - um dem Tatendrang seines Frauchens zu entgehen, vergräbt er das Schmerzmittel im Garten. (https://www.voltadol.at/Services/Werbung-2019 ).

Werbewirksam werden also Hunde, Katzen und - als Hauptabnehmer - jugendlich wirkende Omas ins Spiel gebracht, um den bereits jetzt enormen Verbrauch von Voltaren in der auf die Haut aufzutragenden Form, d.i. in topischer Form, noch weiter zu erhöhen. Im Bereich topische Schmerzlinderung ist Voltaren ja bereits zur Nummer 1 geworden. Ein Überblick aus dem Jahr 2012 nennt für Deutschland allein einen Verbrauch von knapp 15 Millionen Packungen Voltaren enthaltenden Salben, entsprechend einem Gehalt von mehr als 50 Tonnen des Wirkstoffs.

Der Wirkstoff wurde in den 1960er Jahren von dem Schweizer Pharmaunternehmen CIBA-Geigy entwickelt, unter dem Namen Diclofenac (Abbildung 1) patentiert und ab der Mitte der 1970er Jahre als Schmerzmittel zur Behandlung rheumatischer Beschwerden zugelassen - vorerst in Tablettenform für die orale Anwendung. Rund ein Jahrzehnt später kam das (noch rezeptpflichtige) Voltaren enthaltende Emulgel für die topische Anwendung auf den Markt; als Indikationen waren nun u.a. auch Zerrungen und Prellungen angegeben. Rezeptfreie Salben und Gele zur Selbstanwendung gibt es seit 1999, diese enthalten eine niedrige Konzentration des Wirkstoffs (25 mg pro g Salbe oder Gel).

Aktuellen Schätzungen für 2020 zufolge liegt Deutschland mit einem geschätzten Umsatz von 518 Mio € an 8. Stelle des globalen Marktvolumens für Schmerzmittel (4,68 Mrd €) und - mehr als für andere Schmerzmittel - präferieren 20 % der Befragten Voltaren. In Österreich wird das Schmerzmittelsegment auf 111 Mio € geschätzt. Die Tendenz ist in beiden Ländern steigend. (https://de.statista.com/outlook/18010000/137/schmerzmittel/).

Wie wirkt Voltaren (Diclofenac)?

Diclofenac (Abbildung 1) gehört zur Gruppe der sogenannten NSAIDs (non-steroidal anti-inflammatory drugs) - nicht-steroidalen anti-entzündlichen Wirkstoffe- , d.h. zu Entzündungshemmern, die nicht in die Substanzklasse der Corticoide oder deren Analoga fallen. Diclofenac ist ein kleines, synthetisches Molekül (Molekulargewicht: 296 D); es ist lipophil, löst sich in organischen Lösungsmitteln rund 35 000 mal besser als in Wasser. Seine entzündungs- , schmerz- und fiebersenkende Wirkung beruht auf der Hemmung von zwei nahe verwandten Enzymen, der Cyclooxygenase 1 (COX-1), die in vielen Gewebetypen vorkommt und der Cyclooxygenase 2 (COX-2), die durch Entzündungsstimuli vor allem auch in Gelenkkapseln vermehrt gebildet wird. Es sind dies Enzyme, welche die in Lipiden vorhandene Arachidonsäure in ein Prostglandin (PGH2) umwandeln, als ersten Schritt in einer Kaskade von Prostaglandinen - Signalmolekülen, die eine Vielzahl biologischer Vorgängen steuern, u.a. in Schmerz- und Entzündungsreaktionen involviert sind, in die Blutgerinnung, die Regulation des Blutdrucks und in Kontraktions- und Sekretionsprozesse de Verdauungstrakts. Unterschiedliche Prostaglandine können dabei gegenläufige Wirkungen zeigen: gefäßerweiternd oder gefäßkontrahierend wirken, Blutdruck senkend oder erhöhend. Abbildung 1.

Abbildung 1. Aus Arachidonsäure entstehen Hunderte bioaktive Signalmoleküle: vereinfachtes Schema. Via Cyclooxygenasen entstehen Prostaglandine, über den Lipoxygenaseweg Leukotriene und über verschiedene Cytochrome P450  Hydroxyeicosatetraensäuren (HETEs) und Epoxyeicosatriensäuren (EETs). Über die Wirkungen vieler dieser Signalmoleküle wissen wir noch zu wenig.

Diclofenac blockiert beide Typen der Cyclooxygenasen und wirkt damit auf Entzündungsgeschehen und Schmerz; es unterdrückt aber auch positive Effekte einiger Prostaglandine, wie z.B. die gefäßerweiternde Wirkung von Prostacyclin oder den magenschützenden Effekt von Prostglandin E2. Ein wichtiger weiterer Effekt, den die Inhibierung des COX-Weges mit sich bringt, ist dass nun mehr Arachidonsäure für die anderen Metabolismuswege zur Verfügung steht, vermehrt Leukotriene, HETSs und EETs entstehen können und nun u.a. ebenfalls in Entzündungsprozesse und Allergien involviert sein können.

Dass die Anwendung von Diclofenac unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringen kann, ist also nicht verwunderlich. Orale Einnahme führt zu einer breiten Verteilung im Organismus und zu relativ hohen, transienten Konzentrationen vor allem in Leber, Niere und Verdauungstrakt. Insbesondere über längere Zeit angewandt, sind Nebenwirkungen auf den Magen-Darm-Trakt (von Verdauungsbeschwerden bis hin zu Blutungen, peptischen Ulcera und Perforationen) in signifikantem Ausmaß aufgetreten und ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle, Nierenprobleme und allergische Reaktionen wurde festgestellt.

Von der oralen zur topischen Anwendung

Diclofenac hat ein sehr weites Anwendungsspektrum von Fieber bis hin zu Kopfschmerzen, den bei weitem überwiegenden Anteil machen aber Gelenkschmerzen infolge von rheumatoider Arthritis, Arthrosen, Zerrungen und Prellungen aus. Von der rheumatoiden Arthritis (ein Autoimmundefekt?) sind quer über alle Altersstufen bis zu 1 % der Bevölkerung betroffen, von Arthrose (degenerativem Gelenkabbau) etwa zwei Drittel der über 65 Jahre alten Bevölkerung.

Muss die Behandlung dieser häufigsten Erkrankungen mittels oral verabreichtem Voltaren erfolgen, das über den ganzen Organismus bis hin zum schmerzenden Gelenk verteilt wird und zahlreiche Organe beeinträchtigt? Oder kann man dieselbe therapeutische Wirkung erzielen, wenn man den Wirkstoff topisch, d.i. auf die Haut direkt über der schmerzenden Stelle aufträgt, ohne damit den gesamten Organismus mit der Substanz überfluten zu müssen?

Wie bereits erwähnt wurden schon früh Cremen, Salben und Gele entwickelt, die eine solche Wirkung versprechen und bis heute massenhaft vertrieben werden.

Wie gelangt Voltaren von der Haut ins Gelenk?

Vorweg einige grundlegenden Fakten zur Permeation durch die Haut (In Abbildung 2 schematisch dargestellt). Diese bildet ja eine überaus effiziente Barriere zur Umwelt und verhindert weitestgehend, dass schädliche oder auch unschädliche Substanzen, die auf ihre Oberfläche treffen, in den Organismus eindringen.

Abbildung 2. Die Haut bildet eine effiziente Barriere gegen das Eindringen von Fremdstoffen: Nur etwa 9 % de aufgetragenen Diclofenac (orange) gelangen in den Organismus. Für tiefe Schichten der dicken Subcutis und der noch darunter liegenden Faszien, Sehnen und Knochen bleibt wohl kaum etwas übrig. (Bild aus Moriz Kaposi: Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten in Vorlesungen für praktische Ärzte und Studierende“ (5. Auflage (1899), Urban & Schwarzenberg, Wien).

Die hauptsächliche Barriere ist dabei die oberste Hautschichte, das aus abgestorbenen, in eine Lipidmatrix eingebetteten Hautzellen (Keratinozyten) bestehende Stratum corneum. Durch diese Schichte können nur einige wenige % eines auf die Haut aufgetragenen Wirkstoffs permeieren und in die darunter liegenden Schichten der sogenannten Epidermis, die im Mittel insgesamt 150 µm dick ist, eindringen. Die aus zahlreichen Schichten von Keratinozyten bestehende Epidermis reduziert das weitere Vordringen in die Dermis.

Was in der Dermis ankommt und durch diese permeiert, wird bereits im oberen Teil und vor allem im unteren Teil von Blutkapillaren und Lymphgefäßen aufgenommen und in den systemischen Blutkreislauf transportiert, sodass kaum mehr Substanz übrigbleibt um in die Subcutis zu gelangen. Diese aus lockerem Bindegewebe und Fettgewebe bestehende Schichte kann bis 3 cm (und auch mehr) dick sein und wird von Blutgefäßen durchzogen (Substanzen, welche sich bis dorthin verirrt haben sollten, werden in diesen in den systemischen Kreislauf geführt). Für tiefe Schichten der dicken Subcutis und für die noch darunter liegenden Faszien, Sehnen und Knochen bleibt wohl kaum etwas übrig.

Um aber bis in ein Gelenk und in die entzündete Gelenkskapsel zu gelangen und dort das Targetenzym Cyclooxygenase zu blockieren, ist noch ein sehr, sehr weiter Weg. Abbildung 3 zeigt dies für das Kniegelenk (in der TV-Werbung das erklärte Ziel für topisches Voltaren). Von der mehr oder weniger dicken Subcutis weg müsste der Wirkstoff ja noch durch Faszien, Sehnen, Muskelstränge diffundieren bis er - und das in ausreichender Konzentration, um das Enzym zu blockieren - am Zielort im Gelenk oder am Gelenk ankommt.

Abbildung 3. Mit Voltaren wird sehr häufig die Haut über einem schmerzenden Kniegelenk eingerieben. Kann der Wirkstoff dort überhaupt hingelangen? Links: Aufbau des Kniegelenks. Die rosa Kontur würde der Hautbarriere - Epidermis, Dermis - entsprechen (Bild aus: https://openstax.org/details/books/anatomy-and-physiology, open access). Rechts: Magnetresonanztomographie eines rechten Kniegelenks (Wikipedia, Knie mr.jp; cc-by-sa 3.0)

Eine Reihe von Studien hat dieses Problem untersucht. Kann Diclofenac direkt von der Haut ins Gelenk permeieren oder ist es vielmehr die aus der Haut in die systemische Zirkulation geleitete Substanz, die über die Zirkulation dorthin verteilt wird? Zwei meiner Meinung nach sehr gründlich ausgeführte Versuche geben eine eindeutige Antwort:

In einer der Studien wurden sogenannte Mikrodialyse Kapseln in die Subcutis von Versuchspersonen eingebracht und untersucht wieviel von dem topisch aufgetragenen Voltaren in diese Kapseln diffundierte [1]. Das Ergebnis: praktisch nichts war detektierbar, d.i. kein Wirkstoff war bis in die Subcutis vorgedrungen.

In einer anderen in-vivo-Studie an Patienten vor einer Knieoperation wurde mehrere Tage lang vor dem Eingriff Voltaren auf das kranke Knie aufgetragen und Placebo auf das andere Knie [2]. Bei der Operation wurde dann Gelenksflüssigkeit (Synovialflüssigkeit) aus beiden Knien entnommen. Es konnte gezeigt werden, dass die lokale Diclofenac Konzentration in der Synovialflüssigkeit des Voltaren-behandelten Knies gleich hoch war, wie die des Placebo-behandelten Knies, das die Substanz ja nur aus dem Blutkreislauf hatte erhalten können. Das Ergebnis: topisch aufgetragenes Voltaren gelangt nicht direkt in darunterliegende Gelenke, sondern über die systemische Zirkulation.

Wie wirksam ist nun topisches Diclofenac?

Auch, wenn der Wirkstoff von der Haut nicht direkt an die schmerzende Stelle gelangen dürfte, so kann er doch aus dem Blutkreislauf dorthin verteilt werden und bei länger dauernder Anwendung ausreichende therapeutische wirksame Spiegel erreichen.

Wie sieht nun die Evidenz für eine derartige Wirksamkeit aus? Der letzte Cochrane-Review über "Topische nichtsteroidale entzündungshemmende Medikamente bei chronischen muskuloskelettalen Schmerzen bei Erwachsenen" kommt zu einer ernüchternden Erkenntnis [3]:

"Diclofenac und Ketoprofen waren die einzigen beiden Wirkstoffe, die in hochwertigen und langfristigen Studien untersucht wurden, überwiegend an Patienten über 40 Jahren mit schmerzhafter Kniearthrose. Verglichen wurde topisches Diclofenac oder Ketoprofen in Form einer Lösung oder eines Gels mit der Lösung oder dem Gel ohne Wirkstoff (topisches Placebo). Bei Diclofenac und Ketoprofen kam es bei etwa 6 von 10 Teilnehmern mit Arthrose zu stark verringerten Schmerzen nach 6 bis 12 Wochen im Vergleich zu 5 von 10 Teilnehmern, die ein topisches Placebo erhielten (Evidenz von moderater Qualität)."

Das Placebo ist also fast so gut wie Diclofenac.


[1] B.Falk Riecke et al., A microdialysis study of topically applied diclofenac to healthy humans: Passive versus iontophoretic delivery. Results in Pharma Sciences 1 (2011) 76–79

[2] J. Radermacher et al., Diclofenac concentrations in synovial fluid and plasma after cutaneous application in inflammatory and degenerative joint disease. Br. J. clin. Pharmac. (1991), 31, 537-541

[3] https://www.cochrane.org/de/CD007400/SYMPT_topische-nichtsteroidale-entzundungshemmende-medikamente-nsaids-bei-chronischen-muskuloskelettalen


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inge Fri, 26.06.2020 - 23:53

Comments

G. Bosch (not verified)

Thu, 08.12.2022 - 19:30

Wie kann es eigentlich sein, dass solche Produkte verkauft werden dürfen?
Wenn jemand Butter mit dem Aufdruck 500gr verkauft, welche aber signifikant weniger wiegt, kriegt er rechtliche Probleme.
Einfluß? Lobbying? Aufwändiger Nachweis?

Von der Eizelle zur komplexen Struktur des Gehirns

Von der Eizelle zur komplexen Struktur des Gehirns

Do, 11.06.2020 — Nora Schultz

Nora SchultzIcon Gehirn

Aus einer einzigen befruchteten Eizelle wächst eine der komplexesten Strukturen überhaupt – das menschliche Gehirn. Dafür braucht es viel Faltkunst und etliche Schicksalsschritte. Die Entwicklungsbiologin Nora Schultz gibt einen Überblick über die Entstehung der Nervenzellen aus dem Ektoderm des Embryos und wie diese zu ihren Bestimmungsorten im Gehirn wandern, dort ihre endgültige Gestalt annehmen und sich mit anderen Nervenzellen vernetzen.*

Am Anfang ist das befruchtete Ei. Fast jeder hat schon Fotos gesehen, in denen es rund und gleichförmig im Bild ruht wie ein riesiger Mond. Kaum vorstellbar, dass dieses fade Gebilde alle Informationen enthält für einen schicksalhaften Tanz, der so komplex ist, dass es auch mit den gesammelten Anstrengungen der Biologie bis heute nicht gelungen ist, seine Choreografie vollständig zu entschlüsseln. Die Kür des Opus: die Bildung des Gehirns . Was sich hier filigran ineinander faltet und Netze aus Billionen von Synapsen knüpft, lässt Origami-Experten und Spitzenklöpplerinnen gleichermaßen vor Neid erblassen.

Doch zurück zum Start: Die Gleichförmigkeit des Eis verliert sich schon im Laufe der ersten Zellteilungen. Anfangs kaum messbare Unterschiede in der Verteilung von Botenstoffen, die zufällig oder durch die Binnenarchitektur im Zellinnern entstehen, verstärken sich nach und nach, begünstigt durch äußere Reize, wo Zellen sich etwa gegenseitig berühren. Bald begeben sich die Zellen des Embryos auf verschiedene Pfade. Nur ein kleiner Teil von ihnen wird zum Baby; aus dem Rest bilden sich Teile der Plazenta sowie die Eihäute der Fruchtblase.

Die wichtigste Zeit im Leben

Die Zellen des eigentlichen Embryos organisieren sich anfangs in zwei Schichten – bis dann einige Zellen aus der äußeren Schicht in die Mitte wandern. Mit diesem ersten großen Faltprozess, Gastrulation genannt, entstehen die drei Keimblätter, das Ektoderm, Mesoderm und Endoderm. Gemeinsam bilden sie das Ausgangsmaterial für die gesamte spätere Organentwicklung. „Weder Geburt, Hochzeit noch Tod, sondern die Gastrulation ist die wahrhaft wichtigste Zeit in Deinem Leben“, sagte der Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert dereinst.

Das Nervensystem entsteht aus Zellen des Ektoderms. Und auch dieser Vorgang, die so genannte Neurulation, beginnt mit Faltkunst: In der anfangs noch gleichmäßigen Schicht säulenförmiger Zellen entsteht in der Mitte eine Rille, die sich bald zu einem Graben mit erhobenen Rändern vertieft. Die Ränder bewegen sich aufeinander zu, bis sie sich in der Mitte treffen und verschmelzen – das Neuralrohr ist entstanden, der Vorläufer von Gehirn und Rückenmark. In seinem vorderen Bereich bilden sich bald drei Ausstülpungen, die Hirnbläschen. Sie werden später zum Vorder-, Mittel- und Hinterhirn. Auch im Querschnitt des Neuralrohrs stehen die Zeichen auf Veränderung. Als Antwort auf Signalstoffe, die von oben nach unten unterschiedlich verteilt sind, starten in den Zellen entlang der Rücken-Bauch-Achse verschiedene Genprogramme. Ganz unten produziert die Bodenplatte gemeinsam mit noch tiefer liegenden Zellen des Mesoderms zum Beispiel das nach einem Videospielcharakter benannte Molekül Sonic Hedgehog. Seine Konzentration bestimmt in einem komplexen Wechselspiel mit anderen Molekülen das Schicksal der Zellen im Neuralrohr.

Videospielcharakter mit formender Rolle

Je weiter die Zellen von der Bodenplatte entfernt sind, desto weniger Sonic Hedgehog kommt bei ihnen an, und sie entwickeln sich entsprechend unterschiedlich. Die der Bodenplatte am nächsten gelegenen Zellen werden etwa auf der Höhe des sich entwickelnden Rückenmarks zu Interneuronen, die als Schaltelemente zwischen zwei oder mehr Nervenzellen dienen. Es folgen Motorneurone, die sich zu den Muskeln erstrecken und deren Bewegungen kontrollieren; und danach drei weitere Schichten unterschiedlicher Interneurone. Im oberen Teil des Neuralrohrs orchestrieren andere Signalmoleküle, die von Zellen der Dachplatte ausgeschieden werden, ebenfalls eine Feinaufteilung. Sie führt zur Bildung verschiedener sensibler Neuronen. Die Grundstruktur des späteren Rückenmarks ist somit schon erkennbar, lange bevor sich die ersten Neuronen differenzieren. Im werdenden Gehirn läuft diese Musterbildung ebenfalls ab. Sie gestaltet sich allerdings aufgrund der Abknickungen, Ausstülpungen und Einbuchtungen in den verschiedenen Gehirnregionen komplizierter und variabler.

Die Geburt und Reifung junger Nervenzellen folgen ungeachtet solcher regionalen Unterschiede überall einer ähnlichen Dramaturgie in drei Akten: Zuerst kommt die Zellvermehrung. Wenn das Neuralrohr ab der dritten Entwicklungswoche entsteht, ist der Embryo erst wenige Millimeter groß. Das reicht nicht für viel Hirn. In den folgenden Wochen läuft die Produktion von Nervenvorläuferzellen daher heiß. Aktuellen Schätzungen zufolge entstehen zur Hochzeit der Neurogenese im Neuroektoderm ungefähr 4,6 Millionen Zellen pro Stunde. Ab der fünften Entwicklungswoche verwandeln sich die Neuroepithelzellen im Neuralrohr nach und nach in radiale Gliazellen.

Vom Helferlein zur Quelle neuer Neuronen

Noch bis zur Jahrtausendwende galten radiale Gliazellen lediglich als Helferlein, deren kabelartige Fortsätze junge Neurone zu ihren Bestimmungsorten geleiten. Doch inzwischen wissen wir, dass radiale Gliazellen im werdenden Gehirn als Stammzellen funktionieren. Das heißt, die meisten Neuronen stammen direkt oder indirekt von ihnen ab. Das wollte lange kaum jemand glauben. „Das schwierigste an so einem unkonventionellen Befund ist nicht die Datensammlung, sondern das Aufbrechen eines etablierten Dogmas“, schreibt die Münchner Neurobiologin Magdalena Götz, die mit an der Entdeckung der neurogenen Funktion der radialen Gliazellen beteiligt war.

Radiale Gliazellen teilen sich an der Innenwand des Neuralrohrs. Eine der Töchter bleibt radiale Gliazelle. Die andere entwickelt sich entweder direkt zu einem Neuron oder zu einem anderen Vorläuferzelltyp, aus dem erst später Neurone entstehen. Radiale Gliazellen können sich aber auch direkt symmetrisch in zwei Neurone oder Vorläuferzellen teilen – oder sie reifen zu anderen Gliazelltypen weiter. Welchen Pfad Vorläuferzellen einschlagen, hängt von der Region im Nervensystem und dem Entwicklungsstadium ab, sowie von den damit jeweils verbundenen Signalcocktails. Die Reifung zu Gliazellen etwa passiert vor allem später in der Entwicklung, wenn die Neurogenese weitgehend abgeschlossen ist. Und manche Neuronen, etwa im Rückenmark, entstehen direkt aus Neuroepithelzellen, ohne das Zwischenstadium der radialen Gliazelle zu durchlaufen.

Jungneuronen auf Wanderschaft

Einmal geborene Neurone teilen sich nicht mehr. Sie haben aber häufig noch einen weiten Weg vor sich, bis sie ihren Bestimmungsort erreichen und ihre ausgewachsene Gestalt und Funktion annehmen. Und so beginnt der zweite Akt der Reifung. Aus ihrer Geburtsstätte tief im Zentrum des Gehirns, nahe den Ventrikeln – dort wo einst die Innenwand des Neuralrohrs lag – wandern die neuen Neuronen hinaus in die weite Welt des wachsenden Gehirns. Dabei hangeln sie sich häufig entlang der langen Fortsätze ihrer benachbarten radialen Gliazellen. Die ersten Neuronen haben den kürzesten Weg, da ihre Zellkörper die inneren Hirnschichten bilden. Die Nesthäkchen hingegen müssen weiter wandern. Sie ziehen an ihren früher geborenen Geschwistern vorbei in immer weiter außen liegende Regionen des Gehirns. Etliche Zellen haben zudem noch weitere Strecken zu bewältigen, um zu ihrem Ziel zu gelangen, nach vorne, hinten, links oder rechts. Als Wegweiser dienen den jungen Pfadfindern dabei Signalmoleküle – ausgeschieden von bereits etablierten Nerven- und Gliazellen oder auch von anderen Geweben.

Rein optisch haben frische Neuronen zunächst nur wenig mit ihren reifen Geschwistern gemein. Sie ähneln eher Teletubbies oder Minions: Anstelle eines Axons haben sie mehrere kürzere Fortsätze, Neurite genannt, von denen sich einer schließlich zum Axon entwickelt, während andere zu Dendriten reifen oder wieder eingezogen werden. In ihrem Innern sind die jungen Nervenzellen allerdings schon viel spezialisierter, als ihr unreifes Äußeres es vermuten lässt. „Das Schicksal des Neurons – zu welchem genauen Zelltyp es einmal wird – steht bald nach seinem Austritt aus dem Zellzyklus fest“, sagt Leanne Godinho von der Technischen Universität München, die die Reifung von Nervenzellen im Zebrafisch studiert. „Die Zellen wandern also keinesfalls naiv los und legen erst auf dem Weg oder nach der Ankunft ihre Identität fest.“ Stattdessen empfangen die Zellen einen Großteil der identitätsstiftenden Signale schon im Neuralrohr, wenn die Verteilung von Signalmolekülen wie Sonic Hedgehog mit breiten Pinselstrichen grundlegende Schicksalsmuster skizziert. Diese Voreinstellungen fixieren zwar noch nicht das genaue Zellschicksal, aber sie machen junge Neuronen empfänglich für unterschiedliche Signalmoleküle – und geleiten sie so auf jeweils spezifische Wanderwege.

Des Epos dritter Akt: Partnersuche und Vernetzung

Hat der Zellkörper sein Ziel erreicht, beginnt der dritte Akt, in dem die Zelle in ihre endgültige Gestalt hineinwächst und sich vernetzt: Das Axon und die Dendriten bilden sich und gehen auf Partnersuche. Anfangs besitzen alle Neuriten einer neuen Nervenzelle an ihrer Spitze einen so genannten Wachstumskegel. Er funktioniert wie Sinnes- und Fortbewegungsorgan zugleich. Seine Membran enthält zahlreiche Rezeptoren, die physikalische, chemische und elektrische Signale aus der Umgebung aufnehmen und integrieren. Im Zellplasma des Kegels sorgt eine Fülle von Skelett- und Motormolekülen sowie eine üppige Ausstattung mit energieproduzierenden Mitochondrien dafür, dass der Neurit auf diese Signale auch reagieren kann, etwa mit Vorwärts- oder Ausweichbewegungen. Vor allem der Kegel des knospenden Axons zieht dabei eine ungeheure Wachstumskolonne nach sich: Menschliche Axone können bis zu einem Meter lang werden. Am Ende ihrer Suchbewegungen vernetzen sich die Spitzen von Axon und Dendriten über Synapsen mit anderen Nervenzellen. Die Wachstumskegel verwandeln sich beim Axon in präsynaptische Endknöpfchen, mit denen ein Neuron Signale in den synaptischen Spalt weitergibt. Bei Dendriten wird der Wachstumskegel zu dendritischen Dornen, mit denen die Zelle Signale aus Synapsen empfängt. Das Schicksal der Zelle ist nun -–zumindest im Groben – besiegelt und der große Entwicklungstanz ist vorbei. Abbildung 1.

Abbildung 1. Jungneuronen wachsen in ihre endgültige Gestalt hinein und beginnen sich zu vernetzen.

Kein Ende in Sicht – doch es wird ruhiger

Das Drama jedoch geht ein Leben lang weiter. Noch lange nach der Geburt entwickelt sich das Gehirn fort. Synapsen werden zuerst massenhaft neu gebildet und später dann, vor allem in der Pubertät, gezielt wieder abgebaut, um neuronalen Netzen den Feinschliff zu geben. Myelinzellen ummanteln Neurone, um die Signalübertragung effizienter zu machen. Und sogar neue Nervenzellen entstehen, wandern und reifen gelegentlich noch im erwachsenen Gehirn: in der Nase, wo lebenslang Riechzellen nachwachsen, und im Hippocampus, wo neue Erinnerungen verarbeitet werden. „Hier geht es nicht mehr darum, rasant riesige Neuronenmengen zu produzieren, um ein ganzes Gehirn zu bauen, sondern um den Erhalt von Entwicklungspotenzialen“, sagt Jovica Ninkovic vom Helmholtz Zentrum München, der Regenerationsmöglichkeiten im erwachsenen Gehirn untersucht. Ihm gelang kürzlich in Experimenten der Nachweis, dass neuronale Stammzellen im erwachsenen Gehirn der Maus durch andere molekulare Mechanismen in ihrer Entwicklung „eingefroren“ werden als im Fetus. Diese Mechanismen könnten besonders sensibel auf Entzündungen oder Verletzungen im Gehirn reagieren – um so frische Neuronen gezielt bereit zu stellen, wenn der Bedarf da ist.

Ob, wie und in welchem Umfang adulte Neurogenese auch beim Menschen stattfindet, ist derzeit zwar noch umstritten, aber das Interesse der Regenerationsmedizin ist riesig. „Die Chancen stehen gut, dass wir lernen können, die Neurogenese selbst dort zu aktivieren, wo sie vielleicht gar nicht von alleine geschieht“, sagt Ninkovic. Das Team um Magdalena Götz bewies zum Beispiel , dass embryonale Neuronen ihr Entwicklungsprogramm auch nach einer Transplantation in ein erwachsenes Gehirn erfolgreich abspulen können. Und auch Leanne Godinho hofft auf den großen Brückenschlag: „Wenn es uns gelingt, die Erkenntnisse aus der Entwicklungsbiologie auf die Regenerationsmedizin zu übertragen, könnten wir eines Tages Neuronen, die durch Verletzung oder Krankheit zerstört wurden, ersetzen und Funktionen wiederherstellen.“


Zum Weiterlesen:

  • Silbereis, John C et al.: The Cellular and Molecular Landscapes of the Developing Human Central Nervous System. Neuron 2016; 89(2): 248–268. ( zum Volltext )
  • Paridaen, Judith TML und Huttner, Wieland B: Neurogenesis during development of the vertebrate central nervous system. EMBO Report 2014; 15(4): 351–364. ( zum Volltext )
  • Online-Embryologiekurs für Studierende der Medizin. Entwickelt von den Universitäten Fribourg, Lausanne und Bern (Schweiz). ( zur Webseite )

* Der Artikel stammt von der Webseite www.dasGehirn.info, einer exzellenten Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe). Im Fokus der Monate Mai/Juni stehen "Struktur und Funktion neuronaler Netzwerke ". Der vorliegende Artikel ist am 30.4.2020 erschienen unter dem Titel: Vom Schicksal der Zelle.  Der unter einer cc-by-nc-sa Lizenz stehende Artikel wurde unverändert in den Blog gestellt.


Weiterführende Links: 

Geburt des Gehirns (Hagemanns Bildungsmedien); Video 1:39 min. https://www.youtube.com/watch?v=btA9K39W3aw

Artikel von Nora Schultz auf ScienceBlog.at


 

inge Wed, 10.06.2020 - 22:55

Ökonomie des Klimawandels

Ökonomie des Klimawandels

Do, 18.06.2020 — IIASA IIASA

Icon Klima

Der Klimawandel stellt nicht nur eine Bedrohung für den Planeten und die Menschheit dar, sondern wirkt sich auch auf die Stabilität der Wirtschaft aus. Um zu untersuchen, wie man diese Probleme angehen kann und was es kosten wird, entwickeln IIASA-Forscher Modelle, welche unter den sich verschärfenden Klimabedingungen Aspekte der Landwirtschaft, des Anstiegs der Meeresspiegel und der Wirtschaftsentwicklung simulieren.*

Vor einem Jahrzehnt wurden im selben Jahr drei der weltweit größten Weizen anbauenden Regionen von unterschiedlichen Wetterkatastrophen getroffen. Russland erduldete eine Hitzewelle, von der über ein Drittel seiner Anbaufläche betroffen war. Regen in der Erntezeit ließ die Qualität von Kanadas Weizen zu der von Tierfutter absinken, übermäßige Trockenheit in Westaustralien die Weizenproduktion dahinschwinden.

Abbildung 1. Wetterkatastrophen verringern die Ernten. (© Buurserstraat386 | Dreamstime)

Normalerweise puffern sich Regionen gegenseitig ab. Dieses Mal führten aber vielfache Fehlschläge zu Exportverboten. Die Preise stiegen. Hunger, bereits selbst eine Katastrophe, kann Folgewirkungen wie politische Unruhen und Migration haben. Es wäre daher zweckdienlich zu erfahren, ob in Folge des Klimawandels extreme Wettersituationen in steigendem Maße mehrere Orte gleichzeitig betreffen werden. Abbildung 1.

Klimawandel bedroht die globalen Brotkörbe

Die IIASA-Forscherin Franziska Gaupp hat gezeigt, dass dies bereits geschieht. Gaupps Forschung ist Teil einer wachsenden Zahl von IIASA-Untersuchungen, die politischen Entscheidungsträgern und Gemeinden helfen können die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um auf den Klimawandel zu reagieren, wenn dieser an Fahrt zunimmt, zunehmend Druck auf die Systeme ausübt und das Überleben bedroht.

Gaupp hat Daten zu Niederschlägen, Temperaturen und Sonnenschein bis ins Jahr 1967 zurück gesammelt und ebenso Daten zu Soja-, Mais-, Weizen- und Reiserträgen in den wichtigsten landwirtschaftlichen Brotkörben der Welt. Sie hat dabei festgestellt, dass im Laufe der Zeit die Wahrscheinlichkeit gestiegen ist, dass das Wetter schlecht genug ist, um die Ernteerträge an mehr als einem Ort zu beeinflussen.

Beispielsweise betrug die Wahrscheinlichkeit, dass in von ihr ausgewählten Brotkörben die Weizenernte gleichzeitig scheiterte, 0,3% vor 1990 und danach 1,2%; dagegen stieg die Wahrscheinlichkeit , dass der Weizen in drei oder vier Brotkörben im selben Jahr ausfiel, um 16%.

Es waren jedoch nicht alles schlechte Nachrichten. Ein gleichzeitiges Mehr an Sonnenschein erhöhte die Reisernten auf der ganzen Welt zwischen den beiden Zeiträumen und verringerten die Wahrscheinlichkeit von mehrfachen Ausfällen von 21% auf 12%.

Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Gaupp modellierte die Wahrscheinlichkeit gleichzeitiger Ausfälle bei globalen Temperaturanstiegen von 1,5 ° C und 2 ° C. Eine Begrenzung bei 1,5 ° C reduzierte das Risiko mehrfacher Ausfälle für jede Ernte um etwa ein Viertel.

Laut Gaupp sollte die Arbeit Regierungen und Unternehmen helfen, Risiken zu identifizieren und Notfallpläne zu verbessern.

„Das Klima wirkt sich auf die Erträge aus, und dies hat dann Auswirkungen auf die Preise. Preise können politische Implikationen wie Handelsverbote oder geänderte Strategien der Erntespeicherung nach sich ziehen, wobei enorme Spitzenpreise zu einer humanitären Krise werden können “, sagt sie.

Wirtschaftliche Konsequenzen des Anstiegs der Meeresspiegel

Die Auswirkungen des Klimawandels können nicht immer in wirtschaftlichen Begriffen ausgedrückt werden. Eine Abschätzung der finanziellen Auswirkungen hat jedoch den Vorteil, dass man feststellen können wird, ob es billiger kommt, Emissionen zu senken und Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen - oder nichts zu tun und nur die Kosten des Schadens auf sich zu nehmen.

Um hier eine Antwort zu finden, müssen die Forscher ein Modell erstellen, in das sie die Kosten für die Reduzierung der CO2-Emissionen, für die Anpassung und den Aufbau der Widerstandsfähigkeit gegen den Klimarwandel ebenso einbeziehen wie die Kosten für die Schäden, die entstehen, wenn man nichts dergleichen tut und für den Schaden, der verbleibt, sogar wenn man handelt.

Der IIASA-Forscher Thomas Schinko hat ein internationales Forscherteam geleitet, das die wahrscheinlich enormen finanziellen Auswirkungen abschätzte, welche Überschwemmungen in Küstenregionen aufgrund steigender Meere verursachen können. Das Problem ist, dass die Kosten für den Kampf gegen Überschwemmungen von Küstenland auch im Hinblick auf die Reduzierung der Emissionen sowie den Aufbau von Schutzvorrichtungen und eine widerstandsfähige Infrastruktur hoch sind.

„Der Anstieg des Meeresspiegels ist eines der höchsten klimabedingten Risiken, da so viele Auswirkungen damit verbunden sind, wie Küstenerosion, Überschwemmungen, Sturmfluten und das Eindringen von Salzwasser in landwirtschaftliche Gebiete“, sagt Schinko.

Das Team hat verschiedene Wirtschaftsmodelle angewandt, um zwei Szenarien zu vergleichen: die Kosten von Überschwemmungen der Küsten und von Sturmfluten für das globale BIP, i) wenn die Welt investiert, um den Temperaturanstieg unter 2 ° C zu begrenzen; und, ii) wenn die derzeitige Politik fortgesetzt wird und die Temperatur weiter steigt. Gleichzeitig haben sie auch die Auswirkungen des Baus von Deichen entlang der Weltküsten auf das BIP berücksichtigt. Abbildung 2.

Abbildung 2. Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs (Sea Rise level - SLR) auf die BIPs von G20 Ländern unter verschiedenen Szenarien in den Jahren 2050 und 2100 (Bild von der Redn. eingefügt aus: T.Schinko et al., 2020, Environmental Res Comms 2 (1): e015002. DOI:10.1088/2515-7620/ab6368. Lizenz cc-by)

In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wirkt sich die Begrenzung des Temperaturanstiegs kaum auf die wirtschaftliche Belastung durch Überschwemmungen der Küsten aus. Anpassung zahlt sich jedoch mehr als aus. Das BIP leidet mehr darunter, wenn wir uns nicht anpassen, als wenn wir es tun. Das Bild ändert sich jedoch dramatisch nach 2050, wenn wir durch eine starke Milderung des Temperaturanstiegs und durch Anpassung in den Jahrzehnten vor 2100 wirtschaftlich besser dran sind, als wenn wir nichts tun. Ausgedrückt in BIP steht ein globaler Verlust von 0,5% einem Verlust von 4% gegenüber.

Klimapolitik und Wirtschaft in der Zukunft

"Das Problem mit dieser Art von Schlussfolgerung ist, dass davon ausgegangen wird, dass sich die Menschen von heute um die Menschen von 2100 kümmern. Ist man kurzfristig orientiert und sagt: Der Klimawandel nach 2050 ist mir egal, dann hat man einen hohen Abzinsungssatz und ist blind für die Notwendigkeit den Temperaturanstieg abzuschwächen. Ist man um die Zukunft besorgt, dann hat das, was im Jahr 2100 passiert, im äußersten Fall das gleiche Gewicht wie das, was im nächsten Jahr passiert. Die meisten Menschen liegen in ihren Ansichten irgendwo dazwischen “, kommentiert der IIASA-Forscher Fabian Wagner.

Es ist dies ein wichtiger Punkt, weil er politische Entscheidungen zur Bekämpfung des Klimawandels beeinflusst. Modellierer können helfen, indem sie in ökonomische Modelle einbeziehen, wie weit der durchschnittliche Mensch gesellschaftlich die Zukunft abtut. Beispielsweise könnte man an ein Modell die Frage stellen, was jetzt getan werden muss, um sicherzustellen, dass die Menschen von 2100 ausreichend Nahrung haben.

Wagner und sein Team haben in den aktuellen Modellen einige Mängel festgestellt. So haben Bevölkerungsprognosen die aufkommende Erkenntnis nicht berücksichtigt, dass die Fruchtbarkeit nicht so schnell abnimmt wie man für die Sub-Sahara Region erwartet hatte.

Durch die Verbesserung solcher Inputs hat die Gruppe gezeigt, dass wir, um sogar nur ein minimales wirtschaftliches Wohlergehen für die Menschen von 2100 zu gewährleisten, unsere Emissionen weitaus aggressiver senken, die menschliche und wirtschaftliche Entwicklung beschleunigen und das Fertilitätsniveau senken müssen.

"Wenn wir den demografischen Wandel schnell vollziehen", sagt Wagner, "können wir weniger für den Klimaschutz ausgeben."


* Der von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzte Artikelerscheint am 23. Juni 2020 im Options Magazine auf der IIASA Webseite unter dem Titel: " Exploring the economics of climate change". https://iiasa.ac.at/web/home/resources/publications/options/s20_Exploring_the_economics_of_climate_change.html. IIASA hat freundlicherweise der Veröffentlichung von Inhalten seiner Website und Presseaussendungen in unserem Blog zugestimmt.

Links zu den dem Artikel zugrundeliegenden Originalarbeiten finden sich auf der Webseite.


 

inge Thu, 18.06.2020 - 01:22

Durch Spiele verstehen: warum es uns immer noch nicht gelingt die Entwaldung zu stoppen

Durch Spiele verstehen: warum es uns immer noch nicht gelingt die Entwaldung zu stoppen

Do, 28.05.2020 — IIASA

IIASA Logo Icon Biologie

Klimawandel und veränderte Landnutzung bringen die Wälder weltweit in Gefahr. Trotz vielfach verstärkter nationaler und internationaler Bemühungen schreitet die Entwaldung fort. In den Strategien zur Wiederbewaldung wurde bis jetzt außer Acht gelassen, wie Menschen die Welt sehen und ihre Wahl zwischen Wäldern und ihrem Lebensunterhalt treffen. Speziell designte Spiele sollen zu einem besseres Verständnis des menschlichen Agierens verhelfen und es Interessensvertretern und Entscheidungsträgern auch bei kontroversen Wertvorstellungen ermöglichen ihre „Stärken aufeinander abzustimmen“ und zu praktikablen Lösungen zu gelangen.*

Die Entwaldung schreitet fort

Abbildung 1.

Abbildung 1. Entwaldung im Maranhao Staat (Brasilien) 2016 (Bild von Redn. eingefügt; Quelle: Wikipedia, File:Operação Hymenaea, Julho-2016 (29399454651).jpg CC BY 2.0)

Während sich in den letzten Jahren nationale und internationale Anstrengungen vervielfacht haben den Trend zur Entwaldung umzukehren, gibt es noch keine eindeutigen Hinweise darauf, dass diese Initiativen tatsächlich funktionieren. Ein neuer, im Fachjournal One Earth veröffentlichter Artikel fordert einen radikal anderen Ansatz: dessen Schwerpunkt liegt darin zu verstehen, wie Individuen ihre Wahl zwischen dem Bestand von Wäldern und dem ihre Existenz sichernden Lebensunterhalt treffen [1].

Abbildung 2. Trotz nationaler und internationaler Initiativen verlangsamt sich die Entwaldung nicht. Rückgang der Baumkronen-Dichte und Zeitpläne internationaler Initiativen. (Daten von der Global Forest Watch. Adapted from a press release prepared by CIRAD.)

An der Studie waren insgesamt 23 Forscher, Berater und NGO-Aktivisten aus 13 verschiedenen Ländern in Europa und Nordamerika beteiligt. Ihrer Meinung nach müssen die Strategien zur Entwaldung und Wiederaufforstung ebenso komplexen Charakter haben, wie die davon betroffenen Menschen. Die Studie betont dabei, dass in den letzten Jahren trotz der Fülle an nationalen, internationalen, öffentlichen und kommerziellen Initiativen die Ziele verfehlt wurden und die Trends zur Entwaldung fortdauern. Abbildung 2.

Initiativen zur Wiederbewaldung.......

Die großen Konzerne Nestlé und Procter & Gamble gaben beispielsweise im September 2019 bekannt, dass sie ihre selbst auferlegten Ziele einer Null Abholzung nicht einhalten würden. Von den  an der an der Bonn Challenge [2] beteiligten Ländern haben sich 10 %  das unmögliche Ziel gesetzt, eine Fläche aufzuforsten, die erheblich über das hinausgeht, was innerhalb ihrer Landesgrenzen zur Restaurierung zur Verfügung steht. Erst neulich, während der COVID-19-Krise, gab es in Brasilien einen Anstieg der Entwaldung. Bestimmender Faktor in all diesen Fällen ist die Art und Weise, wie Menschen Entscheidungen treffen.

.........haben bislang vernachlässigt, wie betroffene Menschen agieren

Um überhaupt einen Zugang dazu zu finden, warum Strategien versagen, muss man nach Meinung der Forscher zu einem besseren Verständnis kommen, wie von der Wiederbewaldung betroffene Menschen agieren und zu „mentalen Modellen“ - anders ausgedrückt, wie Individuen die Welt sehen und wie sie Entscheidungen treffen. Dieser Teil des Puzzles wurde bis jetzt weitgehend vernachlässigt, und dies könnte erklären, warum Verhandlungen in Pattsituationen enden und Zusagen und Strategien sich als unwirksam erweisen.

Speziell designte Spiele ermöglichen aufeinander abgestimmte Entscheidungsfindungen

Um dieses Problem anzugehen, sollte man nach Ansicht der Autoren die Annahme verwerfen, dass jeder auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten muss. Stattdessen schlagen sie vor, speziell designte Brettspiele zu verwenden, die es Interessensvertretern und Entscheidungsträgern ermöglichen, ihre „Stärken aufeinander abzustimmen“ ("align forces"), auch wenn sie unterschiedliche und manchmal sogar gegensätzliche Wertvorstellungen und Weltanschauungen haben. Es ist dies eine Methode, die nachweislich geholfen hat- ob in Gemeindesälen oder in Vorstandsetagen - Voreingenommenheit erfolgreich zu überwinden und aus Sackgassen heraus zu kommen. Die Forscher hoffen, dass Chefverhandler bei wichtigen internationalen Gesprächen wie der COP15 (der 15. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt, die im Oktober 2020 in Kunming, China stattfinden soll ) und der 26. UN-Klimakonferenz (COP26; die für 2021 inGlasgow, Großbritannien geplant ist) auch bereit sein werden hier mit zu spielen.

„Wir haben bereits ein Vierteljahrhundert über das Problem gesprochen und sind weit davon entfernt, die aktuellen Trends umzukehren. Vielleicht ist es an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren“, sagt Claude Garcia, Ökologe am französischen Agrarforschungszentrum für internationale Entwicklung (CIRAD) und Erstautor des Artikels.

Mit Hilfe der Spiele können die Teilnehmer sich ihrer Möglichkeiten und der Prozesse, die zur Entscheidungsfindung führen, bewusst werden - dies gibt Raum für Überlegungen und zur Identifizierung von aufeinander abgestimmten Zielen. Dabei können Teilnehmer ihre eigene Rolle spielen oder in die Rolle eines anderen schlüpfen, um die Erfahrung der Entscheidungsfindung und der hypothetischen Konsequenzen zu durchleben; dies verleiht gewonnenen Erkenntnissen mehr Eindruck. Bereits 2018 hat sich die Methode als besonders erfolgreich erwiesen, als nach zwei Jahren Leerlauf ein solches Spiel den Teilnehmern half, eine Einigung über das Management der intakten Forstlandschaft im Kongobecken zu erzielen [3].

„Derzeit lassen alle unsere Modelle dieses menschliche Agieren außer Acht. Während wir in der Lage sein können schlechteste Szenarios zu eruieren und die Politik entsprechend zu beraten, gelingt es uns nicht ein Bild einer Zukunft zu geben, wie es sie bisher noch nicht gegeben hat. Dieses menschliche Handeln mit seinem Anpassungsverhalten, den sich ändernden Ansichten und die Entscheidungskriterien in unsere Modelle einzubeziehen, ist der logische nächste Schritt. Anstatt gerade nur das Worst-Case-Szenario vermeiden zu wollen, wird dieser Ansatz ein besseres Verständnis dafür ermöglichen, wie das Anthropozän gestaltet werden kann, um eine bessere Zukunft für alle zu gewährleisten “, schließt Studienkoautor Stephan Pietsch, Forscher im IIASA Ecosystems Services and Management Program.


* Der von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzte Artikel ist am 25. Mai 2020 auf der IIASA Webseite unter dem Titel: " Why are we still failing to stop deforestation?" https://iiasa.ac.at/web/home/about/news/200525-global-forest-transitions.html  erschienen. IIASA hat freundlicherweise der Veröffentlichung von Inhalten seiner Website und Presseaussendungen in unserem Blog zugestimmt.


[1] Garcia CA, Savilaakso S, Verburg RW, Gutierrez V, Wilson SJ, Krug CB, Sassen M, Robinson BE, et al. (2020). The Global Forest Transition as a human affair. One Earth DOI: 10.1016/j.oneear.2020.05.002

[2] Bonn Challenge: ein 2011 gestartetes globales Projekt zur Wiederherstellung entwaldeter und erodierter Flächen mit dem Ziel 150 Millionen Hektar bis zum Jahr 2020 und 350 Millionen Hektar bis 2030 zu renaturieren. https://www.bonnchallenge.org/

[3] Wicked games: using games to resolve environmental conflicts | Claude Garcia | TEDxZurich. Video 14 min. https://www.youtube.com/watch?v=v362bMWL0Yw&feature=emb_title


Artikel zu verwandten Themen im ScienceBlog

IIASA, 10.01.2019. Die Wälder unserer Welt sind in Gefahr.  http://scienceblog.at/die-w%C3%A4lder-unserer-welt-sind-gefahr#.

IIASA, 22.07.2016: Kann Palmöl nachhaltig produziert werden? http://scienceblog.at/kann-palm%C3%B6l-nachhaltig-produziert-werden#.

Rupert Seidl, 18.03.2016: Störungen und Resilienz von Waldökosystemen im Klimawandel. http://scienceblog.at/st%C3%B6rungen-und-resilienz-von-wald%C3%B6kosystemen-im-klimawandel#.

Julia Pongratz & Christian Reick, 18.07.2014: Landwirtschaft pflügt das Klima um. http://scienceblog.at/landwirtschaft_pfluegt_klima_um#. .

Gerhard Glatzel, 28.06.2011: Hat die Menschheit bereits den Boden unter den Füßen verloren? http://scienceblog.at/hat-die-menschheit-bereits-den-boden-unter-den-f%C3%BC%C3%9Fen-verloren#.


 

inge Wed, 27.05.2020 - 23:55

Kann Vitamin D vor COVID-19 schützen?

Kann Vitamin D vor COVID-19 schützen?

Fr, 22.05.2020 Inge Schuster Inge SchusterIcon Medizin

In den letzten Wochen sind mehrere Untersuchungen erschienen, die zeigen, dass Schwere der COVID-19 Erkrankung und Mortalitätsrate offensichtlich mit niedrigen Spiegeln von Vitamin D korreliert sind, Personen mit adäquaten Spiegeln dagegen nur leichte Symptome aufweisen. Kann also Supplementierung mit Vitamin D  den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen?

Vitamin D ein Prohormon

Das vor rund 100 Jahren als antirachitisch wirksam entdeckte Vitamin D ist kein Vitamin - der Körper kann es ja selbst herstellen - sondern ein Prohormon. Vitamin D entsteht in der Haut aus der unmittelbaren Vorstufe des Cholesterin durch eine photochemische Reaktion, wenn Sonnenlicht mit genügend hohem UVB-Anteil (Wellenlänge 280 - 315 nm) darauf trifft. In zwei darauffolgenden enzymatischen Aktivierungsschritten wird das Prohormon erst in das hydroxylierte Produkt 25-Hydroxyvitamin D3 (25(OH)D3) und dann in das biologisch wirksame Hormon Calcitriol (1,25 (OH)2D3) umgewandelt.

Calcitriol funktioniert in derselben Weise wie die strukturell nahe verwandten Steroidhormone: es bildet mit seinem sogenannten nukleären Rezeptor einen Komplex, der im Zellkern in spezifischer Weise an DNA-Regionen ("response elements") von sensitiven Genen bindet und deren Expression steuert. Es sind dies vor allem Gene, die im Calciumhaushalt - Aufnahme von Calcium aus dem Darm und Mineralisierung der Knochen - eine essentielle Rolle spielen. Die Folgen eines Vitamin D Mangels (siehe unten) sind altbekannt und unübersehbar: Rachitis bei Kindern, Osteomalazie bei Erwachsenen.

Abbildung 1. Stark vereinfachte Darstellung der hormonellen Funktionen von Calcitriol. Neben der Expression einer Vielzahl von Genen, die für Schlüsselfunktionen in wichtigen physiologischen und pathologischen Vorgängen kodieren, reguliert das Hormon seine Wirkdauer, indem es seinen Abbau zu inaktiven Produkten induziert (rot).

Darüber hinaus kann Calcitriol die Expression einer Fülle anderer Gene (von 900 oder auch mehr Genen) regulieren, die Schlüsselfunktionen in wichtigen physiologischen und pathologischen Vorgängen innehaben. Es sind u.a. Gene, die Wachstum und Differenzierung von Zellen steuern, Gene, die in der angeborenen und erworbenen Immunantwort essentiell sind und in der Abwehr von Infektionen eine wesentliche Rolle spielen, erforderliche Gene in neurophysiologischen Prozessen und in vielen weiteren Vorgängen im Organismus (Details dazu in [1]). Abbildung 1.

Potential für therapeutische Anwendungen

Eine Vielzahl unterschiedlicher ("pleiotroper") Funktionen wurde in zahllosen in-vitro Experimenten und Tierversuchen nachgewiesen und ließ die Erwartung aufkommen mit dem Hormon und auch mit dem im Körper zum Hormon umgewandelten Vitamin D eine Panacaea gegen die unterschiedlichsten Erkrankungen - Krebserkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen, verschiedenste Autoimmunerkrankungen, Infektionskrankheiten, neurophysiologische Defekte hin bis zu Autismus - zu besitzen. Diese Erfolgsaussichten wurden in zahlreichen epidemiologischen Studien und Metaanalysen untermauert, die einen Zusammenhang zwischen einem Mangel an Vitamin D und dem Auftreten verschiedenster Krankheiten herstellten. Allerdings, eine direkte Evidenz aus randomisierten, Placebo-kontrollierten klinischen Studien konnte bislang nicht erbracht werden:

      ein direkter Einsatz von Calcitriol in einer beispielsweise für die Krebstherapie ausreichenden hohen Dosierung war durch die spezifischen Nebenwirkungen auf die Freisetzung von Calcium und damit dem Risiko einer lebensbedrohenden Hypercalcämie stark limitiert.

     Eine langfristige Supplementierung mit hohen Dosen Vitamin D3 hatte wiederum den Nachteil, dass die hier notwendige Kontrollgruppe mit Vitamin D Mangel ethisch nicht vertretbar war.

So endete 2018 auch die erste großangelegte Placebo kontrollierte klinische Studie zur Prävention von Krebs- und von Herz-Kreislauferkrankungen an über 25 000 eingangs gesunden Menschen mit einem ernüchternden Ergebnis [2]. In dieser sogenannten VITAL-Studie hatten die Versuchspersonen - ältere Männer und Frauen (ab 50 resp. 55 Jahren), die einen repräsentativen Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung darstellten - über rund 5 Jahre täglich eine relativ hohe Dosis an Vitamin D3 (2000IU = 50 Mikrogramm) oder Placebo erhalten. Weder in der Inzidenz von Tumorerkrankungen (vor allem der häufigsten Formen von Prostata-, Brust- und Colon Ca) noch in der von kardiovaskulären Erkrankungen konnte ein signifikanter Unterschied zwischen Vitamin D-Supplementierung und Placebo beobachtet werden. Allerdings wies die Placebo-Gruppe über die Versuchsdauer einen Vitamin D Status auf, der im Normalbereich (gemessen am Standard 25(OH)D3: 30,8 ng/ml) lag - ein Mehr an Vitamin D3 in der supplementierten Gruppe (die Blutspiegel stiegen im Mittel auf 42 ng/ml) mochte bereits keine Steigerung potentieller Vitamin D Effekte bewirken.

Vitamin D Mangel

Das im menschlichen Organismus vorhandene Vitamin D ist überwiegend auf seine Synthese in der Haut und nur zum kleinen Teil auf zugeführte Nahrung - außer man ernährt sich überwiegend von fettem Fisch - zurückzuführen; zusätzlich kann Supplementierung mit synthetischem Vitamin D erfolgen.

Der Vitamin D-Status einer Person wird an Hand des Blutspiegels seines Metaboliten 25(OH)D3 bestimmt. Konsens besteht darüber, was als schwerer Mangel anzusehen ist und etablierte Auswirkungen auf die Calcium-Homöostase und damit vor allem auf das Knochen-/Muskelsystem hat - d.i. Blutspiegel unter 10 - 12,5 ng/ml (25 - 30 nM). Hinsichtlich adäquater, für die Gesundheit erstrebenswerter Spiegel, ist man unterschiedlicher Ansicht; häufig wird ein Status von > 30 ng/ml (d.i. > 75 nM) genannt.

Voraussetzung für die natürliche Synthese in der Haut ist ein ausreichender Anteil von UVB-Strahlung im Sonnenlicht und dies ist in der nördlichen Hemisphäre etwa vom 40 Breitengrad an nur in den Frühling- und Sommermonaten der Fall. Sofern es die Lebensumstände in dieser Zeit erlauben genügend Sonne an die Haut zu lassen, reicht das während dieser Zeit gebildete Prohormon im Mittel bis zum Herbst; zu Winterbeginn können bereits Spiegel unter 30 ng/ml bis hin zu schwerem Mangel vorliegen. Mit zunehmendem Alter sinkt die Kapazität zur Vitamin D Synthese; zusammen mit einem reduzierten Aufenthalt im Freien können die Vitamin D Speicher im Organismus noch früher geleert sein.

COVID-19 - relevante Funktionen von Vitamin D…

Das im Organismus zirkulierende 25(OH)D3 kann in den Epithelzellen des Atmungstrakts und in den dort vorhandenen Immunzellen in das aktive Hormon Calcitriol umgewandelt werden. Dort findet sich überall auch sein Rezeptor, an den gebunden Calcitriol die Expression relevanter Gene der angeborenen und der adaptiven Immunabwehr induzieren kann.

Vitamin D sensitive Gene der angeborenen Immunabwehr sind vor allem solche, die für antimikrobiell wirksame Peptide - Canthelicidin und Defensine - kodieren. Es sind dies kleine, aus bis zu 47 Aminosäuren bestehende Peptide, die einen hohen Anteil basischer Aminosäuren (Arginin und Lysin) enthalten. Diese Peptide üben eine unspezifische Breitbandwirkung auf Bakterien, Pilze und auch auf behüllte Viren aus, indem sie mit den negativ geladenen Phospholipidgruppen in den Membranen der Mikroorganismen interagieren und so deren Struktur (zer)stören. Darüber hinaus wirken die Peptide chemotaktisch auf Immunzellen und auf die Produktion von Cytokinen.

Hinsichtlich der adaptiven Immunabwehr kann Calcitriol wesentliche Entzündungsmediatoren wie Interleukin-2 und Interferon gamma unterdrücken und insgesamt in den Entzündungsprozess ("Cytokin-Sturm") eingreifen, der die späte schwere Phase von COVID-19 dominiert.

…und Korrelationen von Vitamin D-Mangel und Schwere des COVID-19 Verlaufs

Die COVID-19 Pandemie hat die Länder der Nordhalbkugel in den Wintermonaten getroffen. Aus Bestimmungen des Vitamin D-Status in europäischen Ländern geht hervor, dass bis über 50 % der gesamten Bevölkerung in den Wintermonaten moderaten bis schweren Vitamin D-Mangel aufweisen. In einer rezenten Studie in den von COVID-19 besonders betroffenen Regionen China, Iran, Italien, Spanien, Frankreich und UK weisen bis zu 94 % der alten Personen Spiegel unter 20 ng/ml (< 50 nM) auf [3]. Eine Reihe weiterer Studien, vor allem eine statistische Analyse der klinischen Daten aus China, Frankreich, Italien, Deutschland, Spanien, UK, Iran und Türkei, zeigt, dass die Schwere der COVID-19 Erkrankung - insbesondere der durch eine überaktives Immunsystem hervorgerufene Cytokin-Sturm - und die Mortalitätsrate offensichtlich mit niedrigen Spiegeln von Vitamin D korreliert sind, während Personen mit adäquaten Spiegeln nur leichte Symptome aufweisen [4].

Ist also der Vitamin D-Status entscheidend für den Verlauf der Erkrankung?

Die bis jetzt vorliegenden Daten korrelieren Vitamin D Mangel, wie er insbesondere in der alten Bevölkerung auftritt, mit einem schwerem Verlauf von COVID-19. Dies ist zweifellos beeindruckend, sollte aber mit Vorsicht interpretiert werden. Mit zunehmendem Alter treten ja auch grundlegende Änderungen in unserem Stoffwechsel ein, wesentliche Prozesse der hormonellen Regulierung hören zu arbeiten auf, das Immunsystem wird schwächer und die Anfälligkeit für diverse Erkrankungen nimmt zu. All dies kann zu Inzidenz und Verlauf von COVID-19 beitragen.

Betrachtet man die globale Inzidenz von COVID-19 und die Mortalitätsrate (% der Todesfälle pro registrierte Infektionen), so ergibt sich ein komplexes Bild. Abbildung 2. Es sticht vor allem der COVID-19-Hotspot Europa mit der weltweit ältesten Bevölkerung (Durchschnittsalter 43 Jahre [5]) hervor, gefolgt von Nordamerika (Durchschnittsalter 39 Jahre [5]). Die Inzidenz auf dem gesamten afrikanischen Kontinent ist dagegen sehr niedrig (die Anzahl der Testungen ist jedoch ungleich niedriger als in den meisten anderen Staaten [5]). Afrika weist die weltweit jüngste Bevölkerung mit einem Durchschnittsalter von 20 Jahren [5]auf und der Vitamin D-Status ist zweifellos gut; allerdings ist die Mortalitätsrate unter den als infiziert Gemeldeten vergleichbar mit der vieler anderer Staaten mit wesentlich älterer Bevölkerung und vermutlich wesentlich schlechterem Vitamin D-Status. Gilt hier die inverse Korrelation von Vitamin D-Spiegel zu Schwere der COVID-Erkrankung?

Ebenso fraglich: Auf gleichen Breitegraden wie in Afrika lebende Menschen in Lateinamerika (Durchschnittsalter 31 Jahre [5]) dürften ebenfalls gute Vitamin D Werte haben, ihre Corona Inzidenz und damit auch die Zahl der Todesfälle sind aber höher.

Abbildung 2. Oben: Globale Inzidenz von COVID-19 (bestätigte Fälle/100 000 Einwohner). Unten: Mortalitätsrate (Prozent Todesfälle/bestätigte Fälle). (Quelle: COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University. Copyright 2020 John Hopkins University)

 

Es wäre zweifellos höchst wünschenswert, wenn Vitamin D die Corona-Infektion und den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen könnte. Die darauf hinweisenden Korrelationen haben zahlreiche Forscher auf den Plan gerufen, welche nun die Hypothese in klinischen Studien prüfen wollen. Seit April wurden bereits 14 solcher klinischer Studien in der Datenbank https://clinicaltrials.gov/  gemeldet, die in Spanien, Portugal, UK, US, Iran,  Türkei und Frankreich laufen sollen. (Als Beispiel eine Multicenter-Studie in Frankreich: COvid-19 and Vitamin D Supplementation: a Multicenter Randomized Controlled Trial of High Dose Versus Standard Dose Vitamin D3 in High-risk COVID-19 Patients (CoVitTrial)).

Wie auch immer diese Studien ausgehen werden, eine Behebung von Vitamin D Magel durch Supplementierung oder besser noch, indem man Sonnenlicht an die Haut lässt, ist auf jeden Fall empfehlenswert


[1] Inge Schuster, 10.05.2012: Vitamin D — Allheilmittel oder Hype? http://scienceblog.at/vitamin-d-%E2%80%94-allheilmittel-oder-hype# .

[2] Inge Schuster, 15.11.2018: Die Mega-Studie "VITAL" zur Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen oder Krebs durch Vitamin D enttäuscht. http://scienceblog.at/die-mega-studie-vital-zur-pr%C3%A4vention-von-herz-kreislauferkrankungen-oder-krebs-durch-vitamin-d-entt%C3%A4#.

[3] M Ebadi und A.J. Montano-Loza Perspective: improving vitamin D status in the management of COVID-19. Eur J Clin Nutr (01.05.2020) https://doi.org/10.1038/s41430-020-0661-0

[4] A Daneshkah et al., The Possible Role of Vitamin D in Suppressing Cytokine Storm and Associated Mortality in COVID-19 Patients. medRxiv preprint (18.05.2020) https://doi.org/10.1101/2020.04.08.20058578

[5] https://www.worldometers.info/world-population


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inge Fri, 22.05.2020 - 01:17

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Außergewöhnliche Langlebigkeit: Wie haben die Cammalleri-Schwestern gelebt, um 106 und 113 Jahre alt zu werden?

Außergewöhnliche Langlebigkeit: Wie haben die Cammalleri-Schwestern gelebt, um 106 und 113 Jahre alt zu werden?

Do, 14.05.2020 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon MedizinWas führt zu einer extrem langen Lebensdauer? In einer Aufsehen erregenden Untersuchung an zwei über 100 Jahre alten Schwestern wird deren Phänotyp an Hand von demographischen, klinischen, anamnestischen, kognitiven und funktionellen Daten sowie biochemischen und genetischen Parametern charakterisiert. Besonders bemerkenswert sind Daten, die u.a. auf das Vorhandensein von oxydativem Stress und stetiger Entzündung, ungesunden Cholesterinspiegeln und von der Norm nicht abweichende Längen von Telomeren hinweisen. Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet über diese Untersuchung, deren Aussage auch ist, dass eine "one-size-fits-all" - eine für alle einheitliche - Medizin nicht immer der beste Weg ist, um Gesundheit zu beurteilen und Langlebigkeit zu prognostizieren.*

Kürzlich stieß ich auf einen neuen Artikel , welcher die Gesundheit von zwei italienischen Schwestern analysierte, die ein bemerkenswert hohes Alter erreicht hatten. "Die phänotypische Charakterisierung der Cammalleri-Schwestern, ein Beispiel für außergewöhnliche Langlebigkeit" stammt von Calogero Caruso und Kollegen von der Universität Palermo, Italien, und wurde in Rejuvenation Research veröffentlicht [1].

Filippa, geboren am 12. Dezember 1911 und verstorben am 6. Juli 2018,war mit 106 Jahren beinahe eine Supercentenarianerin (Person , die mindestens 110 Jahre alt ist; Anm. Redn). Ihre Schwester Diega, geboren am 23. Oktober 1905 und gestorben am 15. Juni 2019, war eine Supercentenarianerin , die 113 Jahre alt wurde. Von den Hundertjährigen schafft es nur 1 von 1.000 110 Jahre alt zu werden. Weltweit sind nur 27 Supercentenarier bekannt

Ein kürzlich in The New Yorker veröffentlichter Artikel: "War Jeanne Calment die älteste Person, die jemals gelebt hat - oder ein Betrug?" erzählte die Geschichte der berühmten Französin, die 1997 angeblich im Alter von 122 Jahren starb. Als jedoch historische Unstimmigkeiten auftauchten, stellten die Ermittler fest, dass die verstorbene Frau möglicherweise eine Tochter war, welche die Identität angenommen hatte. Lauren Collins schrieb: „Jeanne Calment… war eine zufällige Ikone, ihre Berühmtheit das Ergebnis einer Form von Passivität. Einhundertundzwanzig Jahre, fünf Monate und vierzehn Tage lang gelang es Calment, nicht zu sterben."

Aber Filippa und Diega Cammalleri waren real - und untersucht.

Anti-Aging-Industrie nach dem Schema "One-Size-Fits-All"

Im Juli 2017 überreichten die Forscher den Schwestern einen detaillierten Fragebogen, nahmen alle möglichen Messungen vor und führten Blutanalysen und in begrenzten Ausmaß genetische Analysen durch. Was ihre Erkenntnisse über die Physiologie der Schwestern aufzeigen, steht in mehrfacher Hinsicht im Widerspruch zu dem, wofür die „Anti-Aging“ -Industrie wirbt, um uns angeblich länger leben zu lassen.

Es stellt sich heraus, dass die super-alten Schwestern wahrscheinlich aufgrund des hohen Anteils an Prooxidantien und des niedrigen Anteils an Antioxidantien sowie der stetigen mäßigen Entzündung so lange lebten. Filippa hatte ungesunde Cholesterinwerte und beide Schwestern teilten offenbar einen Vorliebe für Süßigkeiten.

"Altern" bedeutet biologisch gesehen "sich im Laufe der Zeit zu verändern". Die einzige Anti-Aging-Strategie besteht daher darin, sein Leben zu beenden oder mit einer Zeitmaschine eine Reise zu unternehmen. Wie jedoch in dieser Zeit der Pandemie klar ist, sind populäre Ideen nicht immer wissenschaftlich sinnvoll. Abbildung 1.

Abbildung 1. Wie man sich Anti-Aging m 16. Jahrhundert vorstellte: "Der Jungbrunnen" von Lucas Cranach d. Ä (1546), Gemäldegalerie Berlin.

Nehmen Sie Sephora, die Kette von Kosmetikprodukten und Superstores für Hautpflege. Zu deren Anti-Aging-Elixieren gehören Peelings, Seren, Polypeptid-Feuchtigkeitscremes, Öle, das völlig nutzlose Kollagen (ein zu großes Molekül, um unter die Oberhaut zu gelangen), Pitera-Essenz (ein aus Sake gebrautes „Wundermittel“; so schnell, wie ich es gegoogelt hatte, versuchte Facebook es mir bereits zu verkaufen), Milchsäure, Retinolcreme, Litschi Früchte, Hyaluronsäure und natürlich die allgegenwärtigen Antioxidantien.

Fragen und Messungen

Die Schwestern haben ihr ganzes Leben in Canicattì, Sizilien, verbracht. Was hat ihre Herzen so lange schlagen lassen?

Sie beantworteten weitreichende Fragen. Woran war jede der Schwestern erkrankt? Welche Medikamente hatten sie genommen? Hatten sie geraucht? Tests beurteilten Depressionen, den kognitiven Status, Aktivitäten des täglichen Lebens, die Fähigkeit zur Ausführung komplexer Aufgaben sowie Schlaf- und Essgewohnheiten. Eine Erwähnung körperlicher Übungen ist mir nicht aufgefallen.

Zu den Messungen gehörten der Body-Mass-Index und die Analyse der bioelektrischen Impedanz (diese bestimmt Fettgehalt und Muskelmasse mittels eines schwachen elektrischen Stroms, der durch den Handrücken und einen Fuß fließt.)

Die Familiengeschichte war unkompliziert und wies auf Langlebigkeit und Darmkrebs hin.

Filippas und Diegas Vater Calogero Cammalleri war im Alter von 97 Jahren verstorben - Ursache nicht bekannt - und ihre Mutter Maria Di Pasquale im Alter von 73 Jahren an Krebs. Von deren drei Söhnen starben die Zwillinge an Darmkrebs und ein Sohn bei einem Unfall.

Diega hat an einer Grundschule unterrichtet; Filippa hat die Grundschule abgeschlossen. Die Schwestern haben nie geheiratet und in einer Wohnung gemeinsam gelebt. Sie waren ausreichend situiert, um sich eine Pflegekraft leisten zu können.

Die Schwestern haben nie geraucht, 5 bis 6 Stunden pro Nacht geschlafen und nahmen an Medikamenten Blutdrucksenker, Diuretika und Blutverdünner ein. Diega hatte Makuladegeneration und Filippa hatte Grauen Star. Beide litten an Arthrose (ein Abbau des Gelenkknorpels ohne Entzündung) und Osteoporose.

Filippa wurde im Alter von 100 Jahren mit einem Bruch des Oberschenkelknochen und fünf Jahre später wegen Verstopfung ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hatte eine leichte Demenz. Die Krankengeschichten der beiden Schwestern waren also wenig bemerkenswert.

Erst in ihrem letzten Jahrzehnt brauchten die Schwestern Hilfe beim Anziehen, bei der Hygiene, beim Toilettengang, beim Umhergehen und beim Essen. Während dieser letzten 10 Jahre konnten sie auch keine Mahlzeiten zubereiten, sich nicht um ihre Finanzen kümmern, den Haushalt führen, das Telefon benutzen und ihre Medikamente verwalten.

Was die Essgewohnheiten angeht, haben sich die Cammalleri-Schwestern nicht sehr an die viel gepriesene mediterrane Ernährung gehalten. Sie liebten Nudeln, Olivenöl extra vergine, Milch und Obst, haben aber nur zwei- oder dreimal pro Woche Gemüse gegessen. Die Schwestern konsumierten zweimal täglich Kuchen und / oder Kekse, einmal Eier und Kartoffeln. Ein- oder zweimal im Monat aßen sie rotes oder gepökeltes Fleisch, mochten aber weißes Fleisch, Hühner und Blaubarsch.

Zu den Daten

Die Schwestern waren klein und mager, die Bezeichnung „Wasting-Syndrom“ - tauchte auf. Beide Frauen waren kaum größer als 1,50 m, Filippa wog 50 kg, Diega 53 kg. Einer der physiologischen Tests (für PHA, auch bekannt als Polyhydroxyalkanoate) schreibt den Kleinwuchs einem Flüssigkeitsverlust aus ihren Zellen zu.

Ich habe die vier Tabellen mit Testergebnissen analysiert, um festzustellen, ob meine Interpretation mit den Schlussfolgerungen der Forscher übereinstimmt. Und dies war der Fall

Die Tabellen enthalten:

  • Anthropometrische Werte und Werte für die Körperzusammensetzung
  • Bluttests
  • Tests auf oxidativen Stress und Entzündung
  • In limitiertem Ausmaß Gentests (einige Gene und microRNAs)

 

Die Tabellen bieten eine gute visuelle Möglichkeit, um die Ergebnisse zu präsentieren. Jede Tabelle hat vier Spalten. Die Spalte ganz links enthält den Test, dann gibt es jeweils eine Spalte für die Werte jeder Schwester, dann eine Spalte für den Normalbereich der Werte von gesunden italienischen Frauen im Alter von 50 bis 65 Jahren. Fettdruck zeigt an, wo sich jede Schwester außerhalb des Normbereichs befindet, also musste ich mich zum Glück nicht mit irgendeiner Mathematik befassen.

Insgesamt wurden nur wenige Messungen in Fettdruck angezeigt; Ausnahme waren Bestimmungen von „oxidativem Stress und Entzündung“. Von den Dutzend Marker-Werten lagen die Zwillinge meilenweit entfernt.

Paradoxe Muster von Antioxidantien und MicroRNAs weisen auf Entzündung hin

Die Schwestern hatten niedrige Spiegel an Antioxidantien wie Paraoxonase und Glutathion sowie an den schwefelhaltigen Aminosäuren, die für deren Synthese benötigt werden. Sie hatten jedoch einen hohen Gehalt an Malondialdehyd, einem Marker für oxidativen Stress. Erhöhtes Kynurenin spiegelte eine körperweite Entzündung wider, ein Teil der angeborenen Immunantwort.

Die Ergebnisse für MicroRNAs waren ebenso aussagekräftig. MicroRNAs sind winzige RNA-Moleküle, die unterschiedliche Kombinationen von Genen an- und ausschalten und einige davon blockieren, transkribiert und in Protein übersetzt zu werden. Sie werden als "Dimmschalter" für das Genom bezeichnet. Kombinationen der rund 2.500 microRNAs im menschlichen Genom überwachen und optimieren die Proteinproduktion.

Die Spiegel von drei Arten der in den Blutkreisläufen der Schwestern zirkulierenden microRNAs entsprachen einem sogenannten „Langlebigkeitsphänotyp“ - einem Entzündungsgrad, der für eine viel jüngere Person normal ist.

Durfte ein Immunsystem, das für ein langes Leben ohne Infektionskrankheiten verantwortlich war, auf kleiner Flamme köcheln?

Genetische Informationen in limitiertem Ausmaß

Die genetische Analyse erfasste bloß einige wenige Marker für das Altern und keineswegs eine genomweite Landschaft von Single-Base- (SNP-) Markern oder Sequenzen des Exoms oder gesamten Genoms.

Die Forscher zogen zwei mit dem Altern verbundene Gene: FOXO3A und ApoE in Betracht.

An einer bestimmten Stelle des FOXO3A Gen kann eine Person nun zwei DNA-Basen "GG", zwei "TT" oder jeweils eine "TG" haben. Ein „G“ zu haben wurde mit Langlebigkeit verbunden. Filippa war TG und Diega TT. Es stellt sich also heraus, dass diese Assoziation nur für einige Bevölkerungen gilt, allerdings nicht für Sizilianer.

Die Varianten ε2, ε3 und ε4 des ApoE-Gens standen ebenfalls auf der Speisekarte. Dieses Gen ist weithin bekannt für seinen Zusammenhang mit dem Alzheimer-Risiko: Die ε4-Variante erhöht das Risiko, ε2 senkt es und die häufigste ε3-Variante ist neutral. Die Schwestern hatten öde ε3-Varianten.

Auch hier gelten die genetischen Assoziationen nicht für Sizilianer. Wenn wir nun zum Stoffwechsel zurückkehren, der ja unter genetischer Kontrolle steht, so hatten die Schwestern grenzwertig ungesunde Cholesterinspiegel. Diega hatte ein niedriges HDL und Filippa hatte einen niedriges HDL und dazu ein hohes LDL.

Es wurden auch Telomere bestimmt (Abbildung 2). Dies sind die Chromosomenenden, die normalerweise mit zunehmendem Alter reduziert werden. Bei langlebigen Menschen würde man längere Telomere erwarten - die Schwestern zeigten jedoch keine Abweichungen von den Normalwerten.

Abbildung 2. Menschliche Chromosomen, (grau) deren Enden Telomere (weiß) bedecken. (Bild: http://science.nasa.gov, cc 0)

Für den Befund, dass leichte Entzündungen manche Menschen lange am Leben halten, gibt es einen Präzedenzfall. Forscher des Zentrums für Überhundertjährigen-Forschung der Keio University School of Medicine in Tokio haben dies 2015 in einem Artikel mit dem Titel „“Inflammation, But Not Telomere Length, Predicts Successful Ageing at Extreme Old Age: A Longitudinal Study of Semi-supercentenarians,” berichtet; es war eine Gemeinsamkeit unter den meisten der 1.554 sehr alten Leute, die sie analysierten.

Sie schrieben: "Wir schließen daraus, dass Entzündungen ein wichtiger plastischer Treiber für ein Altern bis zum extrem hohen Alter beim Menschen sind".

Was kann man daraus schließen?

Bei beiden Schwestern, die bei relativ guter Gesundheit ihren 100. Geburtstag überschritten hatten, gab es:

  • Erhöhtes LDL-Cholesterin
  • Mäßige persistierende Entzündungswerte
  • Oxydativen Stress
  • Zweimal täglichen Verzehr von Süßigkeiten
  • Begrenzten Verzehr von Gemüse
  • Keine gegen Alzheimer schützenden ApoE-Gene

Diega und Filippa waren sicherlich außergewöhnliche Menschen. Ihr Fall zeigt aber, dass eine "one-size-fits-all" - eine für alle einheitliche - Medizin nicht immer der beste Weg ist, um Gesundheit zu beurteilen. Artikel in Fachzeitschriften feiern die Präzisionsmedizin, aber es ist unwahrscheinlich, dass der durchschnittliche Konsument im Gesundheitswesen darauf stößt.

Meine Hausärztin hat mich nie etwas zur Gesundheitsgeschichte meiner Familie gefragt. Hätte sie es getan, so würde sie erfahren haben, dass es da überhaupt keine Herz-Kreislauf-Erkrankungen gibt, trotz ungesunder Cholesterinwerte. Sie möchte mich auf ein Statin setzen. Nun, das wirklich nicht. Sie verschreibt mir weiterhin Naproxen, auch wenn es mich krank macht, weil Versicherer und Protokolle es als Mittel erster Wahl empfehlen, da Ibuprofen die Darmschleimhaut reizt. Ibuprofen macht das aber nur bei einem Prozent der Bevölkerung, und da bin ich nicht darunter.

Diega und Filippa hatten Glück - wir wissen nicht, ob sie aktiv etwas unternommen haben, um ihr Leben zu verlängern. Was wir aus dem Studium biologisch außergewöhnlicher Menschen lernen ist, dass wir mehr darüber erfahren, in welcher Weise wir uns unterscheiden. Und Dienstleister im Gesundheitswesen sollten in Betracht ziehen, dass ihre Patienten Ausnahmen von den medizinischen Regeln sein können.


[1] G. Accardi etal., The Phenotypic Characterization of the Cammalleri Sisters, an Example of Exceptional Longevity. Rejuvenation Research, Ahead of Print. 11 May 2020 https://doi.org/10.1089/rej.2019.2299 (open access)


* Der Artikel ist erstmals am 7. Mai 2020 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel " Meet the Cammalleri Sisters: How Did They Live to Be 106 and 113? " https://blogs.plos.org/dnascience/2020/05/07/meet-the-cammalleri-sisters-how-did-they-live-to-be-106-and-113/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgen. Abbildung 1 und die Legenden zu beiden Bildern wurden von der Redaktion eingefügt .


 

inge Thu, 14.05.2020 - 00:30

Die wichtigsten zellulären Ziele für das neuartige Coronavirus

Die wichtigsten zellulären Ziele für das neuartige Coronavirus

Do, 07.05.2020 — Francis S. Collins

Francis S. CollinsIcon MedizinBasierend auf den Daten im Human Cell Atlas hat ein großes internationales Forscherteam die Zelltypen im Atmungstrakt und im Darm identifiziert, welche das Andockprotein ACE2 und die Protease TMPRSS2 enthalten und damit die primären Angriffsziele des SARS-CoV-2 Virus darstellen. Francis S. Collins, Direktor der US-National Institutes of Health (NIH) und ehem. Leiter des "Human Genome Project", gibt einen Überblick über diese Aktivitäten.*

Über das neuartige, COVID-19 verursachende Coronavirus SARS-CoV-2 gibt es noch eine Menge zu lernen. Beeindruckend und erfreulich ist es aber, wie nun Forscher aus der ganzen Welt sich zusammen finden und ihre Zeit, ihre Expertise und ihre mühsam erarbeiteten Daten miteinander teilen, in dem vordringlichen Bestreben dieses verheerende Virus unter Kontrolle zu bringen.

Ein solcher Geist des Zusammenarbeitens ist in einer kürzlich durchgeführten Arbeit voll zum Ausdruck gekommen: diese Studie hat die spezifischen menschlichen Zellen gekennzeichnet, welche SARS-CoV-2 offensichtlich für eine Infektion auswählt [1]. Dieses Wissen kann nun angewandt werden, um genau zu untersuchen, wie jeder Zelltyp mit dem Virus interagiert. Letztendlich kann dies erklären helfen, warum manche Menschen für SARS-CoV-2 anfälliger sind als andere und wie man zielgerichtet auf das Virus mit Medikamenten, Immuntherapien und Impfstoffen losgehen kann, um Infektionen zu verhindern oder zu behandeln.

Diese Untersuchung wurde von den großteils geschlossenen Labors von Alex K. Shalek (Massachusetts Institute of Technology, Ragon Institute of MGH, MIT, and Harvard sowie dem Broad Institute of MIT and Harvard, Cambridge) und Jose Ordovas-Montanes im Boston Children’s Hospital vorangetrieben. Am Ende brachte sie (wenn auch nur aus der Entfernung) Dutzende ihrer Kollegen im "Lung Biological Network" des Human Cell Atlas und andere Forscher in den USA, Europa und Südafrika zusammen.

ACE2 und TMPRSS2 - ein roter Teppich für das Virus

Das Projekt nahm seinen Ausgang als Shalek, Ordovas-Montanes und andere lasen, dass SARS-CoV-2 vor dem Eindringen in menschliche Zellen an einen Proteinrezeptor namens Angiotensin-Converting-Enzym 2 (ACE2) andockt. Es handelt sich dabei um ein Enzym, das bei der Aufrechterhaltung des Blutdrucks und des Flüssigkeitshaushalts des Körpers eine Rolle spielt.

Das Interesse des Teams war geweckt, insbesondere als es von einem zweiten Enzym erfuhr, welches das Virus nutzt, um in die Zellen einzudringen. Dieses Enzym trägt das lange Akronym TMPRSS2 (Type II transmembrane serine protease, Anm. Redn.) und wird "überlistet", die Spike-Proteine auf der Oberfläche von SARS-CoV-2, für den Angriff auf die Zelle zu formatieren. Es ist die Kombination dieser beiden Proteine, die einen roten Teppich für das Virus auslegen.

Suche im Human Cell Atlas

Shalek, Ordovas-Montanes und ein internationales Team aus Doktoranden, Post-Docs, wissenschaftlichen Mitarbeitern und leitenden Forschern beschlossen, etwas tiefer in die Materie einzudringen, um herauszufinden, wo genau im Körper Zellen zu finden sind, welche diese beiden Gene gemeinsam exprimieren. Ihr Wissensdrang führte sie zu der großen Fülle von Daten, die sie selbst und andere Forscher an Modellorganismen und Menschen generiert hatten, letztere als Teil des Human Cell Atlas [2]. Dieser ist ein internationales Kooperationsprojekt, das eine umfassende Karte aller menschlichen Zellen erstellen will. Der erste Entwurf des Human Cell Atlas zielt darauf ab Informationen über mindestens 10 Milliarden Zellen zusammen zu tragen.

Abbildung 1. Zellen in der Nasenschleimhaut, in den Lungenbläschen (Alveolen) und in der Darmschleimhaut , die ACE2 und TMPRSS2 exprimieren, werden von SARS-CoV-2 infiziert. (Bild: Credit NIH; Legende: Redn.)

Um diese Informationen zu sammeln, stützt sich das Projekt teilweise auf relativ neue Möglichkeiten zur Sequenzierung von RNA in einzelnen Zellen. Erinnern wir uns daran, dass prinzipiell jede Zelle im Körper das identische DNA-Genom aufweist. Unterschiedliche Zellen verwenden jedoch unterschiedliche Programme, um zu entscheiden, welche Gene aktiviert werden sollen. Sie exprimieren diese Gene in Form von RNA-Molekülen, die dann in Proteine übersetzt werden können. Mittels der Einzelzellanalyse der RNA ist es möglich die Expression von Genen und Aktivitäten innerhalb jedes einzelnen Zelltyps zu charakterisieren.

Basierend auf dem, was über das Virus und die Symptome von COVID-19 bekannt war, konzentrierte sich das Forscherteam auf die Hunderten Zelltypen, die sie in Lunge, Nasengängen und Darm identifizierten. Die Ergebnisse sind im Fachjournal Cell berichtet [1]. Abbildung 1.

Abbildung 2. In den Lungenbläschen findet der Austausch von Sauerstoff und Kohledioxid zwischen den ausgefüllten Hohlräumen und dem Blut in den Lungenkapillaren statt. (Bild und Legende von Redn. eingefügt. Bild modifiziert nach Katherinebutler1331 cc-by-sa-4.0. https://en.wikipedia.org/ )

Ein Filtern der Daten nach Zellen, die ACE2 und TMPRSS2 gemeinsam exprimieren, ließ die Forscher die Liste der Zelltypen in den Nasengängen auf die schleimproduzierenden sekretorischen Becherzellen (Goblet Zellen) eingrenzen. In der Lunge konnte die Aktivität dieser beiden Gene in Zellen nachgewiesen werden, die als Typ-II-Pneumozyten bezeichnet werden; diese Zellen säumen kleine Luftbläschen, sogenannte Alveolen, und helfen, diese offen zu halten. Abbildung 2.

Im Darm waren es die absorbierenden Enterozyten, die eine wichtige Rolle für die Aufnahme von Nährstoffen in den Körper spielen.

Interferon steigert die Expression von ACE2…

Die Daten erbrachten einen unerwarteten weiteren und möglicherweise wichtigen Aspekt. In den beschriebenen Zellen - alle davon befinden sich in Epithelgeweben, welche Körperoberflächen bedecken oder auskleiden -, steigert das ACE2-Gen seine Expression offenbar gleichzeitig mit anderen Genen, von denen bekannt ist, dass sie von Interferon stimuliert werden, einem Protein, das der Körper als Reaktion auf Virusinfektionen produziert.

Im Labor behandelten die Forscher dann Zellkulturen, von Zellen, welche die Atemwege in der Lunge auskleiden, mit Interferon (Interferon alpha, Anm. Redn.). Tatsächlich erhöhte die Behandlung die Expression von ACE2.

Frühere Studien haben gezeigt, dass ACE2 der Lunge hilft, Schäden zu tolerieren. Dass hier eine Verbindung zur Antwort auf Interferon besteht, wurde völlig übersehen. Dies könnte nach Meinung der Forscher daran liegen, dass zuvor noch nicht an diesen spezifischen menschlichen Epithelzellen untersucht wurde.

…dies könnte vermehrtes Andocken des Virus an die Lungenzellen bewirken

Die Entdeckung legt nahe, dass SARS-CoV-2 und möglicherweise andere Coronaviren, die über ACE2 andocken, einen Vorteil aus der natürlichen Abwehrreaktion des Immunsystems ziehen könnten. Wenn der Körper auf die Infektion reagiert, indem er mehr Interferon produziert, führt dies wiederum zur Produktion von mehr ACE2, was die Fähigkeit des Virus erhöht, sich besser an Lungenzellen zu binden. Wenn hier auch noch viel mehr Untersuchungen nötig sind, weist der Befund darauf hin, dass jedwede mögliche Anwendung von Interferon zur Behandlung von COVID-19 eine sorgfältige Überwachung erfordert, um festzustellen, ob und wann es Patienten helfen könnte.

Die neuen Erkenntnisse - aus Daten stammend, die ursprünglich nicht in Hinblick auf COVID-19 erstellt wurden - enthalten mehrere potenziell wichtige neue Anhaltspunkte. Es ist wieder eine Demonstration für den Wert der Grundlagenforschung. Wir können auch sicher sein, dass die Fortschritte an diesen und vielen anderen Fronten angesichts der Bemühungen von Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf der ganzen Welt, sich dieser neuen Herausforderung zu stellen, in beachtenswertem Tempo fortgesetzt werden.


[1] Ziegler, CGK et al. Cell. April 20, 2020. SARS-CoV-2 receptor ACE2 is an interferon-stimulated gene in human airway epithelial cells and is detected in specific cell subsets across tissues

[2] Human Cell Atlas (Broad Institute, Cambridge, MA) https://www.humancellatlas.org/  Siehe dazu : Human Cell Atlas - Reading biology. Video 1,4 min. https://www.youtube.com/watch?time_continue=98&v=nkGeWvLm9Mc&feature=emb_logo


* Dieser Artikel von NIH Director Francis S. Collins, M.D., Ph.D. erschien zuerst (am 5. Mai 2020) im NIH Director’s Blog unter dem Titel: " The Prime Cellular Targets for the Novel Coronavirus." https://directorsblog.nih.gov/2020/05/05/the-prime-cellular-targets-for-the-novel-coronavirus/ Er wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu übersetzt und geringfügig (mit einigen Untertiteln) für den ScienceBlog adaptiert. Reprinted (and translated by ScienceBlog) with permission from the National Institutes of Health (NIH).


Weiterführende Links

  • National Institute of Allergy and Infectious Diseases/NIH: Coronaviruses
  • Shalek Lab (Harvard Medical School and Massachusetts Institute of Technology, Cambridge)
  • Ordovas-Montanes Lab (Boston Children’s Hospital, MA)

 

inge Thu, 07.05.2020 - 00:25

COVID-19: NIH-gesponserte Klinische Studie zeigt Überlegenheit von Remdesivir gegenüber Placebo

COVID-19: NIH-gesponserte Klinische Studie zeigt Überlegenheit von Remdesivir gegenüber Placebo

Do, 30.04.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Medizin Remdesivir, ein Analogon des Nukleosids Adenosin, hemmt die virale Polymerase und damit die Replikation des viralen Genoms. Die vom Pharmakonzern Gilead ursprünglich gegen Ebola entwickelte Substanz wirkt gegen ein breites Spektrum unterschiedlicher Viren. Nach ersten positiven Testungen gegen SARS-CoV-2 Infektionen in den USA und in China wurde Remdesivir in einer NIH-gesponserten randomisierten, kontrollierten Studie an 1063 COVID-19- Patienten getestet und zeigte schnellere Wiederherstellung und niedrigere Letalität als das Placebo.*

Krankenhauspatienten mit schwerer COVID-19-Erkrankung und nachgewiesener Involvierung der Lunge, die Remdesivir erhielten, erholten sich schneller als vergleichbare Patienten, die Placebo erhielten. Dies ergab eine vorläufige Datenanalyse aus einer randomisierten, kontrollierten Studie an 1063 Patienten, die am 21. Februar begann. Die Studie (die sogenannte adaptive COVID-19-Behandlungsstudie - ACTT), die vom National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID), einem Teil der National Institutes of Health, gesponsert wird, ist die erste klinische Studie, die in den USA gestartet wurde, um eine experimentelle Behandlung für COVID-19 zu evaluieren.

Ein unabhängiges Gremium der Daten- und Sicherheitsüberwachung (DSMB), das die Studie beaufsichtigt, kam am 27. April zusammen, um die Daten zu überprüfen und teilte die Zwischenanalyse mit dem Studienteam. Basierend auf ihrer Überprüfung der Daten stellten sie fest, dass aus Sicht des primären Endpunkts, der Zeit bis zur Wiederherstellung - ein Maßstab , die häufig in Influenza-Studien verwendet wird -, Remdesivir dem Placebo überlegen ist. Wiederherstellung wurde in dieser Studie als gesund genug definiert, um aus dem Krankenhaus entlassen zu werden oder zum normalen Aktivitätsniveau zurückzukehren.

Vorläufige Ergebnisse zeigen, dass Patienten, die Remdesivir erhielten, eine um 31% schnellere Genesungszeit hatten als Patienten, die Placebo erhielten (p <0,001). Speziell betrug die mediane Zeit bis zur Genesung 11 Tage bei Patienten, die mit Remdesivir behandelt wurden, verglichen mit 15 Tagen bei Patienten, die Placebo erhielten. Die Ergebnisse deuteten auch auf einen Überlebensvorteil hin, mit einer Sterblichkeitsrate von 8,0% für die Gruppe, die Remdesivir erhielt, gegenüber 11,6% für die Placebogruppe (p = 0,059).

Detailliertere Informationen zu den Versuchsergebnissen, einschließlich umfassenderer Daten, werden in einem demnächst folgenden Bericht verfügbar sein. Im Rahmen der Verpflichtung der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA), die Entwicklung und Verfügbarkeit potenzieller COVID-19-Therapien zu beschleunigen, hat die FDA dauernde und fortlaufende Gespräche mit Gilead Sciences geführt, um Remdesivir für Patienten so schnell wie möglich zur Verfügung zu stellen. Die Studie wurde am 19. April für Neuanmeldungen geschlossen. NIAID wird auch ein Update zu den Plänen für die Weiterführung der ACTT-Studie bereitstellen. Diese Studie war eine adaptive Studie, ausgerichtet um zusätzliche experimentelle Behandlungen zu inkorporieren.

Der erste Studienteilnehmer an der ACTT-Studie war ein Amerikaner, der zurückgeholt wurde, nachdem er auf dem in Yokohama, Japan, angedockten Kreuzfahrtschiff Diamond Princess unter Quarantäne gestellt worden war, und sich im Feber 2020 freiwillig zur Teilnahme an der Klinischen Studie am ersten Studienort, dem Medical Center der University of Nebraska/ Nebraska Medicine gemeldet hatte. Insgesamt 68 Standorte nahmen schließlich an der Studie teil - 47 in den USA und 21 in Ländern in Europa und Asien.

Remdesivir, entwickelt von Gilead Sciences Inc., ist eine experimentelles antivirales Breitband-Agens, das 10 Tage lang über eine tägliche Infusion verabreicht wird. Es hat sich in Tiermodellen als vielversprechend für die Behandlung von SARS-CoV-2-Infektionen (dem Virus, das COVID-19 verursacht) erwiesen und wurde in verschiedenen klinischen Studien untersucht.


* Die eben in News releases ( April 29, 2020) veröffentlichten preliminären Ergebnisse: NIH Clinical Trial Shows Remdesivir Accelerates Recovery from Advanced COVID-19. https://www.niaid.nih.gov/news-events/nih-clinical-trial-shows-remdesivir-accelerates-recovery-advanced-covid-19 wurden von der Redaktion möglichst wortgetreu übersetzt.

Zur Beschreibung der Studie: NIH Clinical Trial of Remdesivir to Treat COVID-19 Begins - Study Enrolling Hospitalized Adults with COVID-19 in Nebraska. https://www.niaid.nih.gov/news-events/nih-clinical-trial-remdesivir-treat-covid-19-begins


 Artikel zu COVID-19 im ScienceBlog:

Redaktion, 19.04.2020. COVID-19: Exitstrategie aus dem Lockdown ohne zweite Infektionswelle. http://scienceblog.at/covid-19-exitstrategie-aus-lockdown

Francis S. Collins, 16.04.2020: Können Smartphone-Apps helfen, Pandemien zu besiegen? http://scienceblog.at/smartphone-apps-helfen-pandemien-besiegen>

Redaktion, 08.04.2020: SARS-CoV-2 – Zahlen, Daten, Fakten zusammengefasst. http://scienceblog.at/sars-cov2-zahlen-daten-fakten

Matthias Wolf, 06.04.2020: "Extrablatt": Ein kleines Corona – How-to. http://scienceblog.at/corona-howto

IIASA, 02.04.2020: COVID-19 - Visualisierung regionaler Indikatoren für Europa. http://scienceblog.at/covid-19-visualisierung-regionaler-indikatoren-für-europa

Inge Schuster, 27.03.2020: Drug Repurposing - Hoffnung auf ein rasch verfügbares Arzneimittel zur Behandlung der Coronavirus-Infektion. http://scienceblog.at/drug-repurposing-arzneimittel-zur-behandlung-der-coronavirus-infektion

Experimenteller Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bereits in klinischer Phase 1-Testung. http://scienceblog.at/impfstoff-gegen-sars-cov-2-in-klinischer-phase-1

Strukturbiologie weist den Weg zu einem Coronavirus-Impfstoff. http://scienceblog.at/strukturbiologie-weist-weg-zu-coronavirus-impfstoff

inge Wed, 29.04.2020 - 23:16

Genom Editierung mit CRISPR-Cas9 - was ist jetzt möglich?

Genom Editierung mit CRISPR-Cas9 - was ist jetzt möglich?

Do, 23.04.2020 — Christina Beck

Icon Molekularbiologie

Christina BeckBakterien haben gelernt sich gegen die sie infizierenden Viren, die sogenannten Bakteriophagen, zu schützen. Auf diesem Schutzmechanismus basiert die CRISPR-Cas9 Technik, eine einfache, billige Methode mit der man innerhalb weniger Stunden die DNA präzise schneiden und nach Wunsch verändern kann. Die Methode funktioniert bei jedem Organismus, an dem sie ausprobiert wurde, – vom Fadenwurm über Pflanzen bis hin zum Menschen - und hat die biologisch-medizinischen Wissenschaften revolutioniert. Die Zellbiologin Christina Beck, Leiterin der Kommunikation der Max-Planck-Gesellschaft, gibt einen Überblick über Entstehung und Anwendung der Methode und spannt einen Bogen von Programmen zur Wiederbelebung bereits ausgestorbener Tiere bis zur Genchirurgie von Erbkrankheiten beim Menschen.*

Die Fortschritte in der genomischen Biotechnologie bieten erstmals vielleicht die Möglichkeit, lang ausgestorbene Arten – oder zumindest „Ersatz“-Arten mit Merkmalen und ökologischen Funktionen ähnlich wie die der ausgestorbenen Originale – zurückzubringen.

Ein Team unter der Leitung von George Church an der Harvard University versucht, bereits ausgestorbene Mammuts wieder zum Leben zu erwecken, indem es das Erbgut seines heute noch lebenden Verwandten, des asiatischen Elefanten, Buchstabe für Buchstabe umschreibt. Abbildung 1. Das ist möglich seit Forschern der Pennsylvania State University 2008 die erste nahezu vollständige Sequenzierung des Erbguts eines ausgestorbenen Wollhaarmammuts gelungen ist und damit theoretisch der Zugriff auf die Information für alle seine Eigenschaften. Mehr als vier Milliarden DNA-Basen wurden dafür dekodiert.

Abbildung 1. Das bereits ausgestorbene Wollhaarmammut soll wiederbelebt werden. (Bild © MPG, HN //)

Das Mammut eignet sich wie kaum ein anderes ausgestorbenes Wirbeltier zur Analyse seines vorzeitlichen Erbguts. Denn die Fossilien der eiszeitlichen Elefanten stammen vorwiegend aus dem Permafrostboden Sibiriens, wo sie relativ gut erhalten bleiben. Der nächste lebende Verwandte des Wollhaarmammuts ist der asiatische Elefant. Nach Erbgutanalysen von Svante Pääbo und seinem Team vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie haben sich der asiatische Elefant und das Wollhaarmammut vor etwa 440.000 Jahren in verschiedene Arten aufgespalten. Das Genom des Wollhaarmammuts und des asiatischen Elefanten unterscheidet sich daher „nur“ um etwa 1,4 Millionen Mutationen: Ein asiatischer Elefant besteht also praktisch bereits zu 99,96 Prozent aus Wollhaarmammut.

Jurassic Park – von der Fiktion zur Realität?

Das Harvard Woolly Mammoth Revival-Team hat 2015 zunächst das Erbgut eines Wollhaarmammuts analysiert und dann von bestimmten Mammutgenen exakte Kopien künstlich hergestellt. Diese wurden erfolgreich in Fibroblasten-Zelllinien des asiatischen Elefanten eingebaut. „Wir haben vor allem Gene genommen, die etwas mit der Kälteresistenz zu tun haben – also Gene für langes Fell, kleinere Ohren, die Einlagerung von Unterhautfett und vor allem für Mammut-Hämoglobin“, erklärte George Church gegenüber den Medien. Es ist ein erster Erfolg, der sich aber schnell relativiert. Denn selbst wenn man sich auf das Wesentliche beschränkt: Um ein dem Mammut stark gleichendes Genom zu erhalten, müssten die Forscher schon ein paar hunderttausend Erbgutabschnitte ersetzen, so die vorsichtige Schätzung. Hinzu kommt: Noch kennen sie gar nicht alle Sequenzen, die für die mammuttypischen Merkmale relevant sind.

Ungeachtet dessen wollen die US -amerikanischen Wissenschaftler aber auch die Expression von Mammut-Mutationen in lebenden Elefantenzellen untersuchen, um Vorhersagen über die Genfunktion zu testen. Wie formt die Evolution dasselbe Gen, um es in einer Linie an tropische Lebensräume anzupassen, während eine alternative Version dieses Gens an kalte Lebensräume angepasst wird? Diese Forschung bildet nicht nur die Grundlage für die Wiederbelebung („de-extinction“) des Mammuts, sondern liefert potenziell wertvolle Einblicke in die Evolution unter verschiedenen Klimabedingungen. Die Erkenntnisse könnten neue Ansätze für die genetische Biotechnologie aufzeigen, um die Anpassung an vom Klimawandel bedrohte wildlebende Tiere zu erleichtern. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das alles noch Zukunftsmusik.

Eine Waffe gegen Bakteriophagen

Um was für eine Technik handelt es sich eigentlich, die die Möglichkeiten der Molekularbiologie in den vergangenen Jahren so grundlegend erweitert hat und die Fantasie der Wissenschaftler beflügelt?

Wir blicken zurück in das Jahr 1987: Bei der Untersuchung von E. coli-Bakterien stoßen japanische Mikrobiologen zum ersten Mal auf ungewöhnliche, sich wiederholende DNA-Sequenzen im Erbgut eines Bakteriums. „Die biologische Bedeutung dieser Sequenzen ist vollkommen unbekannt“, schreiben sie. Wenig später nimmt der spanische Mikrobiologie Francisco Mojica an der Universität von Alicante diese Sequenzen genauer unter die Lupe. Sie lassen sich vorwärts wie rückwärts lesen, wie die Palindrom-Worte „Rentner“ oder „Lagerregal“ in der menschlichen Sprache. Während diese Worte aber durchaus eine Bedeutung haben, ergeben Palindrome im Wortschatz der Genetik keinen Sinn: Sie lassen sich nicht in funktionstüchtige Proteine übersetzen.

Mojica nennt diese Sequenzen Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats – oder kurz CRISPR. 2005 entdeckt er, dass sie mit Ausschnitten aus dem Genom eines Bakteriophagen, eines für Bakterien schädlichen Virus, übereinstimmen. Erstmals äußert er die Vermutung, dass CRIS PR in Bakterien die Funktion eines adaptiven Immunsystems haben könnte.

Zwei Jahre später gelingt einem französischen Wissenschaftler der Firma Danisco, dem weltweit größten Hersteller von Nahrungsmittelzusätzen, bei der Untersuchung von Streptokokken, die zur Herstellung von Joghurt eingesetzt werden, tatsächlich der experimentelle Nachweis: Philippe Horvath und seine Kollegen integrieren Ausschnitte der Phagen-DNA in den CRIS PR-Abschnitt und können so tatsächlich die nächste Phagen-Attacke bekämpfen.

Bakterien sind ständigen Angriffen durch Bakteriophagen ausgesetzt. Denn diese sind nicht in der Lage, sich eigenständig zu vermehren. Sie müssen einen anderen Organismus kapern, in den sie ihr Erbgut einschleusen können. Die vom Phagen eingeschleusten Fremdgene programmieren das Genom des Wirtes um: Das Bakterium produziert nun keine Proteine mehr für sich selbst, sondern wird zu einer kleinen „Phagenfabrik“. Sie arbeitet so lange auf Hochtouren bis die Bakterienzelle voller Phagen ist und platzt, sodass die Phagen freigesetzt werden. (Abbildung 2)

Abbildung 2. Infektion einer Bakterienzelle durch einen Phagen. Der Bakteriophage koppelt an passende Rezeptoren an der Oberfläche des Bakteriums an (a) und injiziert die phageneigene DNA bzw. RNA (b). Dann beginnt die Transkription des Virusgenoms und es kommt zur Produktion der Virusbestandteile (c). Diese werden zu reifen Phagen zusammengebaut (d). Die fertigen Phagen werden durch Auflösung der Wirtszelle befreit (e). Die Zelle platzt und etwa 200 infektiöse Phagen werden frei.

Aber Bakterien haben Abwehrmechanismen entwickelt, um sich gegen solche Infektionen zu wehren. Wenn die Enzyme eines Bakteriums es schaffen, die injizierte Virus-DNA in kleine Stücke zu schneiden, dann kommen andere Enzyme hinzu und bauen diese Fragmente in den CRIS PR-Abschnitt im bakterieneigenen Genom ein. Die seltsam aufgebauten Sequenzen stellen somit eine „Erinnerung“ an zurückliegende Virusinfektionen dar. Es ist eine Art Bibliothek sämtlicher Erreger, mit der das Bakterium schon konfrontiert worden ist. Und diese Bibliothek kann es sogar an seine Nachkommen weitergeben.

Das letzte Puzzle-Teil im CRISPR-CAS-System

Im Jahr 2011 rätselt die französische Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier an der Universität Umeå in Schweden darüber, wie der dahinterliegende Mechanismus der Immunabwehr funktioniert.

Charpentier findet das letzte Puzzleteil im CRISPR-Cas-System, indem sie eine RNA-Sequenzierung bei einem Streptococcus-Bakterium durchführt und dabei auf zwei kurze RNAs stößt: Das Bakterium schreibt nämlich die Fremd-DNA im CRIS PR-Abschnitt in ein RNA-Molekül um, CRISPR-RNA (crRNA) genannt. Diese CRISPR-RNA ist quasi ein molekularer Steckbrief, sie liefert die Erkennungssequenz, mit der das Enzym namens Cas9, eine Nuklease, die entsprechende DNA-Sequenz des eingedrungenen Virus aufspürt. Damit Cas9 aktiv werden kann, bedarf es jedoch einer zweiten kleinen RNA, die die Mikrobiologin als trans-aktivierende CRISPR-RNA (tracrRNA) bezeichnet. Erst der Komplex aus crRNA und tracrRNA führt das Cas-Enzym zum Ziel: Indem Cas9 beide Stränge der Virus-DNA zerschneidet, verhindert es eine erfolgreiche Infektion durch den Bakteriophagen Abbildung 3.

Abbildung 3. Wie sich Bakterien vor einer Zweitinfektion mit Bakteriophagen schützen - ein adaptives Immunsystem (Bild: © MPG, HN //)

Zusammen mit Jennifer Doudna von der University of California in Berkeley gelingt Emmanuelle Charpentier, die heute die Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene in Berlin leitet, ein Jahr später der entscheidende technologische Durchbruch: Sie fusionieren die beiden RNA-Moleküle crRNA und tracrRNA im Labor zu einem einzigen Molekül, einer sogenannten Single Guide RNA. Für den Einsatz der CRISPR/Cas-Methode muss nur noch eine RNA kloniert werden. Die beiden Wissenschaftlerinnen haben damit das Funktionsprinzip von CRISPRCas9, in der Öffentlichkeit gerne als Gen-Schere bezeichnet, radikal vereinfacht.

2013 adaptiert der Biochemiker Feng Zhang, der am Broad Institute des MIT und der Harvard University forscht, CRISPR-Cas9 erfolgreich für die Genom-Editierung in eukaryotischen Zellen. Zhang und seinem Team gelingt die gezielte Genom-Editierung in kultivierten Zellen der Maus und des Menschen. Sie zeigen, dass das CRISPR-Cas-System so programmiert werden kann, dass es verschiedene genomische Abschnitte verändert. George Church, der das Wollhaarmammut wieder zum Leben erwecken will, berichtet in der gleichen Ausgabe des Fachmagazin Science über ähnliche Ergebnisse.

Grundsätzlich ist Genom-Editierung nicht neu – verschiedene Techniken dafür gibt es schon seit Jahren. Was CRISPR so revolutionär macht, ist seine Präzision. Und es ist unglaublich billig und einfach. Mussten Forscher früher Tausende von US -Dollar und Wochen oder Monate im Labor einsetzen, um ein Gen zu verändern, so kostet es heute noch etwa 75 US -Dollar und dauert lediglich ein paar Stunden. Und diese Technik hat bei jedem Organismus, an dem sie ausprobiert wurde, funktioniert – vom Fadenwurm über Pflanzen bis hin zum Menschen.

CRISPR ist heute das heißeste Forschungsgebiet. 2011 gab es weniger als 100 Veröffentlichungen über CRISPR, 2018 waren es schon mehr als 17.000. Und es werden immer mehr, mit neuen Techniken zur Manipulation von Genen, Verbesserungen in der Präzision sowie weiteren Arten von CRIS PR-Proteinen, die ebenfalls als Gen-Editoren arbeiten. Cas13, zum Beispiel, kann RNA statt DNA editieren. „Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem die Effizienz der Genbearbeitung auf einem Niveau liegt, das eindeutig sowohl therapeutisch als auch für eine Vielzahl anderer Anwendungen nützlich sein wird“, sagt Jennifer Doudna in einem Interview.

Und genau deshalb gibt es schon seit einigen Jahren einen intensiven Rechtsstreit darüber, wem die potenziell lukrativen Patentrechte für die CRISPR-Technologie zugesprochen werden sollen. Im September 2018 wies ein US -Bundesberufungsgericht die Einwände der University of California in Berkeley zurück und bestätigte die Patente des Broad Institute für einige CRISPR-Anwendungen. Die europäischen Regulierungsbehörden wiederum haben der Universität grundlegende Patente in Europa erteilt. Diese decken die Single Guide RNA für CRISPR-Cas9 in allen Bereichen, einschließlich eukaryotischer Zellen, weitgehend ab. 2019 hat die University of California in USA neue Dokumente vorgelegt und ficht damit die Entscheidung der US -amerikanischen Behörden an. Die Patentschlacht geht also weiter.

Genom-Editierung – Chancen und Risiken

Viele Mediziner sind überzeugt, dass sie durch das Editieren von Genen zum Beispiel Erbkrankheiten behandeln können, bei denen ein oder mehrere Gene nicht richtig funktionieren. Sie wollen es bei Mutationen anwenden, die beispielsweise die Huntington-Krankheit oder Mukoviszidose auslösen. Versuche an Mäusen haben gezeigt, dass fehlerhafte Genabschnitte, wie sie auch bei menschlichen Erbkrankheiten auftreten, durch das Editieren von Genen entfernt und die entsprechenden Krankheitsbilder behandelt werden können.

Eines der größten Probleme beim Versuch, die menschliche DNA zu verändern, besteht in den sogenannten Off-Target-Effekten. Diese entstehen, wenn Cas9 ein Stück DNA schneidet, auf das es nicht programmiert wurde. Das ist wie bei der Programmierung des Navigationsgerätes im Auto beispielsweise mit der Adresse „Restaurant“. In jeder Stadt führt diese Suche zu mehreren individuellen Standorten. Aber welcher Standort ist der richtige? In der gleichen Weise wird Cas9 durch die Guide RNA zu seinem DNA-Ziel geleitet. Wenn die von der Guide RNA angegebene Adresse nicht eindeutig ist – was bei lediglich 20 Basenpaaren leicht möglich ist –, wird Cas9 an mehrere Stellen geführt, wo es die DNA schneidet. Das könnte zu unerwünschten und schwerwiegenden Nebenwirkungen, einschließlich Krebs, führen. Für jede therapeutische Anwendung beim Menschen mit Hilfe von CRISPR ist die Minimierung dieser Off-Target-Effekte daher von größter Bedeutung.

Es gibt aber auch schon erste erfolgversprechende Ansätze. So wurden zwei Patientinnen mit Beta-Thalassämie bzw. Sichelzellanämie mit der CRISPR-Technik behandelt. Bei beiden Krankheiten ist die Herstellung des Blutfarbstoffs Hämoglobin gestört, beide konnten bislang nur mit häufigen Bluttransfusionen behandelt werden, die lebensverkürzende Nebenwirkungen haben. Nun kommen die Patientinnen seit Monaten ohne Bluttransfusionen aus, wie das Bostoner Online-Magazin STAT im November 2019 vermeldete. Die Gentherapien wurden von den Biotech-Firmen Vertex Pharmaceuticals und CRISPR Therapeutics entwickelt. Emmanuelle Charpentier hat CRISPR Therapeutics gegründet und zeigt sich gegenüber der Presse glücklich, „dass CRISPR-basierte Gentherapien nach einer einzigen Behandlung einen heilsamen Effekt für Patienten mit Beta-Thalassämie und Sichelzellanämie haben.“ Aber noch ist die Studie nicht abgeschlossen, insgesamt 45 Patienten sollen in deren Rahmen therapiert werden. Bei vielen von ihnen hat die Behandlung noch nicht einmal begonnen. Und noch kann man nicht sagen, ob die Therapie für immer wirkt und ob sie – ggf. zu einem viel späteren Zeitpunkt – Nebenwirkungen zeigt.


* Der Artikel ist erstmals unter dem Title: Genome Editing mit CRIPR-Cas9" in BIOMAX 35 (Winter 2019/2020) der Max-Planck-Gesellschaft erschienen https://www.max-wissen.de/318686/BIOMAX-35-web.pdf und wurde freundlicherweise von der Autorin ScienceBlog.at zur Verfügung gestellt. Der Artikel wurde praktisch unverändert in den Blog übernommen.


Weiterführende Links

Gen-editing mit CRISPR/Cas9 Video 3:13 min (deutsch) , Max-Planck Gesellschaft (2016) (Standard-YouTube-Lizenz ) https://www.youtube.com/watch?v=ouXrsr7U8WI

Ricki Lewis, 28.11.2019: Wenn das angepeilte Target nicht das tatsächliche Target ist - ein Grund für das klinische Scheitern von Wirkstoffen gegen Krebs. http://scienceblog.at/wenn-das-angepeilte-target-nicht-das-tats%C3%A4chliche-target-ist

 

Francis S. Collins, 02.02.2017: Finden und Ersetzen: Genchirurgie mittels CRISPR/Cas9 erscheint ein aussichtsreicher Weg zur Gentherapie. http://scienceblog.at/finden-und-ersetzen-genchirurgie-mittels-crispr-cas9-erscheint-ein-aussichtsreicher-weg-zur-genthera#.

 

Artikel von Christina Beck im ScienceBlog:

Christina Beck, 05.04.2018: Endosymbiose - Wie und wann Eukaryonten entstanden http://scienceblog.at/endosymbiose-wie-und-wann-eukaryonten-entstanden#.  

Christina Beck, 29.03.2018:Ursprung des Lebens - Wie Einzeller kooperieren lernten. http://scienceblog.at/ursprung-des-lebens-wie-einzeller-kooperieren-lernten#.

 

inge Wed, 22.04.2020 - 13:25

COVID-19: Exitstrategie aus dem Lockdown ohne zweite Infektionswelle

COVID-19: Exitstrategie aus dem Lockdown ohne zweite Infektionswelle

Do, 19.04.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Medizin Eine Lockerung des Lockdowns bringt zwar vorübergehende Erleichterung, kann jedoch zu einer rückkehrenden Welle der COVID-19-Epidemie führen. Eine zweite Infektionswelle wird dann ein erneutes vollständiges Lockdown zur Folge haben mit schwerwiegenden wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen. Basierend auf dem bereits verstandenen Ablauf der Infektion schlägt ein transdisziplinäres Team von Wissenschaftern intermittierendes Arbeiten als Übergangsstrategie vor: diese ermöglicht eine sofortige Rückkehr zu Wirtschaftstätigkeit und Ausbildung und verhindert gleichzeitig eine zweite Welle der Epidemie.

Weltweit habe viele Länder Lockdowns eingeführt, die zwar helfen die Ausbreitung von COVID-19 zu unterdrücken, jedoch verheerende, nicht nur die Wirtschaft betreffende Folgen haben. Ein transdisziplinäres Team israelischer Wissenschafter schlägt nun Ausstiegsstrategien aus der Sperrung vor, die eine nachhaltige, wenn auch reduzierte Wirtschaftstätigkeit ermöglichen.[1]

Die Wissenschafter - es sind dies die Systembiologen Prof. Uri Alon und Prof.Ron Milo mit ihren Mitarbeitern (Computational Biology, Weizmann Institut), der Technologieleiter von Applied Materials (Rehovot) Boaz Dudovich, Prof. Nadav Davidovich (Health Systems Management, Ben-Gurion University), Prof. Amos Zahavi (Political Science, Tel Aviv University), Prof. Eran Yashiv (The Eitan Berglas School of Economics, Tel Aviv University) und Dr. Hagit Olanowski (Health and Environmental Risk Management, SP Interface) - wenden mathematische Modelle an, um zu zeigen, dass intermittierendes Arbeiten - ein zyklischer Zeitplan von 4-tägigem Arbeiten und 10-tägiger Sperre oder ähnlichen Varianten - unter bestimmten Bedingungen sowohl die Epidemie unterdrücken als auch gleichzeitig eine Teilzeitbeschäftigung ermöglichen kann.

Dieser Zyklus orientiert sich an dem für das Virus charakteristischen zeitlichen Ablauf der Infektion und ist damit gegen das Virus selbst ausgerichtet. Durch eine Kombination aus reduzierter Expositionszeit und einem Anti-Phasen-Effekt wird die Reproduktionszahl R (diese gibt an, wie viele Infektionen auf direktem Weg übertragen werden) verringert: Diejenigen, die an Arbeitstagen infiziert werden, erreichen an Sperrtagen - also zuhause - eine maximale Infektiosität und können je nach Verlauf in Quarantäne bleiben oder wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren.

Die Zahl der Arbeitstage lässt sich dabei an die Beobachtungen anpassen. Währenddessen müssen epidemiologische Maßnahmen in vollem Umfang fortgesetzt werden; diese schließen Hygiene, physische Distanzierung, räumliche Trennung, sowie umfassende Testung und Kontaktverfolgung ein.

Das Wissenschafter-Team hat nun eine kurze Zusammenfassung der Vier-Tage-Arbeit/Zehn-Tage-Sperrstrategie verfasst und dem ScienceBlog zur Verbreitung zur Verfügung gestellt [2]. Wir haben diesen Text möglichst wortgetreu übersetzt und durch einige Abbildungen aus [1 - 3] ergänzt:

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Intermittierendes Arbeiten: Eine sofortige und praktikable Strategie für die Rückkehr zur Wirtschaftstätigkeit, die eine zweite Welle von COVID-19 verhindert [2]

Autoren: Uri Alon, Ron Milo, Nadav Davidovich, Amos Zahavi und Hagit Ulanovsky

Das Problem: Eine Lockerung des Lockdowns bringt zwar vorübergehende Erleichterung, kann jedoch zu einer rückkehrenden Welle der COVID-19-Epidemie führen. Eine zweite Infektionswelle wird ein erneutes vollständiges Lockdown zur Folge haben mit schwerwiegenden wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen. Abbildung 1.

Die Lösung: Intermittierendes Arbeiten.Diese Strategie sollte zu bestehenden epidemiologischen Maßnahmen hinzugefügt werden, einschließlich physischer Distanzierung, Hygiene, weit verbreiteter Verwendung von Testungen und Kontaktverfolgung, Beachtung von Hochrisikoregionen und Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen.

Abbildung 1. Eine Lockerung des Lockdowns kann zu einer erneuten Infektionswelle führen. A: schematisch dargestellt (Bild aus [1]), B: Die zweite Infektionswelle in der Influenza-Pandemie 1918/19 hat zu einem massiven Anstieg der Todesfälle geführt (Bild : US National Museum of Health and Medicine; Wikimedia)

Intermittierendes Arbeiten in Wirtschaft und Schulsystem

Im Zentrum der Strategie steht die Rückkehr des Schulsystems zum Unterricht in zwei Gruppen, die ein intermittierendes Arbeiten in der Wirtschaft ermöglichen. Zu diesem Zweck wird die Bevölkerung in zwei Gruppen von Haushalten aufgeteilt:

Jede Gruppe arbeitet an vier Tagen von Montag bis Donnerstag und beginnt dann mit einer 10 tägigen Sperrzeit. Dieser Zyklus wiederholt sich. Während des Lockdowns einer Gruppe arbeitet die andere Gruppe. Der spezifische Zeitplan von vier Arbeitstagen und dann zehn Sperrtagen wird ausgewählt, da er die Epidemie unterdrückt und die Anzahl der Fälle verringert, wie nachstehend erläutert wird. Abbildung 2.

Abbildung 2. Die Exitstrategie 4 Tage Arbeiten/10 Tage Sperrzeit (A) orientiert sich an der Zeitskala des Infektionsverlaufs (B) (Bild A aus [2], Bild B stammt aus "SARS-CoV-2 – Zahlen, Daten, Fakten zusammengefasst" [3])

Dem Schulsystem wird aufgrund seiner Bedeutung für Bildung und Arbeit zentrale Bedeutung zugemessen: Solange Kinder zu Hause sind, können viele Eltern nicht zur Arbeit gehen. Das Schulsystem beginnt mit einer Routine, in der die Hälfte der Schüler von Montag bis Donnerstag und die andere Hälfte am folgenden Montag bis Donnerstag lernt. Dies ermöglicht auch kleinere Klassen, welche eine physische Distanzierung erleichtern.

Während des gesamten Zeitraums arbeiten unabkömmliche Mitarbeiter wie gewohnt weiter. Ausgewählte Berufszweige mit niedrigem Infektionsrisiko können auch kontinuierlich arbeiten. Alle ersetzbaren Arbeitnehmer schließen sich ihrer Haushaltsgruppe an und arbeiten nur während der 4 Tage ihrer Gruppe.

Eindämmung der Epidemie

Es wird erwartet, dass mit dieser Strategie die Replikationszahl unter eins reduziert wird. Dies führt zu einem exponentiellen Rückgang der Anzahl neuer Fälle und verhindert ein Wiederauftreten der Epidemie.

Die Strategie greift das Virus auf drei Arten an:

(i) Sie reduziert die Zeit zur Infektion außerhalb des Hauses um etwa 70% im Vergleich zu einer vollständigen Aufhebung des Lockdowns.

(ii) Sie verringert das Infektionsrisiko, da aufgrund der Verwendung von zwei Gruppen die Anzahl der Personen an Arbeitstagen um die Hälfte verringert wird.

(iii) Sie wendet die Zeitskalen des Infektionsablaufs gegen das Virus selbst an. Eine mit Korona infizierte Person ist an den ersten drei Tagen - der Latenzzeit - nicht infektiös. Somit erreichen diejenigen, die während der 4 Arbeitstage infiziert wurden, während ihrer nachfolgenden Sperrtage eine maximale Infektiosität, wodurch neue Infektionen bei der Arbeit verhindert werden. Abbildung 2b. Somit werden nur die im gleichen Haushalt lebenden Personen dem Risiko ausgesetzt; treten Symptome bei einem  Haushaltsmitglied auf, kann der gesamte Haushalt unter Quarantäne gestellt werden. Abbildung 3.

Abbildung 3.Gestaffelte zyklische Strategie von 4 Tage Arbeit: 10 Tage Sperre; die Bevölkerung ist in zwei Haushaltsgruppen geteil, die abwechselnd arbeiten. (Modell: deterministisches SEIR Erlang Modell mit einer mittleren Latenzzeit von 3 Tagen und einer darauf folgenden Dauer der Infektiosität von 4 Tagen; Bild aus [1])

Anmerkung: die Analyse basiert auf mathematischen Modellen und der wissenschaftlichen Literatur und sollte gemeinsam mit der lokalen epidemiologischen Analyse betrachtet werden.

Wann kann intermittierendes Arbeiten beginnen?

Mit intermittierendem Arbeiten kann begonnen werden, sobald durch den Lockdown die Zahl neuer Fälle konstant zurückgeht. Das Konzept ist allerdings bis jetzt (20. April 2020) noch nicht umgesetzt; es erscheint ratsam, das Programm erst in bestimmten Regionen durchzuführen, bevor man es im ganzen Land startet. Nach einem Monat intermittierender Arbeit kann man dann die Ergebnisse überprüfen und entscheiden, ob man die Zahl der Arbeitstage verändert und an sich verändernde Bedingungen anpasst. Das Programm kann mit der vollständigen Rückkehr zur Arbeit enden, sobald wirksame Maßnahmen (wie in Südkorea) entwickelt sind, einschließlich Schnelltests und Kontaktisolierung.

Wir betonen, dass wir diese Strategie nicht für sich allein umgesetzt wissen wollen, sondern in Kombination mit anderen Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie, um vielen Wirtschaftszweigen den Beginn einer vorhersehbaren Perspektive zu bieten.

Positive Auswirkungen auf die Wirtschaft

Der Plan bietet 40% Teilzeitbeschäftigung (4 von 10 Arbeitstagen im zwei Wochen Rhythmus) für Millionen von Arbeitslosen. Dies erhöht das Einkommen der Arbeitnehmer und verringert das Risiko einer Minderung von Qualifikationen aufgrund längerer Arbeitslosenzeiten, wie sie für schwere Wirtschaftskrisen charakteristisch sind. Der Plan bietet vorhersehbare und nahezu kontinuierliche, wenn auch reduzierte wirtschaftliche Aktivitäten. Vorhersehbarkeit reduziert Stress und stärkt das Vertrauen in die Wirtschaft, das für die Erholung unerlässlich ist. Zur Steigerung der Prodktivität können Arbeitstage auch längere Arbeitszeiten und Schichtarbeit enthalten. Während der Arbeitstage kann die Bevölkerung medizinische Untersuchungen und Behandlungen durchführen lassen, die derzeit unterbunden werden, um den kumulativen „nicht COVID-bedingten“ Gesundheitsschaden des Lockdowns zu verringern.

Fazit

Intermittierende Arbeit ist eine sofortige und praktikable Strategie für die Rückkehr zur Wirtschaftstätigkeit, die eine zweite Infektionswelle von COVID-19 verhindert.


 

[1]Omer Karin et al.,  (07.04.2020): Adaptive cyclic exit strategies from lockdown to suppress COVID-19 and allow economic activity. https://medium.com/@urialonw/adaptive-cyclic-exit-strategies-from-lockdown-to-suppress-covid-19-and-allow-economic-activity-4900a86b37c7                                      

[2] Uri Alon et al.,(19.04.2020): Intermittent work: An immediate and feasible strategy for a return to economic activity that prevents a second wave of COVID-19. https://docs.google.com/document/d/1uWimqAgOf0624IWkwCzi4e1VFU7OOpKXeZ4UncfaEOU/edit

 

[3] Redaktion, (08.04.2020): SARS-CoV-2 – Zahlen, Daten, Fakten zusammengefasst. http://scienceblog.at/sars-cov2-zahlen-daten-fakten

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Uri Alon: homepage https://www.weizmann.ac.il/mcb/UriAlon/homepage

Ron Milo: homepage https://www.weizmann.ac.il/plants/Milo/home


 

inge Sat, 18.04.2020 - 16:22

Können Smartphone-Apps helfen, Pandemien zu besiegen?

Können Smartphone-Apps helfen, Pandemien zu besiegen?

Do, 16.04.2020 — Francis S. Collins

Francis S. CollinsIcon MedizinSolange es keine wirksamen Medikamente , keine vorbeugende Impfung gegen COVID-19 gibt, ist das öffentliche Leben weltweit enormen Einschränkungen unterworfen und gravierende soziale, wirtschaftliche und psychologische Auswirkungen sind die Folge. Mobile Apps zur Kontaktverfolgung infizierter Personen können dazu beitragen, die Übertragung der Infektion einzudämmen und damit die Ausgangsbeschränkungen zu lockern. Dabei ist aber eine richtige Balance zwischen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Wahrung der Persönlichkeitsrechte zu finden. Francis S. Collins, Direktor der US-National Institutes of Health (NIH) und ehem. Leiter des "Human Genome Project", gibt einen Überblick über diese Aktivitäten.*

Die meisten von uns haben In den letzten Wochen viel Zeit damit verbracht, sich mit der durch das neue Coronavirus hervorgerufenen Krankheit (COVID-19) zu befassen und darüber nachzudenken, was erforderlich ist, um diese und auch zukünftige pandemische Bedrohungen zu bekämpfen. Wenn es Zeit wird, dass die Menschen aus ihrer häuslichen Isolation herauskommen, wie können wir dann eine zweite Infektionswelle vermeiden? Ein entscheidender Aspekt ist hier die Entwicklung besserer Methoden, um die rezenten Kontakte von Personen zu verfolgen, die positiv auf den Krankheitserreger getestet wurden - im aktuellen Fall ein hochinfektiöses, neuartiges Coronavirus.

In der üblichen Verfolgung von Kontakten ist ein Team von Mitarbeitern im öffentlichen Gesundheitswesens involviert, die telefonisch oder in persönlichen face-to-face Gesprächen sich mit einzelnen Personen unterhalten. Es ist dies ein zeitaufwändiger methodischer Prozess, der normalerweise nach Tagen bemessen wird und in komplexen Situationen mit Vielfach-Kontakten sogar Wochen dauern kann. Forscher schlagen nun vor, die digitale Technologie zu nutzen, um die Kontaktverfolgung viel schneller, vielleicht in nur wenigen Stunden durchzuführen.

Kontaktverfolgung mittels digitaler Technologie

Die meisten Smartphones sind mit drahtloser Bluetooth-Technologie ausgestattet, die ein Protokoll aller in der Nähe aktiven mobilen Opt-In-Apps erstellt - einschließlich der Opt-In-Apps auf den Telefonen von Personen in der Nähe. Dies hat eine Reihe von Forschungsteams auf die Idee gebracht eine App zu erstellen, um Einzelpersonen über ihr Expositionsrisiko zu informieren. Insbesondere wenn ein Smartphone-Benutzer heute positiv auf COVID-19 getestet wird, wird jeder in seinem aktuellen Bluetooth-Protokoll anonym benachrichtigt und der Rat erteilt, sich zu Hause aufzuhalten. In einem kürzlich in der Fachzeitschrift Science veröffentlichten Artikel hat eine britische Forschungsgruppe darauf hingewiesen, dass eine solche digitale Verfolgung in den kommenden Monaten wertvoll sein könnte, um unsere Chancen zu verbessern COVID-19 unter Kontrolle zu halten [1].

Unter Verwendung der bereits veröffentlichten Daten zu den COVID-19-Ausbrüchen in China, Singapur und an Bord des Kreuzfahrtschiffes Diamond Princess hat das britische Team unter der Leitung von Luca Ferretti, Christophe Fraser und David Bonsall (Universität Oxford) seine Analysen begonnen. Mit einem Schwerpunkt auf Prävention haben die Forscher die verschiedenen Übertragungswege verglichen, von Menschen mit und ohne Symptome der Infektion.

Basierend auf diesen Daten kamen sie zu dem Schluss, dass die herkömmliche Kontaktverfolgung zu langsam war, um mit den sich schnell ausbreitenden COVID-19-Ausbrüchen Schritt zu halten. Während der drei untersuchten Ausbrüche hatten die mit dem neuen Coronavirus infizierte Personen eine mittlere Inkubationszeit von etwa fünf Tagen bevor sie Symptome von COVID-19 zeigten. Zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Übertragungen während der Inkubationszeit dürfte nach Schätzung der Forscher von symptomlosen Individuen gekommen sein. Traten letztendlich Symptome auf, wurde eine infizierte Person dann getestet wurde und erhielt eine COVID-19-Diagnose, so hätte ein Gesundheitsteam noch mindestens einige zusätzliche Tage benötigt, um die Kontaktverfolgung mit herkömmlichen Mitteln durchzuführen. Bis dahin hätte es kaum eine Chance gegeben, den Ausbruch zu überholen, indem man die Kontakte der infizierten Person isoliert hätte, um die Übertragungsrate zu verlangsamen.

Als die Forscher die Situation in China untersuchten, stellten sie fest, dass die verfügbaren Daten einen Korrelation zwischen der Einführung von Smartphone-Apps zur Kontakt-Verfolgung und der Entstehung einer offensichtlich anhaltenden Eindämmung der COVID-9-Infektion aufweisen. Ihre Analysen zeigten, dass dies auch in Südkorea der Fall war, wo Daten, die über eine Smartphone-App gesammelt wurden, verwendet wurden, um eine Quarantäne anzuempfehlen.

Ethische, rechtliche und soziale Probleme einer Kontaktverfolgung

Trotz der möglichen Vorteile im Bekämpfen oder sogar im Abwenden von Pandemien haben die britischen Forscher zugegeben, dass die digitale Kontakt-Verfolgung einige wichtige ethische, rechtliche und soziale Probleme aufwirft. In China mussten die Menschen die digitale Rückverfolgungs-App auf ihren Handys installieren, wenn sie sich aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft hinaus wagen wollten. Die App hat auch ein farbcodiertes Warnsystem aufgezeigt, um die Bewegungen einer Person in einer Stadt oder Region einzuschränken oder zu lockern. Die chinesische App leitete außerdem die Informationen, die sie über die Bewegungen der Telefonbenutzer und den COVID-19-Status gesammelt hatte, an eine zentrale Datenbank weiter, was ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit und des Datenschutzes personenbezogener Daten aufwirft.

In dem neuen Artikel spricht sich das Oxford-Team, zu dem auch ein Bioethiker gehörte, für einen verstärkten sozialen Dialog darüber aus, wie Digital Tracing am besten zum Nutzen der menschlichen Gesundheit eingesetzt werden kann. Dies ist eine weitreichende Diskussion mit Auswirkungen, die weit über die Zeit der Pandemie hinausgehen. Das Team hat zwar Daten zur digitalen Kontaktverfolgung für COVID-19 analysiert, die Algorithmen, die diese Apps steuern, können jedoch angepasst werden, um die Ausbreitung anderer häufiger Infektionskrankheiten - beispielsweise der saisonalen Influenza - zu verfolgen.

Die Autoren der Studie haben noch einen weiteren wichtigen Punkt angesprochen. Selbst die fortschrittlichste digitale Tracing-App ist keine große Hilfe, wenn Smartphone-Benutzer sie nicht herunterladen. Ohne eine weitreichende Installation können die Apps nicht genügend Daten erfassen, um eine effektive digitale Nachverfolgung zu ermöglichen. Tatsächlich schätzen die Forscher, dass etwa 60 Prozent der neuen COVID-19-Fälle in einer Gemeinde entdeckt werden müssten - und ungefähr der gleiche Prozentsatz der zurückverfolgten Kontakte -, um die Ausbreitung des tödlichen Virus zu unterdrücken.

Bei solchen Zahlen arbeiten App-Designer hart daran, die richtige Balance zwischen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Wahrung der Persönlichkeitsrechte zu finden. Dazu gehört der NIH-Stipendiat Trevor Bedford vom Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle. Er und seine Kollegen haben gerade NextTrace gestartet, ein Projekt, das darauf abzielt, eine Opt-In-App-Community für die „digitale partizipative Kontaktverfolgung“ von COVID-19 aufzubauen. Hier bei NIH haben wir ein Team, das sich aktiv mit der Technologie befasst, mit der die Vorteile erzielt werden können, ohne die Privatsphäre übermäßig zu beeinträchtigen.

Bedford betont, dass er und seine Kollegen nicht versuchen, bereits laufende Bemühungen zu wiederholen. Sie möchten vielmehr mit anderen zusammenarbeiten, um eine wissenschaftlich und ethisch fundierte Grundlage für die digitale Verfolgung zu schaffen, die auf die Verbesserung der Gesundheit der gesamten Menschheit abzielt.


[1] Quantifying SARS-CoV-2 transmission suggests epidemic control with digital contact tracing. Ferretti L, Wymant C, Kendall M, Zhao L, Nurtay A, Abeler-Dörner L, Parker M, Bonsall D, Fraser C. Science. 2020 Mar 31. [Epub ahead of print]


* Dieser Artikel von NIH Director Francis S. Collins, M.D., Ph.D. erschien zuerst (am 9. April 2020) im NIH Director’s Blog unter dem Titel: "Can Smart Phone Apps Help Beat Pandemics?" https://directorsblog.nih.gov/2020/04/09/can-smart-phone-apps-help-beat-pandemics/. Er wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu übersetzt und geringfügig (mit einigen Untertiteln) für den ScienceBlog adaptiert. Reprinted (and translated by ScienceBlog) with permission from the National Institutes of Health (NIH).


 

 

inge Thu, 16.04.2020 - 00:39

SARS-CoV-2 – Zahlen, Daten, Fakten zusammengefasst

SARS-CoV-2 – Zahlen, Daten, Fakten zusammengefasst

Mi, 08.04.2020 — Redaktion

RedaktionIcon MedizinBereits vor drei Jahren haben wir über die Datenbank "BioNumbers" (- "database of key numbers in molecular and cell biology") berichtet [1,2], auf der quantitative biologische Daten in allen Details schnellstens aufgerufen werden können. Der Biologe Ron Milo (Professor am Weizmann-Institut, Rehovot), einer der Gründer der Datenbank, hat nun zusammen mit dem Biophysiker Rob Phillips (Professor am Caltech, Pasadena) und ihren Studenten Yinon Bar-On und Avi Flamholz die Datenbank erweitert: Sie haben Hunderte Studien - vor allem aus jüngster Zeit- zu Coronaviren kritisch durchgesehen und aus diesen die wichtigsten Informationen zur Biologie des Sars-CoV-2 Virus selbst und zur Infektion mit dem Virus zusammengefasst [3]. Von der Infektion über die Ausbreitung des Virus bis hin zu Ansätzen für Prävention und Therapie bieten die quantitativen Daten eine überaus wertvolle Basis für alle, die an der Eindämmung der Pandemie arbeiten.*

Die derzeitige SARS-CoV-2-Pandemie ist eine schmerzliche Erinnerung an die Tatsache, dass die Virendynamik - ob bei einem einzelnen menschlichen Wirt oder auch bei einer, die Kontinente überziehenden Infektionswelle - meist eine Geschichte der Zahlen ist. In der folgenden Zusammenfassung wird eine kuratierte grafische Quelle über die wichtigsten Zahlen bereitgestellt, die helfen soll, das Virus zu verstehen, das zu unserer aktuellen globalen Krise führte. Die Zusammenfassung dreht sich um zwei große Themen:

  1. die Biologie des Virus selbst und
  2. die Merkmale der Infektion eines einzelnen menschlichen Wirts.

Die Zusammenfassung enthält die Schlüsselzahlen für SARS-CoV-2, die hauptsächlich auf von Experten geprüfter Literatur (peer-reviewed) basieren (und im Originaltext [3] mit den entsprechenden Referenzen belegt sind). Die Leser sollen sich jedoch daran erinnern, dass noch viel Unsicherheit besteht und sich das Wissen über diese Pandemie und das Virus, das diese antreibt, rasch weiterentwickelt.

In den folgenden Abschnitten sind vereinfachte Berechnungen vorgestellt, welche die Einblicke veranschaulichen, die sich aus der Kenntnis einiger Schlüsselzahlen und der Verwendung quantitativer Logik ergeben. Diese Berechnungen dienen dazu, unsere Einsicht zu verbessern, ersetzen jedoch keine detaillierte epidemiologische Analyse.

1.Wie lange dauert es bis eine infizierte Person eine Million Infizierter generiert?

Wenn sich alle so wie gewohnt verhalten, wie lange würde es dauern, bis sich von einer Person ausgehend die Pandemie auf eine Million infizierter Opfer ausbreitet?

Die Basisreproduktionszahl R​0 gibt an, dass jede Infektion auf direktem Weg 2 bis 4 weitere Infektionen erzeugt, sofern keine Gegenmaßnahmen wie beispielsweise soziale Distanzierung getroffen werden. Sobald man infiziert ist, dauert es eine gewisse Zeit, die sogenannte Latenzzeit, bevor man das Virus übertragen kann. Die derzeit beste Schätzung der mittleren Latenzzeit sind ungefähr 3 Tage, darauf folgen ca. 4 Tage der nahezu maximalen Infektiosität. Die genaue Dauer variiert bei den einzelnen Patienten und einige sind wesentlich länger ansteckend. Abbildung 1.

Abbildung 1. Zeitlicher Verlauf der von einem Patienten ausgehenden Infektion. Die Schätzungen sind an Parametern des Bevölkerungsdurchschnitts in China angepasst und beschreiben nicht die interindividuelle Variabilität

Bei Verwendung von R​0 ​≈ 4 vervierfacht sich die Anzahl der Fälle ca. alle 7 Tage oder verdoppelt sich alle ≈3Tage. Ein 1000-faches Wachstum (von einem Fall auf 10​3​) erfordert 10 Verdopplungen (210 = 1024); 3 Tage × 10 Verdopplungen = 30 Tage oder ungefähr ein Monat. Wir erwarten also ein 1000-faches Wachstum in einem Monat, ein Wachstum auf eine Million (10​6​) in zwei Monaten und auf eine Milliarde (10​9​) in drei Monaten.

Auch wenn diese Berechnung stark vereinfacht ist und die Auswirkungen von „Superverbreitern“, Herden-Immunität und unvollständigen Testungen dabei ignoriert werden, zeigt sie doch ganz deutlich, dass sich Viren in einem enormen Tempo verbreiten können, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Dies veranschaulicht, warum es entscheidend ist, die Verbreitung des Virus durch Maßnahmen einer sozialen Distanzierung einzudämmen.

Was ist die Berstgröße (burst size) und die Replikationszeit des Virus?

Zwei wichtige Merkmale des viralen Lebenszyklus sind die Zeit, die er benötigt, um neue infektiöse Nachkommen zu produzieren, und die Anzahl der Nachkommen, die jede infizierte Zelle produziert. Die Ausbeute an neuen Virionen, die pro infizierter Zelle freigesetzt werden - die Berstgröße -, ist in vivo sehr schwierig zu bestimmen. Daher greifen Forscher normalerweise auf das Messen dieser Werte in Gewebekulturen zurück. Abbildung2.

Abbildung 2.Innerhalb von 10 Stunden produziert eine infizierte Zelle rund 1000 neue Virionen. (* bedeutet größenordnungsmäßig; die Experimente wurden in Zellkulturen ausgeführt).

2. Wie wirkt sich soziale Distanzierung aus?

Ein stark vereinfachtes, quantitatives Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit sozialer Distanzierung:

Angenommen, Sie sind infiziert und treffen im Laufe eines Arbeitstages, auf dem Weg zur Arbeit, im privaten Umgang oder bei Besorgungen auf 50 Personen. Um die Zahlen rund zu machen, nehmen wir weiter an, dass Sie bei jeder dieser Begegnungen eine 2%-ige Chance haben, das Virus zu übertragen, sodass Sie wahrscheinlich jeden Tag eine neue Person infizieren. Wenn Sie 4 Tage lang infektiös sind, infizieren Sie durchschnittlich 4 andere Personen, was ungefähr dem höheren R​0​-Werten für SARS-CoV-2 entspricht, wenn keine soziale Distanzierung besteht. Wenn Sie jedoch aufgrund von sozialer Distanzierung jeden Tag auf 5 Personen (noch besser auf weniger) treffen, infizieren Sie 0,1 Personen pro Tag oder 0,4 Personen, bevor Sie weniger infektiös werden. Der gewünschte Effekt der sozialen Distanzierung besteht darin, dass jede vorliegende Infektion weniger als 1 Neuinfektion hervorruft.

Eine effektive Reproduktionszahl (R​e​) kleiner als 1 wird sicherstellen, dass die Anzahl der Infektionen letztendlich zurückgeht. Es ist von entscheidender Bedeutung, schnell R​e​ <1 zu erreichen und dies ist wesentlich besser erreichbar ist, als R​e​ durch Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen auf nahe Null zu bringen

3. Warum beträgt die Quarantänezeit zwei Wochen?

Der Zeitraum von der Infektion bis zum Auftreten von Symptomen wird als Inkubationszeit bezeichnet. Die mittlere SARS-CoV-2-Inkubationszeit wird auf rund 5 Tage geschätzt. Dennoch gibt es von Mensch zu Mensch große Unterschiede. Etwa 99% derjenigen, die Symptome zeigen, zeigen diese vor dem 14. Tag, was die zweiwöchige Isolationszeit erklärt (Abbildung 1).

Was hier wichtig ist: bei dieser Analyse fallen infizierte Personen, die keinerlei Symptome zeigen, unter den Tisch. Da asymptomatische Menschen normalerweise nicht getestet werden, ist es immer noch nicht klar, wie viele solcher Fälle es gibt oder wie lange asymptomatische Menschen infektiös bleiben.

4. Wie blockieren N95-Masken SARS-CoV-2?

N95-Masken sind so konzipiert, dass sie mehr als 95% aller Partikel mit einem Durchmesser von mindestens 0,3 µm (Mikrometern = ⅟₁₀₀₀ mm) abhalten (NIOSH 42 CFR Part84). Tatsächlich zeigen Messungen zur Effizienz der Filtration von N95-Masken,dass sie in der Lage sind, 99,8% der Partikel mit einem Durchmesser von ~0,1 μm zu filtern. SARS-CoV-2 ist ein behülltes Virus mit einem Durchmesser von ~0,1 μm. Daher können N95-Masken die meisten freien Virionen filtern, aber sie leisten mehr als das.

Wie?

Viren werden häufig durch Atemtröpfchen übertragen, die durch Husten und Niesen entstehen. Wie viele Viren in den Sekreten enthalten sein können, ist in Abbildung 3 dargestellt.

Abbildung 3. Targetzellen für SARS-CoV-2 im respiratorischen Trakt und maximale Virenkonzentration im Nasenrachenraum, Sputum und Stuhl von COVID-19 Patienten. (Anm. Redn.: Ein großes, durch Niesen erzeugtes Tröpfchen könnte demnach bis zu100 000 Viren enthalten; allerdings überschätzt die RNA-Bestimmung die Zahl aktiver Virionen - siehe Punkt 8.)

Atemtröpfchen werden normalerweise in zwei Größen unterteilt, große Tröpfchen (>5 μm – Mikrometer=1/1000mm – im Durchmesser),die schnell auf den Boden fallen und daher nur über kurze Entfernungen übertragen werden, und kleine Tröpfchen (≤5 μm im Durchmesser). Kleine Tröpfchen können sich als Aerosole („Tröpfchenkerne“) verflüchtigen, bleiben über einen beträchtlichen Zeitraum in der Luft und können eingeatmet werden. Einige Viren wie Masern können durch Tröpfchenkerne übertragen werden. Derzeit gibt es keine direkten Hinweise auf eine SARS-CoV-2-Übertragung durch Tröpfchenkerne. Es wird vielmehr angenommen, dass größere Tröpfchen der Hauptvektor derSARS-CoV-2-Übertragung sind, üblicherweise durch Absetzen auf Oberflächen, die von Händen berührt und dann auf Schleimhäute wie Augen, Nase und Mundtransportiert werden (Details hier).

Der charakteristische Durchmesser großer Tröpfchen, die durch Niesen erzeugt werden, beträgt ~100 μm, während der Durchmesser von Tröpfchenkernen, die durch Hustenerzeugt werden, in der Größenordnung von ~1 μm liegen. Daher schützen N95-Masken wahrscheinlich vor verschiedenen Arten der Virusübertragung.

5. Wie ähnlich ist SARS-CoV-2 den Erkältungs- und Grippeviren?

SARS-CoV-2 ist ein Beta-Coronavirus, dessen Genom ein einzelner ≈​30-kB (30 000 Basen)-RNA-Strang ist. Die Grippe (Influenza) wird durch eine völlig andere Familie von RNA-Viren verursacht, die Influenzaviren genannt werden. Grippeviren haben kleinere Genome (≈14 kB), die in 8 verschiedenen RNA-Strängen kodiert sind und sie infizieren menschliche Zellen auf andere Weise als Coronaviren.

Die „Erkältung“ wird durch eine Vielzahl von Viren verursacht, darunter einige Coronaviren und Rhinoviren. Erkältung verursachende Coronaviren (z. B. OC43- und 229E-Stämme) sind SARS-CoV-2 in der Länge des Genoms (innerhalb 10%) und der Zahl der Gene ziemlich ähnlich, sie unterscheiden sich jedoch in der Sequenz der Nukleotide von SARS-CoV-2 (​≈50% Identität der Nukleotide) und im Schweregrad der Infektion.

Eine interessante Facette von Coronaviren ist, dass sie das größte Genom aller bekannten RNA-Viren haben (≈30 kb). Diese großen Genome haben Forscher veranlasst das Vorhandensein eines „Korrekturmechanismus“ zur Reduzierung der Mutationsrate und Stabilisierung des Genoms zu vermuten. Tatsächlich besitzen Coronaviren einen Korrekturmechanismus in Form einer Exonuklease namens ExoN, was ihre sehr niedrigen Mutationsraten (~10-6 pro Position und Replikationszyklus) im Vergleich zur Influenza (≈3×10-5 pro Position und Zyklus) erklärt​.

Diese relativ niedrige Mutationsrate wird für künftige Studien von Interesse sein, die vorhersagen, mit welcher Geschwindigkeit Coronaviren unseren Bemühungen zur Immunisierung entgehen können

6. Wie viel ist über das Genom und Proteom von SARS-CoV-2 bekannt?

SARS-CoV-2 besitzt ein Genom, das aus einem Einzelstrang RNA (mit positiver Polarität) besteht, das für 10 Gene kodiert, die letztendlich 26 Proteine ​​ produzieren (entsprechend einer NCBI-Annotation NC_045512​).

Wie kommt es, dass 10 Gene für mehr als 20 Proteine ​​kodieren?

Ein langes Gen (​orf1ab), kodiert für ein Polyprotein, das von Proteasen, die selbst Teil des Polyproteins sind, in 16 Proteine ​​gespalten wird. Zusätzlich zu den Proteasen kodiert das Polyprotein eine RNA-Polymerase und zugehörige Faktoren, um das Genom, eine Korrektur-Exonuklease und mehrere andere Proteine, die keine Struktur-Proteine sind, ​​zu kopieren. Die verbleibenden Gene kodieren überwiegend für Struktur-Proteine des Virus: (i) das Spike-Protein, das an den zugehörigen Rezeptor an einer menschlichen oder tierischen Zelle andockt; (ii) ein Nukleoprotein, welches das Genom verpackt; und (iii) zwei membrangebundene Proteine. Abbildung 4.

Abbildung 4. Aufbau von SARS-CoV-2. Das Virus hat einen Durchmesser von ca. 100 nm (Nanometer – 0,1 µm) und ein Volumen von 106 nm3.

Obwohl sich viele aktuelle Arbeiten auf das Verständnis der Rolle von „akzessorischen“ Proteinen im viralen Lebenszyklus konzentrieren, schätzen wir, dass es derzeit nur möglich ist, etwa der Hälfte der SARS-CoV-2-Genprodukte klare biochemische oder strukturelle Funktionen zuzuschreiben.

7. Was können wir aus der Mutationsrate des Virus lernen?

Bei der Untersuchung der Virusentwicklung verwenden die Forscher üblicherweise zwei Messgrößen, welche die Geschwindigkeit der genomischen Veränderung beschreiben.

Die erste ist die Evolutionsrate, die als die durchschnittliche Anzahl von Substitutionen definiert ist, die pro Jahr in Stämme des Virus fix eingebaut werden, angegeben in Einheiten von Mutationen pro Position und Jahr.

Die zweite ist die Mutationsrate, das heißt die Anzahl der Substitutionen pro Position pro Replikationszyklus. Wie können wir diese beiden Werte in Beziehung setzen?

Betrachten Sie eine einzelne Position am Ende eines Jahres. Die einzige Messung einer Mutationsrate in einem β-Coronavirus legt nahe, dass diese Position in jeder Replikationsrunde ungefähr 1 Millionstel (~10-6) Mutationen akkumuliert. Jede Runde des Replikationszyklus dauert ~10 Stunden. Es gibt also 1000​ Zyklen pro Jahr. Multipliziert man die Mutationsrate mit der Anzahl der Replikationen und vernachlässigt man die möglichen Auswirkungen der evolutionären Selektion und des Drifts, so erhält man 1 Tausendstel (10​-3) Mutationen pro Position und Jahr, was mit der, von den aussequenzierten Coronavirus-Genomen abgeleiteten Evolutionsrate übereinstimmt.

Da unsere Schätzung mit der gemessenen Rate übereinstimmt, schließen wir, dass sich das Virus in freier Wildbahn nahezu kontinuierlich repliziert und ständig neue Mutationen erzeugt, die sich im Laufe des Jahres ansammeln.

Mit unserem Wissen über die Mutationsrate können wir auch Rückschlüsse auf einzelne Infektionen ziehen. Da beispielsweise die Mutationsrate ~10​-6​ Mutationen / Stelle / Zyklus beträgt und ein ml Sputum möglicherweise mehr als 10​7​ virale RNAs enthält, schließen wir, dass jede Stelle in solchen Proben mehr als einmal mutiert ist.

8. Wie stabil und wie ansteckend ist das Virion auf Oberflächen?

Abbildung 5.

Abbildung 5.Wie stabil ist SARS-CoV in der Umwelt? Die Relevanz für den persönlichen Schutz ist (noch) unklar. Die Daten beruhen auf messbaren infektiösen Virionen. Virale RNA ist selbst nach Wochen auf Oberflächen noch nachweisbar.

SARS-CoV-2-RNA wurde noch mehrere Wochen nach einem letzten Kontakt auf verschiedenen Oberflächen nachgewiesen. (Der Nachweis von viraler RNA in einer Probe impliziert nicht notwendigerweise das Vorhandensein von infektiösen Virionen; diese könnten defekt sein (z. B. durch Mutation) oder durch Umweltbedingungen inaktiviert worden sein.)

Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion des Menschen durch eine solche Exposition ist noch nicht erhoben, da Experimente zur Durchführung dieser Bestimmung äußerst problematisch sind. Dessen ungeachtet müssen Vorsichts- und Schutzmaßnahmen getroffen werden.

Wir schätzen, dass während der Infektionsperiode eine nicht diagnostizierte infektiöse Person mehrere Dutzend Oberflächen berührt. Diese Oberflächen werden anschließend von Hunderten anderen Personen berührt. Aus der Basisreproduktionszahl R​0​ ≈2-4 können wir ableiten, dass nicht jeder, der diese Oberflächen berührt, infiziert wird.

Genaue Abgrenzungen des Infektionsrisikos bei Berühren von Oberflächen müssen dringend untersucht werden.


[1] Redaktion, 29.12.2020: Wie groß, wie viel, wie stark, wie schnell,… ? Auf dem Weg zu einer quantitativen Biologie.

[2] Redaktion, 22.12.2016: Kenne Dich selbst - aus wie vielen und welchen Körperzellen und Mikroben besteht unser Organismus?

[3] Yinon M. Bar-On, Avi Flamholz, Rob Phillips, and Ron Milo: SARS-CoV-2 (COVID-19) by the numbers . eLife, March 32, 2020.

https://elifesciences.org/articles/57309.

http://book.bionumbers.org/wp-content/uploads/2020/04/german_translation_0408.pdf


*Der Artikel von Yinon M. Bar-On et al.: SARS-CoV-2 (COVID-19) by the numbers (in der der deutschen Übersetzung von Lars Albert Eicholt, Vanessa Pahl: http://book.bionumbers.org/wp-content/uploads/2020/04/german_translation_0408.pdf) steht unter einer cc-by Lizenz. Er wurde im Wesentlichen unverändert übernommen (allerdings ohne den Großteil des Glossars). Die meisten Bilder aus der grafischen Zusammenfassung wurden in den Text eingefügt, die Legenden dazu stammen aus dem hier nicht angehängten Glossar. Wegen der besseren Lesbarkeit fehlen die zahlreichen, den Daten zugrundeliegen Literaturstellen in der ScienceBlog Version - diese können von der Originalversion [3] aus aufgerufen werden.


Zu SARS-CoV-2 im ScienceBlog erschienen:

Matthias Wolf, "Extrablatt" v. 06.04.2020: Ein kleines Corona – How-to.

IIASA, 02.04.2020: COVID-19 - Visualisierung regionaler Indikatoren für Europa.

Inge Schuster, 26.03.2020: Drug Repurposing - Hoffnung auf ein rasch verfügbares Arzneimittel zur Behandlung der Coronavirus-Infektion

Redaktion, 18.03.2020: Experimenteller Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bereits in klinischer Phase 1-Testung

Francis S. Collins, 05.03.2020: Strukturbiologie weist den Weg zu einem Coronavirus-Impfstoff


 

Redaktion Wed, 08.04.2020 - 18:30

"Extrablatt": Ein kleines Corona – How-to

"Extrablatt": Ein kleines Corona – How-to

Mo, 06.04.2020 — Matthias Wolf

Matthias WolfIcon MedizinWill man auf der wissenschaftlichen Seite bei Corona am Laufenden bleiben, so ist das nicht nur hochinteressant, es ergeben sich daraus auch einige praktische Folgen, die ich hier einmal zusammenfassen möchte. Üblicherweise hört man immer nur zwei oder drei Tipps, die meistens ganz unterschiedliche Aspekte betreffen und es ist etwas schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen und daraus einen persönlichen Maßnahmenkatalog abzuleiten. Ein Versuch.

Allgemeines

(Anm: Eilige können gleich zum Punkt ›Zusammengefasst…‹ springen; hier stehen ›nur‹ ein paar grundsätzliche Anmerkungen.)

Was AGES und WHO immer noch wenigstens ›nicht sagen‹, ist, dass eine durch-die-Luft-Infektion mittlerweile zumindest als plausibel betrachtet werden muss. Das läuft über Mikrotröpfchen (<10µm), die sich bis zu 3h oder noch länger in der Luft halten können. Man spricht von sogenannten ›Aerosolen‹, die auch beim normalen Sprechen und Atmen ausgestoßen werden! Das wäre eine üble Sache. Der Sager ›das Virus hat keine Flügel‹, den Franz Allerberger (AGES)  anlässlich einer Pressekonferenz im Frühjahr äußerte und seither nie revidiert hat, ist rundheraus unbrauchbar. Flügel hat das Virus keine, aber es kann womöglich reiten. Völlig unverständlich auch, dass er Masken immer noch (Oktober) den mittlerweile vielfach untersuchten und bestätigten Nutzen abspricht. Das ist schlichtweg in der Sache falsch.

Die Aussage ›bei Exposition unter 15 Minuten besteht keine Gefahr‹ ist zwar auch Quatsch (wie lang braucht man zum Husten? 16 Minuten?), aber durch die Aerosol-Infektion bekommt sie auch wieder Sinn: es gibt eine kritische Grenze an Viren, die man aufnehmen kann ohne sich zu infizieren. Natürlich ist das nicht nur bei jedem individuell, sondern hängt auch von Parametern wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit und vor allem vorhandenen Konzentration in der Luft ab. Eine objektiv richtige Zahl, wie lang eine Exposition andauern darf, gibt es nicht.

Abbildung 1. Ein normaler Mund-Nasen-Schutz (Bild: Wikipedia)

Was die ›Masken‹ (korrekt: MNS – Mund-Nasen-Schutz) betrifft: zwar wird immer wieder gesagt, dass die ein Schutz für die Personen in der Umgebung sind und nicht für einen selbst, was freilich stimmt – aber ganz auch wieder nicht: Natürlich bilden Masken gegen Tröpfchen eine Barriere, deswegen werden sie ja empfohlen, aber eine gewisse auch gegen Aerosole. (Warum wohl tragen alle Ärzte einen Mundschutz?) Auch der zu dünne Pullover ist im Winter besser als gar kein Pullover. Aber die Maske ist kein Ersatz für irgendeine der anderen Maßnahmen, allen voran die Abstandsregel! (Die Rede ist hier übrigens von den ›normalen‹ Masken (Abbildung 1), wie sie beispielsweise auch im OP getragen werden, wie sie vor Supermärkten verteilt werden oder wie man sie leicht auch selbst anfertigen kann. Wenn man das möchte, unbedingt mehr als 1 Lage eines Baumwollstoffes vernähen, den man bei 80° und heißer waschen kann! Es ist nicht die Rede von klassifizierten FFP2- (in den USA: N95-) und -3-Masken (die man an ihrer festen Form erkennt). Diese schützen einen zwar selbst (besser), aber dafür u.U die Umgebung nicht, zumindest die mit Ausatemventil.)

Zusammengefasst, es empfiehlt sich also…

  • Sich impfen und boostern zu lassen.
  • Abstand halten. (In geschlossenen Räumen gibt es keinen Sicherheitsabstand gegen die Aerosolübertragung. Aber wegen der Tröpfcheninfektion gilt auch dort die Regel. Generell wird 1m als Mindestabstand genannt, aber im Freien würde ich den offen gesagt je nach Windrichtung auch vergrößern. Ebenfalls wichtig: Beim Sport sind auch 2m Abstand – bspw. zum oder zur vor Ihnen Laufenden – nicht genug, wie eine belgisch-dänische Studie ergeben hat! Die einzig wirklich mit Sicherheit sichere Empfehlung lautet, auf Sport im Freien - sofern nicht ärztlich verordnet! - derzeit zu verzichten, wenn man nicht wirklich mutterseelenalleine dabei ist. Man muss sich keine Sorgen über gesundheitliche Folgen machen, wenn man wenige Wochen aussetzt oder sich einschränkt. Auch in der Wohnung kann man bei offenem Fenster Bewegung an der frischen Luft machen.)
  • Hände waschen. (Seife wäscht das Virus nicht nur weg, sondern knackt es auch chemisch) Man findet Youtube-Videos, in denen gezeigt wird, wie man das richtig (wie Ärzte) macht. Nur(!) so sind die Hände zuverlässig desinfiziert. (Ein diesbezügliches Video findet sich auch bei den ›Weiterführenden Links‹ ganz unten.)
  • Maske tragen und nach Möglichkeit nicht anfassen. (Mit normalem Waschmittel durchwaschen sollte eigentlich genügen; dabei auch noch 80° oder mehr einstellen und eventuell einen Hygienespüler verwenden, wie man ihn im Drogeriemarkt erhält. Das wirkt dann wie Gürtel+Hosenträger+mit beiden Händen den Bund festhalten, wenn man seine Hosen nicht verlieren will.)
  • Den Griff ins Gesicht vermeiden. Leichter gesagt als getan, greifen wir uns doch etwa 10× pro Stunde ins Gesicht – meistens, ohne es zu merken. Ist es unvermeidlich, versuchen, nicht die Finger zu benützen, sondern beispielsweise mit der Außenseite des Handgelenks kratzen.
  • Die Maske selbst nur an den Bändern anfassen und nach jedem Abnehmen sofort Hände waschen.
  • Vor dem nächsten Tragen desinfizieren, am besten gleich nach dem Abnehmen. Auch Einwegmasken, die sich nicht oder nur schlecht waschen lassen, kann man mit dem Bügeleisen oder im Backrohr gut desinfizieren. Beim Backrohr empfiehlt sich aus Vorsichtsgründen keine ›Heißluft‹ zu benützen; das könnte noch nicht inaktivierte Viren mit der Abluft in die Raumluft verfrachten.
  • Aufenthalte in geschlossenen Räumen (fremde Büros, Besprechungsräume, Geschäfte, Lager, Werkstätten, öffentliche Verkehrsmittel, Taxis etc.) so kurz wie möglich halten
  • Oft lüften (wenn das geht. Es dürfte etwas schwierig sein, den Supermarkt zu lüften. Aber das Büro zum Beispiel. Oder im Taxi kann man das Fenster aufmachen. Auch, wenn man einen Raum betritt und/oder alleine ist! Es könnte genügen, wenn ein Überträger bis zu 3h oder länger vorher drin war.) Damit drückt man die Aerosolbelastung schnell auf praktisch 0.
  • In der kalten Jahreszeit ist das Lüften mit dem Problem verbunden, die Luft auszutrocknen – was die Schleimhäute austrocknet und so die Infektionsgefahr wiederum erhöht. Dem sollte und kann man mit einem Luftbefeuchter entgegen wirken.
  • Aufzüge meiden. Auch Solofahrten eher unterlassen. Einerseits ist das gut, weil man eine möglicherweise vorhandene Aerosolbelastung so im wahrsten Wortsinn umgeht, aber andererseits auch, weil man dadurch Bewegung macht. (So weit mir bekannt ist, wurden bisher keine Infektionen durch Aufzugkabinen nachgewiesen – was in gewisser Weise eine gute Nachricht ist, weil Corona zwar hoch- aber eben nicht höchstansteckend ist. Aber Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste! Und ich plane nicht, jener Fall zu werden, mit dem man den Aufzug als Übertragungsweg nachweist.) Ist eine Aufzugfahrt unvermeidlich, nicht einsteigen, solange man außer Atem ist!
  • Handschuhe. Schmierinfektion ist möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Aber wenn etwas direkt angespuckt/-niest/-hustet wurde, kann es ›klappen‹. Stehen keine Handschuhe zur Verfügung, kann man versuchen, eine ›saubere‹ und eine ›nicht saubere‹ Hand zu praktizieren. (Z.B.: Einkaufswagen nur mit einer Hand schieben, nur mit der anderen Hand die Brille zurechtrücken.) Und freilich so schnell wie möglich Hände waschen. Sollten Einweghandschuhe gerade nicht erhältlich sein, werfen Sie einen Blick in Ihre Autoapotheke! Auch die lassen sich übrigens 1× problemlos bei 80° desinfizieren (dann beginnt sich der Gummi aufzulösen). Und natürlich ganz wichtig: Der Handschuh verhindert nur eine direkte Ansteckung über die Hände (was bei gesunder Haut ohnehin sehr unwahrscheinlich erscheint). Aber selbst ist er genauo infektiös wie die ungeschützte Hand wäre und man muss sich auch behandschuht den Griff ins Gesicht verkneifen!
  • Den Umgang mit Bargeld meiden. Schmierinfektion ist zwar unwahrscheinlich, aber Bargeld geht durch viele und unbekannte Hände. Bankomatkarten mit dem "Wellensymbol" kann man zum berührungslosen Bezahlen an der Bankomatkasse, durch einfaches davor Halten ohne Codeeingabe, benützen. Denken Sie daran, dass auch jede Bankomaten- und -kassentastatur als kontaminiert betrachtet werden sollte.
  • Ein ›Protokoll‹ zum Ablegen der Schutzausrüstung zurechtlegen (und einhalten!): Erst die Handschuhe infektionsfrei abstreifen, dann die Maske lösen und vom Gesicht weg abnehmen; desinfizieren. (Entsprechende Videos unten bei den ›Weiterführenden Links‹) Hände waschen! Einen eigenen Platz zum Ablegen der Ausrüstung vorsehen, den man als kontaminiert betrachtet. Den immer wieder desinfizieren. Die Glasplatte eines Herdes könnte gut geeignet sein: meistens frei, leicht zu reinigen, Backrohr in unmittelbarer Nähe, desinfiziert sich bei Benützung von selbst, falls es einmal vergessen oder nicht ordentlich gemacht wurde. (Hinweis: Ganz am Ende der Seite, nach dem Artikel, beschreibe ich in einem Kommentar, wie mein Protokoll aussieht.)
  • Flächen desinfizieren. Die keimbelastetsten Flächen im Haushalt sind mit Abstand die PC-Tastatur und die Maus! Denn ein neues (X/2020) Ergebnis zeigt, dass das Virus auch monatelang infektiös sein kann. Das eröffnet einen Weg: beim Heimkommen schnell Mails abgeholt und auf's Händewaschen vergessen und schon hat man es auf die Tastatur gebracht, von der man es anderntags aufnimmt und sich ins Auge reibt. Dann und wann mit Desinfektionsmittel besprühen kann nicht schaden. Die Tastatur, nicht das Auge. (71%-iges Ethanol killt das Virus innerhalb einer Minute.)
  • Ob man die ›Stopp Corona‹-App des Roten Kreuzes installieren möchte, muss jeder für sich entscheiden. Dateschutzbedenken halte ich für völlig aus der Luft gegriffen. (Und das sage ich nicht nur so dahin.) Seit der am 10.4. ausgerollten Release kann sie Kontakte automatisch registrieren, wodurch sie im Sinne der Seuchenbekämpfung, aber auch zum Schutz des unmittelbaren eigenen Umfelds jedenfalls sinnvoll erscheint. Ein länderübergreifendes System für die gesamte EU ist ebenfalls in Vorbereitung. Die Ausrollung ist für die nächsten Wochen angekündigt; ein Update auf dem eigenen Smartphone wird nötig sein. (Stand: Anfang Oktober 2020)

    Update: Mittlerweile haben Apple und Google eine gemeinsame Kontaktbibliothek für ihre mobilen Betriebssysteme heraus gebracht, auf die Stopp Corona umgestellt wurde. Wichtiger Hinweis: Machen Sie kein Update, sondern installieren Sie die alte Version ab und die neue frisch aus dem Store! (Das geht völlig problemlos und schnell.) Sie erleben sonst womöglich Dauerabstürze.
     
  • Und last, but not least gilt immer noch: Stay home. Ein einziges falsch in Deine Richtung gesprochenes Wort kann genügen. Das gilt leider auch bei schönem Wetter. Sprechen Sie keine Einladungen aus und nehmen Sie keine an. Auch nicht zu den Osterfeiertagen; das Virus ist nach aktuellem Kenntnisstand völlig atheistisch und respektiert keine religiösen Feiertage. Und übrigens: Einkäufe sind keine Familienevents! Betrachten Sie den Einkauf als notwendiges, einzugehendes Risiko, halten Sie ihn so selten und so kurz wie möglich (was einander widerspricht; wie man das auflösen kann, weiß ich auch nicht) und gehen Sie alleine.
  • Update ›Restaurantbesuch‹: Auch, wenn es nicht ›vorgeschrieben‹ ist, dürfte es ratsam sein, auch als Gast Maske zu tragen, die man nur zum Essen abnimmt. Denken Sie auch daran, dass ein Huster schnell eine Speisekarte treffen kann; ich für mein Teil werde daher bis zum Essen auch Handschuhe tragen bzw. nach dem Bestellen die Hände waschen gehen. Von Geschirr und Besteck sollte eigentlich keine Gefahr ausgehen.

Aber man kann präventiv auch die Abwehr stärken

  • Vitamin D, so wird vermutet, dürfte dem Virus das Andocken erschweren. (Vitamin D entsteht auf natürliche Weise in der obersten Hautschicht durch Einstrahlung des UVB-Anteils im Sonnenlicht. Allerdings ist das in unseren Breiten nur circa von Mai bis August der Fall. Die dann gebildeten Vitamin D-Depots im Organismus sind bereits zu Winterbeginn erschöpft - unter anderem könnte dies auch zur Grippewelle im Winter beitragen. Hier hilft dann die Supplemetierung mit käuflichem Vitamin D, da man den Vitamin D-Bedarf aus Nahrung kaum decken kann. Außer, man isst viel fetten Fisch (und zwar recht viel). Aber, wie die Ameise schon sagte: »Jedes Bisschen hilft!« (und dann pinkelte sie in die Donau). )
  • Vitamin C und Zink geben dem Immunsystem, was es zum Arbeiten braucht. (Die beste Vitamic C-Quelle sind bei unserer Ernährungsweise – Trommelwirbel – Fleischprodukte und vor allem Wurstwaren. Denn Vitamin C – Ascorbinsäure – ist ein Antioxodans, das das Grauwerden verhindert. Wenn's also im Hals kratzt: ein anständiges Wurstbrot! Beim Obst hängt es nämlich leider sehr davon ab, wie lang es gelagert wurde.)
  • Ausreichend Bewegung und Schlaf

Das sollte einen eigentlich aus dem Gröbsten halbwegs zuverlässig heraus halten. Die Liste kann natürlich jederzeit ergänzt werden und ist KEINE GARANTIE! Eine solche gibt es nicht.

Xund bleim!

P.S. Noch ein kleiner Tipp zum Abschluss: Sie möchten vielleicht von Zeit zu Zeit wieder hier vorbeischauen. Nicht nur um ›aufzufrischen‹, sondern weil sich dann und wann neue Details ergeben können, die wir natürlich einpflegen. Vielleicht wollen Sie sich ein ›Bookmark‹ im Browser setzen (bei vielen mit Strg+D).


Disclaimer

Die Information im Artikel wurde vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen sorgfältig zusammengestellt und wurde gegengelesen. Dennoch können weder IScO noch der Autor irgendeine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der dargestellten Empfehlungen übernehmen oder etwaige Haftungsansprüche daraus anerkennen. Die Befolgung oder Nichtbefolgung einzelner oder aller genannten Ratschläge erfolgt auf eigene Verantwortung.


Weiterführende Links

22.05.2020: Kann Vitamin D vor Corona schützen?

mat Mon, 06.04.2020 - 16:20

Comments

  • Vor dem Verlassen der Wohnung Backrohr öffnen, Lade mit Rost heraus ziehen. Türen, welche man zu sich hin öffnen muss, offenstehen zu lassen verhindert, dass man beim Heimkommen Klinken anfassen muss.
  • Beim Heimkommen 1. Weg zum Herd
  • Handschuhe und Maske ausziehen und auf den Rost legen (dadurch erspar ich mir auch die o.a. Herdplatte)
  • Hände waschen!
  • Fenster auf, Herd an bei ≥80°, keine Heißluft, eher 2 als 1h drin lassen. (Die Energie rennt sowieso größtenteils ins Aufheizen, kaum ins Halten der Temperatur.) Meine Faustregel: wenn ich mich frag ›ob's wohl schon reicht?‹, lautet die Antwort ›nein‹. (Festgestellt wurde, dass 30 Minuten bei 65-70° genügen. Aber zum einen isoliert Maskenmaterial hervorragend, zum anderen will ich mich nicht auf den Thermostat eines Haushaltsgeräts verlassen).

So ist auch ausgeschlossen, dass Klappe und/oder Knebel infiziert werden – so unwahrscheinlich eine Schmierinfektion auch sein mag.

Immer dran denken: Der Teufel holt dich verkleidet als Schlendrian!

Xund bleim!

(Es gilt derselbe Disclaimer wie unter dem Artikel.)

Etwas skeptisch macht mich, dass mein Herd auch ohne Heißluft einen Abluftstrom ausleitet!

Das kann eigentlich nur von der Geräteaußenseite stammen, um nicht zu viel Hitze an die Küchenzeile abzugeben und sollte harmlos sein.

Wie auch immer: zu viele Konjunktive. Ich mache das bei geöffnetem Fenster.

Neue Ergebnisse zeigen, dass weltweit signifikant weniger Raucher unter den Covid-19-Patienten sind als im Bevölkerungsdurchschnitt (bis zu 80%)! Wir haben die Empfehlung, mit dem Rauchen aufzuhören, daher entfernt. (Was natürlich andererseits ausdrücklich keine Empfehlung zu rauchen ist!)

COVID-19 - Visualisierung regionaler Indikatoren für Europa

COVID-19 - Visualisierung regionaler Indikatoren für Europa

Do, 02.04.2020 — IIASA

IIASA LogoIcon MedizinDie weltweite Ausbreitung der COVID-19-Pandemie lässt uns schnell erkennen, dass niemand von ihren zerstörerischen Folgen verschont bleibt. Länder und Regionen konkurrieren um knappe Ressourcen medizinischer, technischer und finanzieller Art. Als Unterstützung für die im Gesundheitssektor Tätigen, für Politiker und Regierungen in ihrer strategischen Entscheidungen Ressourcen besser zu nutzen, arbeiten Forscher am International Institute of Applied Systems Analysis (IIASA, Laxenburg bei Wien) daran, wesentliche demografische und sozioökonomische Informationen zu visualisieren und bereitzustellen.*

Die COVID-19-Pandemie hat die Welt aus heiterem Himmel getroffen und zeigt eine beispiellose Übertragungsrate. Warum sich das Virus so rasch weltweit ausbreiten konnte, liegt zum Teil in der Natur des Virus selbst begründet, in seinem Erscheinungsbild (Symptome treten erst verspätet nach der Infektion auf) und auch in der hochkomplexen, vernetzten Welt, in der wir heute leben.

Ein ebenso wichtiger Beitrag resultiert aber auch aus unserer, sich jetzt offenbarenden Unfähigkeit: wir sind nicht imstande mit einer rasch auftretenden globalen Bedrohung zusammen als Gemeinschaft -  über Ländergrenzen und Kontinente hinweg - umzugehen. Unsere bestehenden multilateralen Systeme sind einfach noch nicht darauf ausgerichtet, dass sie zeitnah und in angemessener Form auf eine solche aufkommende globale Herausforderung reagieren. Die Mehrzahl der von den Nationalstaaten getroffenen Maßnahmen haben sich als unzureichend erwiesen.

COVID-19 in Europa

Seit die ersten Fälle von COVID-19 gegen Ende 2019 in China registriert wurden, hat sich die Krankheit über die gesamte Welt ausgebreitet und Europa ist zu einer der am stärksten davon betroffenen Regionen geworden. Abbildung 1.

Abbildung 1. Die Infektion mit SARS-CoV-2 hat sich in ganz Europa ausgebreitet. Die Zahlen der getesteten infizierten Personen stammen vom 30. März 2020. Die Größe der Kreise entspricht der Zahl der Infizierten. (Source: John Hopkins University Coronavirus Resource Center (https://coronavirus.jhu.edu/map.html)

Die ersten Statistiken zur Pandemie deuten darauf hin, dass die Altersgruppe der über 65-Jährigen und insbesondere der über 80-Jährigen dem höchsten Erkrankungsrisiko ausgesetzt ist. Dies ist besonders besorgniserregend, da in der EU der Anteil der alternden Bevölkerung hoch ist; dazu kommen erhebliche Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen. Eine Kombination dieser beiden Aspekte impliziert, dass verschiedene Regionen unterschiedlichen Herausforderungen gegenüberstehen was die Ausbreitung des Virus, die Belastung der landesweiten öffentlichen Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme und die wirtschaftlichen Einbrüche betrifft.

IIASA-Maps

IIASA-Forscher haben die Ausbreitung der Pandemie über die Regionen hinweg verfolgt und Landkarten zur Verfügung gestellt, in denen wichtige demografische und bevölkerungsbezogene Informationen visualisiert werden [1]. Diese IIASA-Maps sollen der schnellen Verbreitung dieser Informationen dienen und den in den Gesundheitsberufen Tätigen, Politikern und Regierungen Unterstützung in ihrer Entscheidungsfindung bieten.

 

Abbildung 2. Alter ist ein Indikator für ein erhöhtes Risiko an COVID-19 zu erkranken. Europa ist ein alternder Kontinent. In einigen Regionen kommen 2 Personen im Erwerbsalter auf eine Person im Alter von 65 + Jahren.

Asjad Naqvi, Projektleiter und Forscher im Advanced Systems Analysis Program der IIASA erklärt dazu: „Die rasche Verbreitung des Virus hat viele Länder gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen wie die Schließung öffentlicher Räume, Schulen und Unternehmen, um damit die Mobilität und menschliche Interaktionen einzuschränken. Diese Maßnahmen werden zusammenfassend als „soziale Distanzierung“ bezeichnet. Sie basieren auf der Annahme, dass je weniger Interaktionen zwischen Menschen bestehen, desto langsamer wird sich das Virus ausbreiten und desto besser ist das Gesundheitssystem dann in der Lage die Situation zu bewältigen. Um zu wissen, ob derartige Maßnahmen wirken und wie lange sie aufrecht erhalten werden müssen, benötigen Entscheidungsträger jedoch Informationen. In der beispiellosen Situation, in der wir uns nun befinden, sind solche Informationen nicht immer schnell zur Hand. Dieses Projekt soll dazu beitragen, solche Lücken zu füllen“.

Abbildung 3. Das mittlere jährliche Haushaltseinkommen [€ ] ist ein Indikator wie gut Situationen bewältigt werden können. Die Unterschiede zwischen dem Kern-Europa und der östlichen und südlichen Peripherie sind enorm.

Es sind nun eine Reihe benutzerfreundlicher Karten verfügbar, in denen verschiedene demografische, sozioökonomische und gesundheitsbezogene Indikatoren grafisch dargestellt sind. Im Folgenden sind einige Beispiele dargestellt (Abbildungen 2 - 4).

Indikatoren sind auch Migration und Veränderungen in der Bevölkerungstruktur, durchschnittliche Haushaltseinkommen [Abbildung 3] sowie die Anzahl der in jedem EU-Land verfügbaren Ärzte und Krankenhausbetten. [Abbildung 4.]

 

 

Abbildung 4. Indikator Ärzte und Krankenhausbetten. In Regionen mit dunkleren Farben kommen mehr Personen im Alter von 65+ Jahren auf einen Arzt/ ein Krankenhausbett (Daten stammen aus dem letzten weitgehend kompletten Datenset 2015)

Die Visualisierungen sind anhand ausgewählter Indikatoren aus der öffentlich zugänglichen Eurostat-Datenbank zusammengestellt und werden regelmäßig aktualisiert, um Änderungen Rechnung zu tragen. Bemüht um ein besseres Verständnis der sozioökonomischen und demografischen Kontexte, in denen sich die aktuelle COVID-19-Krise abspielt, plant das Team weitere Indikatoren in die aktuelle Liste aufzunehmen. Derzeit wird auch an einer interaktiven Website gearbeitet, die als Archiv für alle IIASA-Forschungsarbeiten zu COVID-19 und als Plattform dienen soll, um die neuesten Updates anzusehen und zu durchsuchen und ebenso ältere Versionen der Karten.

Das Ausmaß unserer Vernetzung hat uns erkennen lassen, dass wir in einem globalen Dorf leben, und diese Pandemie hat jeden noch vorhandenen Zweifel daran beseitigt. Allerdings kann die zugrunde liegende globale Ordnung von ausgedehntem Tourismus, Handel, Wirtschaft und Bildungswesen zu Schwachpunkten führen. Gleichzeitig bietet sie auch die Möglichkeit, kritische Sektor-spezifische Informationen zu generieren, die man systematisch nutzen kann, um schnelle und effektive globale und nationale Reaktionen auf Risiken zu ermöglichen.


[1] Naqvi A (2020). COVID-19: Visualizing regional socioeconomic indicators for Europe. International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), Laxenburg, Austria [pure.iiasa.ac.at/16395] Der Artikel sreht unter einer cc-by-nc Lizenz


* Der von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzte Artikel ist am 30. April auf der IIASA Webseite unter dem Titel: "COVID-19: Visualizing regional indicators for better decision making" erschienen. IIASA hat freundlicherweise der Veröffentlichung von Inhalten seiner Website und Presseaussendungen in unserem Blog zugestimmt. Der Text wurde von der Redaktion durch einige Sätze und Abbildungen aus [1] und Legenden ergänzt.


Artikel zu COVID-19 im ScienceBlog


 

Redaktion Thu, 02.04.2020 - 06:17

Drug Repurposing - Hoffnung auf ein rasch verfügbares Arzneimittel zur Behandlung der Coronavirus-Infektion

Drug Repurposing - Hoffnung auf ein rasch verfügbares Arzneimittel zur Behandlung der Coronavirus-Infektion

Fr, 27.03.2020 — Inge Schuster

vIcon Medizin Die Coronavirus-Pandemie breitet sich mit rasanter Geschwindigkeit aus, kaum ein Land, das davon noch nicht betroffen ist. Über eine halbe Million Infizierte wurden weltweit nachgewiesen, rund 23 000 Menschen sind bereits an der Krankheit gestorben. Nach wie vor gibt es keine vorbeugende Impfung gegen das Virus, kein wirksames Medikament zur Behandlung der Erkrankten. In dieser bedrohlichen Situation starten nun mehr und mehr klinische Prüfungen, viele mit dem Ziel eines Drug Repurposing, d.i. aus dem Fundus bereits vorhandener Arzneistoffe ein gegen das Coronavirus wirkendes Mittel zu finden, das dann möglichst rasch angewandt werden kann.

In wenigen Wochen hat sich unser gewohntes Leben grundlegend verändert. Erstmals wurde die WHO Ende Dezember 2019 über den Ausbruch einer "durch einen unbekannten Erreger hervorgerufenen Lungenentzündung" in der chinesischen 11 Millionen Stadt Wuhan informiert und als Ursache bereits am 10. Jänner ein neuartiges Coronavirus - SARS-CoV-2 - identifiziert. Reisende aus dem betroffenen Gebiet haben das Virus in andere Regionen verschleppt und das Virus breitet sich seitdem mit rasanter Geschwindigkeit über den ganzen Erdball aus. Bereits über einer halbe Million Menschen wurden positiv auf das Virus getestet (die Dunkelziffer dürfte ein Mehrfaches sein), davon sind rund 120 000 wieder genesen; schwere Verläufe haben zu mehr als 23 000 Todesfällen geführt [1]. Die Behandlung der schweren Fälle erstreckt sich dabei auf bloße Linderung der Symptome - es gibt zur Zeit ja weder eine vorbeugende Impfung noch ein spezifisch gegen das Virus wirkendes Arzneimittel.

Um die Ausbreitung des Virus durch Übertragung von Mensch zu Mensch zu verlangsamen/einzudämmen, hat die WHO "Soziale Distanzierung" anempfohlen, Regierungen setzen Ausgangsbeschränkungen/-Sperren um - inzwischen sind bereits mehr als 3 Milliarden Menschen davon betroffen. Noch zu Faschingsende gab es ein überschäumend fröhliches gesellschaftliches Miteinander, nun sind wir zu Einsiedlern in unseren Behausungen geworden, voll von Sorgen, wie und wann nach der Pandemie das Leben weitergehen wird.

Wirksame Mittel gegen COVID-19 dringendst benötigt

Klar ist, es werden dringendst wirksame Mittel zur Prävention der Infektion und Behandlung der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Erkrankung - COVID-19 - benötigt und demzufolge gibt es einen rasanten Anstieg klinischer Studien, die Behandlungsmöglichkeiten evaluieren. Das weltweit größte Register von sowohl aus öffentlicher Hand als auch von privaten Sponsoren finanzierten klinischen Studien - die von der US National Library of Medicine (NIH) betriebene Datenbank ClinicalTrials.gov - verzeichnet unter dem Stichwort "COVID-19 " derzeit 178 klinische Studien - um 20 mehr als am Vortag und um 25 mehr als 2 Tage zuvor -, die rund um den Erdball stattfinden (werden), die meisten davon in China. Eine Reihe dieser Studien läuft bereits, viele rekrutieren gerade Probanden/Patienten, wobei von einigen wenigen Probanden bis zu mehreren Tausend Probanden ausgegangen wird. [2]

Zahlreiche Studien befassen sich mit klinischen Charakteristika der Infektion, die unser Verstehen des Verlaufs und der Risiken bereits bestehender  Erkrankungen und Behandlungen verbessern sollen. Evaluiert werden rasch aussagekräftige, für die breiteste Anwendung geeignete Diagnostika und Schutzvorrichtungen, die vor allem auch den Risikogruppen der im Gesundheitsbereich Beschäftigten dienen können.

Impfstoffe sind - mit Ausnahme von zwei bereits in klinischer Prüfung befindlichen Produkten (die Vaccine mRNA-1273 von NIH/Moderna und eine Vaccine von CanSino Biologics) - alle noch in der präklinischen Phase und daher noch nicht in der Datenbank ClinicalTrials.gov enthalten. In die Richtung der Prävention gehen auch Studien, die aus dem Blut von genesenen COVID-19 Patienten isolierte Antikörper evaluieren.

Der Großteil der Studien beschäftigt sich jedoch mit der Evaluierung der Sicherheit und Wirksamkeit von potentiellen Therapeutika, wobei drei Wege verfolgt werden:

  1. Die Blockierung der Virusvermehrung im Patienten. Hier wird eine Palette von bereits gegen andere Krankheiten zugelassenen Arzneimitteln geprüft (siehe unten); einige Studien evaluieren auch Rezepturen aus der Trditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Auf Basis des eben aufgeklärten Virusgenoms sind auch innovative, durchaus aussichtsreiche Ansätze dabei. Allerdings muss für derartige Entwicklungen eine bis zu 13 Jahre dauernde Entwicklungszeit veranschlagt werden - für eine Anwendung in der jetzigen Pandemie käme dies viel zu spät.Eine vom österreichischen Forscher Josef Penninger initierte chinesische Studie, die am Targetprotein des Virus - Angiotensin Converting Enzyme 2 (ACE-2) - , über welches es in die Wirtszelle eindringt, ansetzt, ist zurückgezogen worden.   
  2. Die Regulierung/Dämpfung eines überschießendenden Immunsystems, das einen sogenannten Cytokin-Sturm auslösen kann, der das infizierte Gewebe der Lunge weiter schädigt und schließlich zu multiplem Organversagen  und letalen Ausgang führen kann.Hier werden bereits zugelassene Immunsuppressiva u.a. Corticosteroide und diverse Biologica  - beispielsweise der in der CAR-T-cell Therapie erfolgreich eingesetzte IL-6-Antikörper Tocilizumab oder das Cytokin Interferon beta - geprüft.

  3.  Die Regeneration geschädigten Lungengewebes durch mesenchymale Stammzellen

Drug Repurposing, wenn es möglichst rasch gehen soll

Viele Arzneimittel sind kleine, flexible Moleküle, die nicht nur mit der ursprünglich bestimmten Zielstruktur (ihrem Target) - zumeist einem Protein - wechselwirken, sondern auch mit anderen biologischen Strukturen interagieren können. Solche "Nebenwirkungen" haben bereits in zahlreichen Fällen zur Identifizierung neuer Anwendungsmöglichkeiten geführt. Werden derartige Substanzen für neue Indikationen wiederverwendet, so sind wesentliche Daten zur Sicherheit im menschlichen Organismus bereits vorhanden und eine Zulassung kann bei minimaler Entwicklungszeit und Entwicklungskosten realisiert werden [siehe 3].

Aus dem reichen Fundus bereits zugelassener Arzneimittel lassen sich (hoffentlich) schnell gegen Sars-CoV-2 wirksame Substanzen identifizieren.((Coloured etching by H. Heath, 1825. Iconographic Collections Keywords: Henry Heath.)

Drug Repurposing wird nun auch im Fall von Coronavirus-Infektionen versucht. Bei einigen der potentiellen Kandidaten handelt es sich um schon sehr lange bekannte Wirkstoffe, welche - da nicht mehr unter Patentschutz stehend - billig sind und für eine breite Anwendung schnell verfügbar gemacht werden können.

Thalidomid…

Beispielsweise laufen mehrere klinische Untersuchungen zu Thalidomid, einem in den 1980er Jahren auch für Schwangere häufig verschriebenen Schlafmittel, da sich als schweres Morphogen herausstellte und an vielen missgestalteten Babies die Schuld trug. Das Mittel stellte sich später als hochaktiv u.a. gegen Fibrosen, Gefäßneubildung und Entzündung heraus und wird nun erfolgreich in einigen Krebserkrankungen und auch in Lepra eingesetzt. Thalidomid wirkt zwar nicht direkt gegen das Virus, man geht aber davon aus, dass es die schweren Folgeschäden der durch das Virus verursachten Lungenentzündung mildern könnte.

…Antimalaria-Mittel Chloroquin und Hydroxychloroquin…

Es sind dies kleine synthetische Moleküle, die bereits vor Jahrzehnten gegen Malaria eingeführt wurden aber auch gegen einige Autoimmunerkrankungen wirksam sind. Ihre Anwendung geht mit zum Teil schweren Nebenwirkungen einher und die Malaria-Erreger haben gegen diese Substanzen bereits Resistenzen entwickelt. Während der 2002/3-Epidemie mit SARS-CoV, das dem neuen SARS-CoV-2 nahe verwandt ist und ebenso schwere Lungendefekte hervorruft, fand man heraus, dass Chloroquin die Produktion neuer Viren in Humanzellen unterdrückt. Neue Untersuchungen mit dem SARS-CoV-2 Virus kommen zu dem gleichen Schluss: in Labortests sind die beiden Malariawirkstoffe bereits in niedrigen, klinisch erzielbaren Dosierungen gegen das Virus hochwirksam. Ausgehend von einem positiven Ergebnis an chinesischen COVID-19-Patienten, wurde nun auch eine kleine Zahl französischer Patienten mit Chloroquin behandelt; im Vergleich zu unbehandelten Kontrollen erfolgte eine rasche Reduktion der Virenkonzentration im Nasen-Rachenraum.

Zweifellos ist der antivirale Angriffspunkt ein anderer als im Fall der Malariaerreger, wo Chloroquin in den Abbau der für den Erreger essentiellen Nährstoffquelle Hämoglobin eingreift. Im Fall der Coronaviren dürfte die Wirkung des Chloroquin auf einer Erhöhung des pH-Wertes in den Endosomen beruhen, wodurch die Ausschleusung des Virus aus der Wirtszelle verhindert wird.[4]

…antivirale Wirkstoffe…

Lopinavir in Kombination mit Ritonavir wurde im Jahr 2000 gegen HIV-Infektionen zugelassen. Es blockiert nicht nur die Protease des HIV-Virus sondern auch die Protease von Coronaviren. In der SARS-Epidemie am Beginn des 21. Jahrhunderts wurde das Kombinationspräparat vereinzelt eingesetzt und brachte positive Ergebnisse. Zahlreiche Studien evaluieren nun die Wirksamkeit gegen das neue Coronavirus. Eine rezente Untersuchung an 199 schwerstkranken COVID-19 Patienten lieferte allerdings ein enttäuschendes Ergebnis: das Mittel senkte weder die Morbidität noch Mortalität der Patienten im Vergleich zur Kontrollgruppe unter Standardtherapie.

Favipiravir, ein Analogon der Base Guanin, ist ein falscher "Buchstabe", der bei Einbau in die neu entstehende Nukleinsäure des Virus die weitere Replikation des viralen Genoms unterbindet. Favipiravir wirkt gegen ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Viren, sollte ursprünglich in Japan als Influenza-Medikament vermarktet werden, wurde aber auf Grund teratogener (fruchtschädigender) Eigenschaften schließlich nur für Virusinfektionen zugelassen, für die kein anderes Arzneimittel existiert. Das Mittel erregte Aufsehen als 2014 während der Ebola-Epidemie eine damit behandelte Krankenschwester gesundete.

In einer vor wenigen Tagen präsentierten chinesischen Studie zur Sicherheit und Wirksamkeit von Favipiravir hat das Mittel nun hohe Wirksamkeit bei gleichzeitig relativ geringen Nebenwirkungen gezeigt: insgeamt wurden 80 COVID-19 Patienten mit Favipiravir oder Lopinavir/Ritonavir in der Kontrollgruppe behandelt. Bereits nach 2 Tagen war das Fieber bei rund drei Viertel der Favipiravir Patienten zurückgegangen (bei rund ein Viertel der Kontrolle), das Virus wurde fast drei Mal so schnell eradikiert als in der Kontrollgruppe und das Thorax-Röntgen zeigte entscheidende Verbesserungen.

Favipiravir wurde von der chinesischen Regierung in die Liste der "wichtigen Materialien für die Epidemie-Bekämpfung" aufgenommen; es wird von dem chinesischen Unternehmen Zhejiang Hisun Pharmaceutical produziert und exportiert.

Remdesivir, ein Analogon des Nukleosids Adenosin, wurde vom Pharmakonzern Gilead ursprünglich gegen Ebola entwickelt, befindet sich aber noch in der letzten klinischen Phase des Entwicklungsprozesses. Wie bei Favipiravir hemmt der falsche Baustein die virale Polymerase und damit die Replikation des viralen Genoms; ebenso wirkt die Substanz gegen ein breites Spektrum unterschiedlicher Viren, u.a Ebola, das Marburg Virus und Coronaviren. Während der Ebola-Epidemie hat Gilead die Substanz an infizierten Primaten getestet und konnte in allen Fällen die Replikation des Virus unterdrücken; die Tiere blieben am Leben. In klinischen Studien an Ebola-Patienten erwies sich Remdesivir allerdings wenig wirksam.

Nach ersten positiven Testungen in den USA und in China wird Remdesivir nun in mehreren großangelegten internationalen Studien auf Sicherheit und Wirksamkeit gegen SARS-CoV-2 geprüft: an 400 Patienten mit schwerer COVID-19 Erkrankung und an 600 Patienten mit moderater Erkrankung. Die Ergebnisse dieser Studien werden im April erwartet. Auch bei positivem Ausgang wird es dann noch einige Zeit bis zur Zulassung der Substanz und der Verfügbarkeit für eine breite Anwendung dauern.

Die SOLIDARITY Studie der WHO

In dem Bewusstsein, dass ein Impfstoff gegen SARS-CoV-2 in diesem Jahr wohl kaum mehr zur Verfügung stehen wird, hat der Direktor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, in der vergangenen Woche eine multinationale Megastudie "SOLIDARITY" ins Leben gerufen, um möglichst rasch ein wirksames, breit verfügbares Arzneimittel bereitstellen zu können. An Tausenden Patienten sollen vier Therapien mit insgesamt 6 Wirkstoffen - alles repurposed drugs - getestet werden . Es sind dies :

  •  Remdesivir
  •  die Malariamittel Chloroquin und Hydroxychloroquin
  •  die Kombination von Lopinavir/Ritonavir
  • Lopinavir/Ritonavir plus Interferon beta

Wie bereits oben erwähnt hat eine klinische Studie mit  Lopinavir/Ritonavir an schwerkranken Patienten ein enttäuschendes Ergebnis erbracht, möglicherweise reichte die antivirale Wirkung nicht aus um das  überschiessende Immunsystem einzubremsen. Es sollen daher nun Studien mit der Wirkstoff-Kombination plus dem Immunsuppressivum Interferon beta durchgeführt werden.

Zahlreiche Länder haben bereits ihre Teilnahme an dieser Studie zugesagt.

Fazit

Niemals zuvor hat eine Seuche in so kurzer Zeit den ganzen Erdball erfasst und das gewohnte gesellschaftliche Miteinander zum Erliegen gebracht. In vielen Ländern steht ein vernachlässigtes und nun völlig überfordertes Gesundheitssystem nun hilflos vor der rasant wachsenden Zahl Schwerkranker und kann - da es gegen das Virus ja noch keine wirkenden Mittel gibt - bestenfalls bei einem Teil der Patienten die Symptome lindern.

Niemals zuvor haben aber auch Forscher so rasch derart umfassende Projekte und weltweite Kooperationen auf die Beine gestellt, um in kürzestmöglicher Zeit - vorerst aus dem Fundus von bereits für andere Indikationen zugelassenen Arzneimitteln - Wirkstoffe gegen das Virus zu identifizieren und für die breite Öffentlichkeit verfügbar zu machen.

Wir müssen erkennen, wie fragil unsere Gesellschaften gegenüber neuen Erregen sind, die jederzeit zu verheerenden Pandemien führen  können. Wir sehen aber auch, dass nur intensive Gundlagen- und Angewandte Forschung hier Hilfe bringen können! 


[1] Coronavirus COVID-19 Global Cases by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), abgerufen am 26.03.2020 , 20:00 https://www.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6

[2] ClinicalTrials.gov. https://clinicaltrials.gov/ct2/results?cond=covid-19&term=&cntry=&state=&city=&dist= (abgerufen 26.3.2020; 18:00)

[3] Inge Schuster, 27.03.2020: Neue Anwendungen für existierende Wirkstoffe: Künstliche Intelligenz entdeckt potentielle Breitbandantibiotika. http://scienceblog.at/k%C3%BCnstliche-intelligenz-entdeckt-potentielle-breitbandantibiotika

[4] Manli Wang et al., Remdesivir and chloroquine effectively inhibit the recently emerged novel coronavirus (2019-nCoV) in vitro. Cell Research (2020) 30:269–271; https://doi.org/10.1038/s41422-020-0282-0


Artikel im ScienceBlog

Francis S Collins, 05.03.2020: Strukturbiologie weist den Weg zu einem Coronavirus-Impfstoff. http://scienceblog.at/strukturbiologie-weist-weg-zu-coronavirus-impfstoff

Redaktion, 18.03.2020:Experimenteller Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bereits in klinischer Phase 1-Testung.  http://scienceblog.at/impfstoff-gegen-sars-cov-2-in-klinischer-phase-1


 

inge Fri, 27.03.2020 - 01:20

Experimenteller Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bereits in klinischer Phase 1-Testung

Experimenteller Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bereits in klinischer Phase 1-Testung

Mi, 18.03.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Medizin

Vor wenigen Tagen haben wir im ScienceBlog einen Bericht von Francis S. Collins, Direktor der US-National Institutes of Health (NIH) und ehem. Leiter des "Human Genome Project", über die Aktivitäten der NIH zur Entwicklung von Impfstoffen und antiviralen Agentien gegen SARS-CoV-2 gebracht [1]. Basierend auf der Strukturanalyse des sogenannten Spike-Proteins, mit dem das Virus an die Wirtszellen andockt, haben die NIH in Zusammenarbeit mit der Biotech-Firma Moderna (Cambridge, MA) in Rekordzeit einen spezifischen Impfstoff entwickelt: Eine Impfung mit der mRNA des Spike-Proteins soll den Organismus dazu bringen das Spike-Protein so zu produzieren, dass es eine Immunantwort auslöst. Die im Tierversuch vielversprechende Vakzine mRNA-1273 befindet sich laut Meldung der NIH schon seit vorgestern in Phase 1 der klinischen Prüfung [2]. Dabei wird auf Sicherheit und Erzeugung einer Immunantwort an gesunden Freiwilligen wird getestet.*

Die durch SARS-CoV-2 ausgelöste Pandemie hat zu einer bis dato beispiellosen Kooperation geführt. Weltweit tauschen nun Forschergruppen ihr Wissen und ihre neuesten Ergebnisse zu SARS-CoV-2 aus; der für seine Kostenplanung vielfach verfemte Pharma-Konzern Gilead hat China sein möglicherweise auch gegen SARS-CoV-2 wirksames Mittel Remdesivir für klinische Testungen zur Verfügung gestellt und rund 3 Dutzend von aus Hochschulen und Akademie stammende Forschergruppen befinden sich im Wettstreit, wer den ersten, gegen das Virus effizienten Impfstoff auf den Markt bringen kann. Derzeit gibt es ja keinen zugelassenen Impfstoff und auch kein Arzneimittel zur Verhinderung einer Infektion mit SARS-CoV-2.

Beispiellos ist auch die Geschwindigkeit mit der neue behandlungsrelevante Ergebnisse erzielt werden. Erst vor etwa 2 Monaten hatten chinesische Wissenschafter das Genom des SARS-CoV-2 entschlüsselt und kurz danach hatte auf dieser Basis ein NIH-finanziertes Forscherteam in Rekordzeit die erste 3D-Struktur eines für die Impfstoffentwicklung erfolgversprechenden Zielproteins in atomarer Auflösung erstellt [1]. Es ist dies das sogenannte Spike-Protein, das für die Andockung des Virus an die Wirtszellen verantwortlich ist. Abbildung 1.

Abbildung 1. Das Spike-Protein des Coronavirus SARS-CoV-2 - das Zielprotein gegen das Immunisierung erfolgen soll - in atomarer Auflösung. Mit den grünen Ketten im oberen Bereich dockt das Virus an die Wirtszellen an (siehe [1])in atomarer Auflösung. (Credit: McLellan Lab, University of Texas at Austin) Anm.Redn.: Die Struktur ist in der PDB Datenbank unter 6VSB hinterlegt (DOI: 10.2210/pdb6VSB/pdb)

Gegen dieses Protein wurde nun in Rekordgeschwindigkeit ein experimenteller Impfstoff entwickelt, der sich nun seit vorgestern in Phase 1 der klinischen Prüfung befindet.

Der experimentelle Impfstoff mRNA-1273....

Der Prüfimpfstoff - mRNA-1273 - wurde von Wissenschaftlern des zum NIH gehörenden Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten (NIAID)und dessen Mitarbeitern beim Biotechnologieunternehmen Moderna, Inc. mit Sitz in Cambridge, Massachusetts, entwickelt.

Wissenschaftler des NIAID Vaccine Research Center (VRC) und von Moderna konnten mRNA-1273 aufgrund früherer Studien zu verwandten Coronaviren, die SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome) und MERS (Middle East Respiratory Syndrome) verursachen, schnell entwickeln. Coronaviren sind kugelförmig und haben Spitzen - Spike-Proteine - , die aus ihrer Oberfläche herausragen und den Partikeln ein kronenartiges Aussehen verleihen. Der Spike bindet an menschliche Zellen und ermöglicht dem Virus den Eintritt. Wissenschaftler von VRC und Moderna hatten bereits an einem MERS-Impfstoff gegen das Spike-Protein gearbeitet. Dies ergab einen Vorsprung für die Entwicklung eines Impfstoffkandidaten gegen das neue Corona-Virus. Sobald die genetische Information von SARS-CoV-2 verfügbar wurde, wählten die Wissenschaftler schnell eine Sequenz aus, um das stabilisierte Spike-Protein des Virus in der vorhandenen mRNA (Messenger-RNA) -Plattform zu exprimieren.

Applikation der mRNA des Spike-Proteins weist unsere Körperzellen an, das Virusprotein zu exprimieren und man hofft, dass dieses eine robuste Immunantwort auslöst. In Tiermodellen hat sich der Impfstoff bereits als erfolgversprechend erwiesen; dies ist nun der erste Versuch, der ihn beim Menschen untersucht.

... in Phase 1 der klinischen Prüfung

Diese hat gestern am Kaiser Permanente Washington Health Research Institute (KPWHRI) in Seattle begonnen. Geleitet wird die Studie von Lisa A. Jackson, Senior Investigator bei KPWHRI, finanziert wird die Studie vom NIAID. Als Teilnehmer werden 45 gesunde erwachsene Freiwillige im Alter von 18 bis 55 Jahren über einen Zeitraum von ungefähr 6 Wochen teilnehmen. Die erste Teilnehmerin erhielt gestern den Prüfimpfstoff.

Die Studie testet den experimentellen Impfstoff in verschiedenen Dosierungen auf Sicherheit und seine Fähigkeit, bei den Teilnehmern eine Immunantwort auszulösen. Die Studienteilnehmer erhalten im Abstand von ca. 28 Tagen zwei Dosen des Impfstoffs durch intramuskuläre Injektion in den Oberarm. Bei 15 Personen in jeder Dosisgruppe erhält jeder Teilnehmer bei beiden Impfungen jeweils eine Dosis von 25, 100 oder 250 Mikrogramm (mcg). Dabei erhalten die jeweils ersten vier Teilnehmer einer Gruppe die entsprechende Dosis und die restlichen Teilnehmer erst nach überprüfter Sicherheit.

Die Teilnehmer werden gebeten, für Nachuntersuchungen zwischen den Impfungen und für zusätzliche Besuche innerhalb eines Jahres nach der zweiten Impfung in die Klinik zurückzukehren. Die Ärzte überwachen die Teilnehmer auf häufig auftretende Impfsymptome wie Schmerzen an der Injektionsstelle oder Fieber sowie andere medizinische Probleme. Ein Protokollteam wird sich regelmäßig treffen, um Sicherheitsdaten zu überprüfen, und ein Sicherheitsüberwachungsausschuss wird außerdem regelmäßig die Versuchsdaten überprüfen und NIAID beraten. Die Teilnehmer werden außerdem gebeten, zu bestimmten Zeitpunkten für Blutabnahmen bereitzustehen; diese Proben werden dann im Labor getestet, um festzustellen ob und in welchem Ausmaß eine Immunantwort auf den experimentellen Impfstoff erfolgt ist.

Fazit

Mit mRNA-1273 wird ein neuer Weg beschritten: der Impfstoff besteht nicht aus einem abgeschwächten/ inaktivierten Virus oder Viruskomponenten, sondern aus der mRNA des Spike-Proteins, welches dann der Wirtsorganismus daraus bildet und - so hofft man - mit einer Immunreaktion und der Bildung von Antikörpern darauf reagieren wird. Die Phase-1-Studie mit mRNA-1273 ist in Rekordgeschwindigkeit gestartet worden. Es ist der erste Schritt im klinischen Entwicklungsprozess, der - bei positivem Ausgang - in weiteren Phasen mit einer großen Zahl an Probanden schlussendlich zu einem sicheren und wirksamen Impfstoff gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 führen soll. Bis ein solcher Impfstoff im besten Fall für die breite Anwendung zur Verfügung steht, wird es mindestens ein Jahr dauern.


*Der größtenteils von der NIH-News-Seite: NIH clinical trial of investigational vaccine for COVID-19 begins [2] stammende Text wurd von der Redaktion überstzt. 

Weiterführende Links

NIAID: Coronaviruses. https://www.niaid.nih.gov/diseases-conditions/coronaviruses

WHO: Coronavirus disease (COVID-19) outbreak. https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019

Francis S.Collins, 27.09.2018: Erkältungen - warum möglichweise manche Menschen häufiger davon betroffen sind..


 

inge Wed, 18.03.2020 - 00:17

Molekularbiologie im 21. Jahrhundert

Molekularbiologie im 21. Jahrhundert

Fr, 12.03.2020 — Peter Schuster Peter SchusterIcon Molekularbiologie

Seit der Jahrtausendwende ist die Zahl sequenzierter Genome aus unterschiedlichsten Organismen enorm rasch angestiegen, und es wurde bald klar, dass niedere Organismen (Prokaryoten) zwar denselben genetischen Code wie höhere Organismen (Eukaryoten) nutzen, dass aber in der Verwaltung und Verarbeitung der Genome grundlegende regulatorische Differenzen bestehen. Dazu können sich Eukaryoten auch eines erweiterten Repertoires der Vererbung - mittels epigenetischer Modifikationen - bedienen, wobei die RNA eine tragende Rolle spielt. Das dynamische Zusammenwirken von Chemie und Biologie konnte die zugrundeliegenden Mechanismen klären und wird - wie der theoretische Chemiker Peter Schuster (emer. Univ Prof an der Universität Wien) meint - auch weiterhin der Molekularbiologie faszinierende Erfolge garantieren. *

Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war geprägt durch die grandiosen Erfolge der Molekularbiologie, die dann schlussendlich in der Sequenzierung des menschlichen Genoms gipfelte. Für die grundlegenden zellulären Prozesse hat die Chemie mit ihrer molekularen Sichtweise Erklärungen bereitgestellt.

Manche Wissenschaftler gewannen so den Eindruck, dass damit auch der Großteil der Biologie verstanden wäre.

Die bevorzugten Untersuchungsobjekte der Molekularbiologie des 20. Jahrhunderts waren überwiegend Prokaryoten - insbesondere Bakterien - gewesen und Viren. Es ist daher auch nicht falsch anzunehmen, dass die Biologie dieser einfachen Organismen im Wesentlichen bekannt und verstanden ist. Aus der Tatsache, dass auch alle höheren Organismen (= Eukaryoten) denselben genetischen Code benützen und ganz ähnlich aufgebaute Ribosomen verwenden, konnte man versucht sein zu schließen, dass auch die übrigen Prozesse in der Eukaryotenzelle denen der Bakterien entsprechen würden.

Eukaryoten sind keine Riesenbakterien…

Die breiten Sequenzierungen unterschiedlicher Genome brachten dann aber große Überraschungen: sie zeigten, dass Pilze, Pflanzen und Tiere inklusive Menschen auch hinsichtlich ihrer Genetik keine Riesenbakterien sind.

Bereits eine einfache quantitative Überlegung weist auf grundlegende regulatorische Differenzen in der Genetik von Viren, Prokaryoten und Eukaryoten hin.

…die DNA kodiert zum Großteil nicht für Proteine…

Dies zeigt der Vergleich der Zahl von Genen, die tatsächlich für Proteine kodieren (Gene) mit einer geschätzten maximalen Zahl der auf dem Genom Platz findenden möglichen Protein-kodierenden Gene (GMax), wobei eine mittlere Genlänge von 1000 Nukleotiden angenommen wird; die folgende Tabelle vergleicht die Zahlen der Gene für Viren (hellgrau), Prokaryoten (beige) und Eukaryoten (bunt).

Tabelle: Zahl der tatsächlich Protein kodierenden Gene verglichen mit der Zahl der maximal möglichen Protein-kodierenden Gene (GMax) in Viren, Bakterien und Eukaryoten. (Daten: Ron Milo & Rob Phillips (2016) Cell Biology by the Numbers. Garland Science, Taylor & Francis. New York)

Der Quotient aus den beiden Zahlen, Gene/GMax, ist einsichtigerweise kleiner als eins. Eine Ausnahme bildet nur der Bakteriophage λ, welcher überlappende Gene aufweist. Dies bedeutet das einzelne DNA-Stücke gleichzeitig für zwei (oder mehrere) Proteine kodieren. Dieser Quotient ist bei Viren recht variabel, bei Prokaryoten sehr nahe an eins und bei Eukaryoten kleiner als eins. Dabei ist ein klarer Trend zu erkennen: je komplexer der Organismus, desto niedriger wird der Quotient, d.i. umso weniger Teile des Genoms kodieren für Proteine.

John Mattick ist ein australischer Molekularbiologe, der versucht die Funktionen nicht-kodierender DNA zu entschlüsseln. Er hat die Zahl der Gene untersucht, die in Prokaryoten für Regulatorproteine kodieren und herausgefunden, dass diese Zahl mit dem Quadrat der Gesamtzahl der Gene ansteigt [1]. In anderen Worten heißt dies, dass der Prozentsatz der Gene, welche für die Regulation benötigt werden, mit steigender Genomlänge immer größer wird. Er zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Bakterien eine bestimmte Genomgröße - im Bereich von 10 Millionen Basenpaaren, entsprechend 10 000 Genen - nicht überschreiten können, da sonst die Regulation der Genaktivitäten zu aufwendig werden würde.

…und liegt in enorm kompakter Form im Zellkern vor

In ausgestreckter Form ist die DNA viel länger als der Durchmesser der Zelle, in welcher sie sich befindet. Durch Supercoil wird die DNA in eine kompaktere Form überführt. Supercoil ist die Methode der Kompaktifizierung der DNA bei Prokaryoten. Für die bei höheren Organismen sehr viel größeren eukaryotischen Genome reicht jedoch der Supercoil bei weitem nicht aus, um eine kompakte, in die Zelle passende Form zu erzeugen. In der Tat umfasst der Prozess von der DNA bis zum fertigen Chromosom mehrere Schritte, in welcher die DNA auf Histonen aufgewickelt, zum Chromatin und weiter zu Nukleosomen gepackt, und schließlich in mehreren Schritten zu einem Chromosom kondensiert wird. Es ist verständlich, dass die Expression eines Genes durch diese Packung sehr viel komplizierter wird und viele Schritte umfassen muss. Abbildung 1.

Abbildung 1.Die Kompaktifizierung der DNA in der Zelle von Prokaryoten (links) und von Eukaryoten (rechts: http://csma31.csm.jmu.edu/chemistry/faculty/mohler/chromatin.htm; cc-by license)

Epigenetik - neue Funktionen für die RNA

Seit der Entdeckung, dass nicht nur Proteine sondern auch RNA-Moleküle als Katalysatoren wirken können,, wurde schrittweise erkannt, dass die RNA im zellulären Geschehen eine viel wichtigere Rolle spielt als ursprünglich angenommen. In der Tat kodiert nur ein verschwindend kleiner Teil des menschlichen Genoms, nach dem heutigen Wissensstand 1.5 %, für Proteine aber vom Rest der DNA werden über 90 % auch transkribiert. Welche Aufgaben die so transkribierten RNA-Moleküle erfüllen ist nur zu einem geringen Teil bekannt. Man kann jedoch davon ausgehen, dass nicht kodierende RNA wichtige Funktionen hat und für molekulare Überraschungen durch Entdeckungen ist in diesem Zusammenhang gesorgt [2]. Schon bekannt und einigermaßen gut untersucht sind einige Mechanismen der epigenetischen Vererbung. Der Begriff der Epigenetik ist noch nicht sehr präzise aber eine gute Arbeitshypothese könnte die folgende Definition darstellen:

„Der Begriff Epigenetik definiert alle meiotisch und mitotisch vererbbaren Veränderungen der Genexpression, die nicht in der DNA-Sequenz selbst codiert sind." [3]

Die Epigenetik wirkt auf die Genexpression und das Expressionsmuster kann teilweise von einer Generation an die Folgegenerationen weitergegeben werden. Abbildung 2.

Abbildung 2. Die vererbbare Schaltung von Genen durch RNA-Interferenz, DNA-Methylierung und Histon-Modifizierung. Chemische Modifizierung der Histone - Methylierung, Acetylierung, Phosphorylierung, Ubiquitinierung.- kann eine veränderte Chromatinstruktur und damit Genaktivierung/Genstilllegung bewirken- (Bild modifiziert nach G. Egger et al., (2004) Nature 429:457-463)

Drei Mechanismen der vererbbaren Abschaltung von Genen sind (i) RNA-Interferenz, (ii) Histon Modifikation und (iii) DNA-Methylierung. Zum Unterschied von Veränderungen an der Nukleotidsequenz der DNA verblasst das „epigenetische Gedächtnis“ zumeist nach einigen wenigen Generationen [4]. Die erblichen epigenetischen Modifikationen werden unabhängig von der DNA-Replikation in das Transkriptions-Translationssytem der Zelle eingeführt und können daher zu allen Lebzeiten auftreten. Es wird daher auch möglich, dass Lebensstil und Umwelteinflüsse durch ein sogenanntes „epigenetisches Gedächtnis“ an die Nachfahren weitergegeben werden. In diesem Sinne tritt über das Genaktivitätsmuster eine epigenetische Vererbung erworbener Eigenschaften ein.

Die schon lang bekannte und nunmehr durch chemisches und molekularbiologisches Wissen untermauerte Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften wurde vor allem in der populär- und pseudowissenschaftlichen Literatur als „Neo-Lamarckismus“ gefeiert [5,6] und sogar ideologisch missbraucht [7]. In der seriösen Wissenschaft bietet die Epigenetik eine entscheidende Bereicherung der genetischen Vererbung [8]: Durch die Möglichkeit, dass Teile der Lebenserfahrungen direkt an die Nachkommen weitergegeben werden können, wird der evolutionäre Anpassungsprozess schneller und unmittelbarer als die konventionelle Genetik, die mit ungerichteten Mutationen arbeiten muss. Die Evolution der höheren Lebewesen, insbesondere die der Pflanzen und Tiere, verwaltet und verarbeitet nicht nur größere Genome, sie kann sich auch eines erweiterten Repertoires der Vererbung bedienen. In den zusätzlichen Prozessen spielt die RNA eine tragende Rolle.

Typisch für die Entwicklung einer dynamischen Wissenschaft wie der mit der Chemie vereinigten Biologie ist, dass die meisten Regeln ihre Gültigkeit verlieren und durch neue ersetzt werden müssen. Gerade diese Tatsache macht die Molekularbiologie der Zukunft so faszinierend.


[1] Larry J. Croft, Martin J. Lercher, Michael J. Gagen, John S. Mattick. 2003. Is prokaryoric complexity limited by accelerated growth in regulatory overhead? Genome Biology 5:P2.

[2] Thomas R. Cech, Joan A. Steitz, 2014. The Noncoding RNA Revolution – Trashing Old Rules to Forge New Ones. Cell 157(1):77-94.

[3] Gerda Egger, Gangning Liang, Ana Aparicio, Peter A. Lones. 2004. Epigenetics in Human Disease and Prospects for Epigenetic Therapy. Nature 429(6990):457-463.

[4] Agustina D’Urso, Jason H. Bricker. 2017. Epigenetic Transcriptional Memory. Curr.Genetics 63(3):435-439.

[5] Vorarlberger Bildungsserver. 2007. http://www.bio.vobs.at/gen-mol/g-epigenetik.php. Retrieved 29.02.2020.

[6] Vorarlberger Bildungsserver. 2007. http://www.bio.vobs.at/evolution/e06-lamarckismus_epigenetik.php. Retrieved 29.02.2020.

[7] Edouard I. Kolchinsky, Ulrich Kutschera, Uwe Hossfeld, Georgy S. Lewit. 2017. Russia’s New Lysenkoism. Curr.Biology 27(19):R1042.

[8] Étienne Danchin, Arnaud Pocheville, Phillipe Huneman. 2018. Early in Life Effects and Heredity: Reconciling Neo-Darwinism with Neo-Lamarckism under the Banner of the Inclusive Evolutionary Synthesis. 2018. Phil.Trans.Roy.Soc.B 374:e20180113.


*Der vorliegende Artikel ist der Schlussteil des Vortrags "Chemische Aspekte der Evolution", den der Autor im Rahmen einer Veranstaltung der Gesellschaft der Freunde der ÖAW in Kooperation mit der TU Wien am 3.März 2020 gehalten hat. Der vollständige, mit vielen Literaturzitaten und Abbildungen versehene Vortrag findet sich auf der Homepage des Autors: https://www.tbi.univie.ac.at/~pks/Presentation/wien-oeaw20text.pdf und https://www.tbi.univie.ac.at/~pks/Presentation/wien-oeaw20.pdf


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Redaktion Thu, 12.03.2020 - 08:53

Strukturbiologie weist den Weg zu einem Coronavirus-Impfstoff

Strukturbiologie weist den Weg zu einem Coronavirus-Impfstoff

Do, 05.03.2020 — Francis S. Collins

Francis S. CollinsIcon MedizinVoraussetzung für eine Infektion mit dem neuen, COVID-19 verursachenden Coronavirus ist, dass es an menschliche Zellen im Atemtrakt andockt und in diese eindringt. Das Andocken erfolgt über das an der Oberfläche des Virus exprimierte Spike-Protein, das dann auch die Fusion von viraler mit menschlicher Zellmembran auslöst und somit eine erstrangige Zielstruktur für antivirale Strategien darstellt. Mit Hilfe der Kryo-Elektronenmikroskopie konnte nun die 3D-Struktur des Spike-Proteins und damit auch die der andockenden Stelle in atomarer Auflösung entschlüsselt werden. Dieses Wissen bietet eine Basis für die Entwicklung von Impfstoffen und antiviralen Agentien. Francis Collins, NIH-Direktor und ehem. Leiter des "Human Genome Project", gibt einen Überblick über diese Aktivitäten.*

Der gegenwärtige Ausbruch von COVID-19, verursacht durch einen neuen Typ des Coronavirus mit Ursprung in China, hat weltweit enorme Anstrengungen ausgelöst, um die Ausbreitung der Infektion einzudämmen und zu verlangsamen. Allen Bemühungen zum Trotz hat das Virus (Abbildung 1) begonnen sich während des letzten Monats außerhalb Chinas in zahlreichen Ländern und Gebieten zu verbreiten.

Abbildung 1. Das neue Coronavirus - SARS-CoV-2 - , das COVID-19 verursacht. Links: Elektronenmikroskopische Aufnahme von Viren, die von einem US-Patienten isoliert wurden, in einer Zellkultur. Spikes, welche kronenartig die Oberfläche des Virus säumen, haben zur Bezeichnung Coronavirus geführt (Credit: NIAID RML). Rechts: Graphische Darstellung des Coronavirus in der Lunge. Das Virus ist von einer Membran umschlossen, aus welcher das für die Anheftung an und das Eindringen in die Körperzellen verantwortliche Spike-Protein (lila) herausragt.. Ein Kanal-Protein in der Membran (rosa) ist in die Abschnürung des Virus involviert. Im Innern findet sich die genomische RNA (weiße Stränge), daran gebunden viele Kopien des Nucleocapsid-Proteins (blau). Das Virus ist vom Abwehrsystem der Lunge umringt: Mukus (grüne Bänder), sezernierten Antikörpern (gelb) und verschiedenen kleineren Proteinen des Immunsystems (Bild von David S. Goodsell, RCSB Protein Data Bank; doi: 10.2210/rcsb_pdb/goodsell-gallery-019). Beide Bilder wurden von der Redaktion eingefügt.

In den USA sind inzwischen Fälle von infizierten Personen aufgetreten, die kürzlich weder im Ausland gewesen waren noch sich eines Kontakts zu anderen Personen bewusst waren, die kurz zuvor aus China oder anderen Ländern, in denen sich das Virus verbreitet, angekommen wären. Die National Institutes of Health (NIH) und andere US-amerikanische Gesundheitsbehörden sind in höchster Alarmbereitschaft und haben die erforderlichen Ressourcen mobilisiert, um nicht nur zur Eindämmung des Virus beizutragen, sondern auch bei der Entwicklung lebensrettender Maßnahmen zu helfen.

Das virale Spike-Protein als Target für die Impfstoff-Entwicklung und…

Was die Behandlung und Prävention betrifft, gab es kürzlich einige ermutigende Neuigkeiten Ein NIH-finanziertes Forscherteam hat in Rekordzeit die erste 3D-Struktur eines für die Impfstoffentwicklung erfolgversprechenden Zielproteins in atomarer Auflösung erstellt [1]. Es handelt sich dabei um das sogenannte Spike-Protein des neuen Coronavirus, das COVID-19 verursacht. Abbildung 2.

Abbildung 2. Das Spike-Protein des Coronavirus SARS-CoV-2 in atomarer Auflösung. (Credit: McLellan Lab, University of Texas at Austin) Anm.Redn.: Die Struktur ist in der PDB Datenbank unter 6VSB hinterlegt (DOI: 10.2210/pdb6VSB/pdb)

Ein Teil dieses stacheligen Oberflächenproteins (oben im Bild: grüne Ketten) ermöglicht es dem Virus an einen Rezeptor auf menschlichen Zellmembranen zu binden wodurch dann andere Teile des Spikes die Fusion von viralen und menschlichen Zellmembranen auslösen. Dieser Prozess ist die Voraussetzung, dass das Virus in Zellen eindringen und diese infizieren kann.

…ein Impfstoffkandidat

auf Basis dieses Spike-Proteins wird in präklinischen Studien an Mäusen bereits im Impfstoff-Forschungszentrum (VRC) des NIH getestet, das Teil des Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten (NIAID) ist. Eine frühe klinische Phase-I-Studie am Menschen wird mit diesem Impfstoff voraussichtlich in wenigen Wochen beginnen. Anschließend werden allerdings noch viele weitere Schritte erforderlich sein, um die Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffs zu testen und dann die Produktion hochzufahren, um Millionen von Dosen zu produzieren.

Auch wenn dieser Zeitplan möglicherweise alle bisherigen Geschwindigkeitsrekorde brechen wird, wird es mindestens ein weiteres Jahr dauern, bis ein sicherer und wirksamer Impfstoff für einen umfassenden Einsatz bereit steht.

Coronaviren sind eine große Familie von Viren darunter gibt es einige, die bei gesunden Menschen eine „Erkältung“ verursachen. Tatsächlich sind diese Viren auf der ganzen Welt verbreitet und bei Erwachsenen für bis zu 30 Prozent der Infektionen der oberen Atemwege verantwortlich.

Der Ausbruch von COVID-19 markiert nun das dritte Mal in jüngster Zeit, dass ein Coronavirus aufgetaucht ist, das bei manchen Menschen schwere Erkrankung und Tod verursacht. Zu den vorhergegangenen Ausbrüchen von Coronaviren gehörten SARS (schweres akutes respiratorisches Syndrom), das Ende 2002 auftrat und zwei Jahre später verschwand, und MERS (nahöstliches respiratorisches Syndrom), das 2012 auftrat und noch weiterhin Menschen in geringer Anzahl infiziert.

Die Strukturanalyse des Spike-Proteins

Rasch nach dem Ausbruch von COVID-19 wurde das neue, eng mit dem SARS-Erreger verwandte Coronavirus, als Ursache erkannt. NIH-finanzierte Forscher, darunter Jason McLellan, ein ehemaliger Student am VRC und jetzt an der University of Texas in Austin tätig, standen schon bereit. Sie hatten jahrelang in Zusammenarbeit mit NIAID-Forschern Coronaviren untersucht, mit besonderem Augenmerk auf die Spike-Proteine.

Gerade einmal zwei Wochen nachdem chinesische Wissenschaftler die erste Sequenzierung des Virusgenoms berichtet hatten [2], designten McLellan und seine Kollegen nach dieser Bauanleitung Proben des Spike-Proteins. Entscheidend war, dass das Team zuvor eine Methode entwickelt hatte, mit der Coronavirus-Spike-Proteine ​​in eine stabile Konformation gebracht werden können, die sowohl eine Strukturanalyse mithilfe der hochauflösenden Kryo-Elektronenmikroskopie erleichtert als auch eine Anwendung zur Entwicklung von Impfstoffen.

Nachdem die Forscher das Spike-Protein in der Konformation stabilisiert hatten, die es einnimmt, bevor es mit einer menschlichen Zelle fusioniert und diese infiziert, rekonstruierten sie in nur 12 Tagen seine 3D-Struktur im atomarer Auflösung. Ihre in Science veröffentlichten Ergebnisse bestätigen, dass das Spike-Protein auf dem COVID-19 verursachenden Virus und das auf seinem nahen Verwandten, dem SARS-Virus, ziemlich ähnlich sind. Das neue Virus scheint an menschliche Zellen fester zu binden als das SARS-Virus; dies könnte erklären, warum es sich leichter von Person zu Person - hauptsächlich durch Übertragung über die Atemwege - zu verbreiten scheint.

Präklinische und Klinische Studien

Das Team um McLellan und seine Kollegen vom NIAID VRC planen auch, das stabilisierte Spike-Protein als Sonde zu verwenden, um natürlich produzierte Antikörper von Menschen zu isolieren, die von der COVID-19 Erkrankung wieder genesen waren. Solche Antikörper könnten die Grundlage für eine Behandlung von Personen bilden, die dem Virus ausgesetzt waren, beispielsweise von Beschäftigten im Gesundheitswesen.

Das NIAID arbeitet jetzt mit dem Biotechnologieunternehmen Moderna (Cambridge, MA) zusammen, um anhand der neuesten Erkenntnisse einen Impfstoffkandidaten zu entwickeln und zwar unter Verwendung der Messenger-RNA (mRNA) des Spike-Proteins, d.i. des Moleküls, das als Vorlage für die Herstellung desProteins dient. Das Ziel dabei ist es, den Körper dazu zu bringen, ein Spike-Protein so zu produzieren, dass es eine Immunantwort und die Produktion von Antikörpern auslöst. Eine frühe klinische Studie mit dem Impfstoff am Menschen wird voraussichtlich in den kommenden Wochen beginnen. Andere Impfstoffkandidaten befinden sich ebenfalls in der präklinischen Entwicklung.

Mittlerweile läuft bereits die erste klinische Studie in den USA zur Evaluierung einer experimentellen Behandlung von COVID-19 (Biosicherheitslabor des University of Nebraska Medical Centers) [3]. Die von NIH gesponserte Studie wird die Sicherheit und Wirksamkeit des experimentellen antiviralen Arzneimittels Remdesivir an stationär aufgenommenen Erwachsenen mit der Diagnose COVID-19 evaluieren. Der erste Teilnehmer ist ein Amerikaner, der nach der Quarantäne auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess in Japan heimgeholt worden war.


Das Risiko, in den USA an COVID-19 zu erkranken, ist derzeit gering, aber die Situation ändert sich rasch. Eine der großen Herausforderungen, die das Virus mit sich bringt, ist seine lange Latenzzeit, bevor sich das charakteristische grippeähnliche Fieber, Husten und Atemnot manifestieren. Tatsächlich können mit dem Virus infizierte Personen möglicherweise bis zu zwei Wochen lang keine Symptome zeigen, es inzwischen aber an andere übertragen. (Die gemeldeten Fälle in den USA kann man auf der Website des Centers for Disease Control and Prevention verfolgen.)

Wenn der COVID-19 Ausbruch in den kommenden Wochen und Monaten andauert, können Sie sicher sein, dass das NIH und andere US-amerikanische Gesundheitsorganisationen auf Hochtouren daran arbeiten, dieses Virus zu verstehen und bessere Diagnosen, Behandlungen und Impfstoffe zu entwickeln.


[1] Cryo-EM structure of the 2019-nCoV spike in the prefusion conformation. Wrapp D, Wang N, Corbett KS, Goldsmith JA, Hsieh CL, Abiona O, Graham BS, McLellan JS. Science. 2020 Feb 19. [2] A new coronavirus associated with human respiratory disease in China. Wu F, Zhao S, Yu B, Chen YM, Wang W, Song ZG, Hu Y, Tao ZW, Tian JH, Pei YY, Yuan ML, Zhang YL, Dai FH, Liu Y, Wang QM, Zheng JJ, Xu L, Holmes EC, Zhang YZ. Nature. 2020 Feb 3. [3] NIH clinical trial of remdesivir to treat COVID-19 begins. NIH News Release. Feb 25, 2020.


* Dieser Artikel von NIH Director Francis S. Collins, M.D., Ph.D. erschien zuerst (am 3. März 2020) im NIH Director’s Blog unter dem Titel: "Structural Biology Points Way to Coronavirus Vaccine" https://directorsblog.nih.gov/2020/03/03/structural-biology-points-way-to-coronavirus-vaccine/ . Er wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu übersetzt und geringfügig (mit einigen Untertiteln und einer zusätzlichen Abbildung) für den ScienceBlog adaptiert. Reprinted (and translated by ScienceBlog) with permission from the National Institutes of Health (NIH).

 


Weiterführende Links

NIAID: Coronaviruses.

https://www.niaid.nih.gov/diseases-conditions/coronaviruses

WHO: Coronavirus disease (COVID-19) outbreak.

https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019

Francis S.Collins, 27.09.2018: Erkältungen - warum möglichweise manche Menschen häufiger davon betroffen sind.


 

Redaktion Thu, 05.03.2020 - 10:00

Neue Anwendungen für existierende Wirkstoffe: Künstliche Intelligenz entdeckt potentielle Breitbandantibiotika

Neue Anwendungen für existierende Wirkstoffe: Künstliche Intelligenz entdeckt potentielle Breitbandantibiotika

Sa, 27.02.2020 — Inge Schuster

vIcon MedizinAuf dem Antibiotikagebiet dürfte ein großer Durchbruch erfolgt sein: Mithilfe von Künstlicher Intelligenz haben Forscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und am Broad Institute aus einer Sammlung existierender Arzneimittel(kandidaten)  ein hocheffizientes Antibiotikum identifiziert, das einen neuartigen Wirkungsmechanismus aufweist. Diese, Halicin genannte Substanz tötete in vitro viele der weltweit problematischsten pathogenen Bakterien, einschließlich einiger Stämme, die gegen alle bekannten Antibiotika resistent sind. In vivo Untersuchungen an der Maus in zwei unterschiedlichen Infektionsmodellen bestätigten die in vitro Wirksamkeit.

"Der Mangel an neuen Antibiotika gefährdet die weltweiten Bemühungen, arzneimittelresistente Infektionen einzudämmen" So übertitelt die WHO eine Aussendung vom 17.Jänner 2020.

Infektionen mit arzneimittelresistenten Keimen und damit verbundene Morbidität und Mortalität sind weltweit auf dem Vormarsch und alle Länder sind davon betroffen. In Europa rechnet man jährlich mit rund 33 000 Todesfällen, in den US mit über 35 000 Toten bei mehr als 2,8 Millionen an Antibiotika-resistenten Infektionen Erkrankten (1). Derartige Infektionen bedeuten zudem eine enorme Gefahr für die moderne Medizin, für die wirksame Antibiotika ja eine Grundvoraussetzung sind, um komplizierte chirurgische Eingriffe, Transplantationen und Chemotherapien durchführen zu können.

Wie war es zu diesem Antibiotika Mangel gekommen?

Die Entdeckung des Penicillins hatte einen Boom in der Antibiotika-Forschung und Entwicklung ausgelöst, der bis in die 1980er Jahre anhielt. Praktisch alle großen Pharmakonzerne investierten damals in Infektionskrankheiten und generierten eine breite Palette an Wirkstoffen mit unterschiedlichen Wirkungsmechanismen, wie beispielsweise β-Laktame, Tetracycline, Aminglykoside oder Makrolide. Damit waren dann aber offensichtlich die "low hanging fruits" gepflückt und trotz intensiver Bemühungen wurden weitere Substanzklassen mit neuartigem Wirkmechanismus kaum noch entdeckt. Unter den vorhandenen Antibiotika herrschte zudem ein großer Konkurrenzdruck und man glaubte über ein ausreichend großes Arsenal an Wirkstoffen bereits zu verfügen, um für alle Eventualitäten  gerüstet zu sein. Die langdauernde, enorm teure Entwicklung neuer Wirkstoffe, die den vorhandenen dann wohl kaum überlegen sein würden, erschien finanziell nicht tragbar. So zogen sich die Pharmakonzerne aus der Antibiotikaforschung zurück.

Noch problematischer erschien später – mit dem Aufkommen der Resistenzentwicklung gegen die gängigen Antibiotika – ein Wiedereinstieg in das Gebiet. Um gegen ein neues Mittel nicht zu schnell Resistenzen entstehen zu lassen, darf es ja nur in äußersten Notfällen eingesetzt werden. In anderen Worten: enorm hohe Entwicklungskosten stehen der Aussicht auf einen minimalen Absatz gegenüber.

So kam es, dass in den letzten Jahrzehnten nur sehr wenige neue Antibiotika entwickelt wurden , wobei diese größtenteils nur geringfügig veränderte Varianten vorhandener Wirkstoffe sind.

Der aktuelle Stand der Antibiotikaforschung

Vorhandene und potentielle neue Antibiotika, welche bereits in klinischer Prüfung sind und diese erfolgreich durchlaufen müssen, reichen nicht aus, um die steigende und sich ausbreitende Resistenzentwicklung zu bewältigen. Zwei aktuelle Berichte der WHO zeigen dies auf (1, 2):

So sind seit Juli 2017 zwar 8 neue Wirkstoffe zugelassen worden, deren klinischer Nutzen ist allerdings begrenzt. Wie auch die Mehrheit der 50 Antibiotika-Kandidaten, die sich zur Zeit in Phase 1 bis Phase 3 der klinischen Prüfung befinden, sind es Abwandlungen bereits existierender Antibiotika, die im Vergleich zu diesen kaum Vorteile bringen. Nur 2 Substanzen zielen auf die problematischsten resistenten (Gram-negativen) Keime ab.

Die präklinische Pipeline - das sind Substanzen am Beginn der Entwicklung - sieht besser aus (2): Diese enthält 252 Wirkstoffe, die innovativeren Charakter haben und größere Diversität aufweisen. Erfahrungsgemäß scheitert der überwiegende Teil der präklinischen Kandidaten dann in der Testung auf Wirksamkeit und Sicherheit am Menschen. Vielleicht schaffen es 2, vielleicht auch 5 der präklinischen Substanzen schlussendlich zur Anwendung zugelassen werden; bis es soweit ist, kann es noch ein Jahrzehnt dauern.

Akteure in dem Geschehen sind nicht die großen Konzerne, sondern zum überwiegenden Teil kleine und mittelgroße Firmen und auch non-profit Organisationen wie die Global Antibiotic Research and Development Partnership (GARDP).

(Information zum Prozess der Arzneimittel-Forschung und -Entwicklung:  Insgesamt braucht es heute im Durchschnitt 12 - 13 Jahre, um ein neues Medikament auf den Markt zu bringen, die dafür aufzubringenden Forschungs-und Entwicklungskosten liegen im Mittel um 2,6 Milliarden US $ und nur etwa 5 % der in die klinische Prüfung gelangenden Kandidaten erreichen die Zulassung.)

Neuanwendungen bereits vorhandener Wirkstoffe (Drug Repurposing)…

oder eine Nebenwirkung wird zur Hauptwirkung.

Dass Arzneimittel nicht nur mit ihrer Zielstruktur (ihrem Target) wechselwirken und damit die erwünschte Wirkung hervorrufen, sondern auch mit anderen Strukturen im Organismus interagieren und damit Nebenwirkungen auslösen können, ist hinlänglich bekannt. Derartige Nebenwirkungen haben in bereits zahlreichen Fällen zur Identifizierung neuer Anwendungsmöglichkeiten geführt. Ein Beispiel ist hier das in den 1960er Jahren millionenfach verkaufte Beruhigungsmittel Contergan (Thalidomid), das schwerste Missbildungen bei Neugeborenen auslöste, nun aber bei Lepra und bestimmten Krebserkrankungen (u.a. Myelomen) erfolgreich zum Einsatz kommt. Viagra, das gefäßerweiternd wirkt, wurde ursprünglich gegen Bluthochdruck und Angina pectoris geprüft; die recht offensichtliche Nebenwirkung hat es zum Blockbuster bei erektiler Dysfunktion werden lassen. Das klassische, seit mehr als 50 Jahren erfolgreich angewandte Antidiabetikum Metformin wird nun in hunderten klinischen Versuchen in verschiedensten Indikationen von Neoplasmen bis hin zu Anti-Aging getestet. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung war eine bei Sandoz für Herz-Kreislauferkrankungen synthetisierte Substanz, die sich in unserem Wiener Sandoz-Forschungsinstitut als hochaktiv gegen pathogene Pilze erwies; nach Optimierung entstand daraus der Blockbuster Terbinafin, der gegen Haut-und Nagelpilz angewandt wird.

Je nachdem, ob es sich um ein bereits zugelassenes Medikament oder um eine Entwicklungssubstanz handelt, können Daten zu Aufnahme, Verteilung, Metabolismus und Ausscheidung im menschlichen Organismus und zu Sicherheit und Nebenwirkungen bereits vorliegen und der Wirkmechanismus bekannt sein. Bei einer Neuanwendung in einer anderen Indikation lassen sich daher Dauer und Kosten der Entwicklung erheblich reduzieren.

…und eine Datenbank vorhandener Wirkstoffe (Drug Repurposing Hub)…

Das Broad Institute des MIT (Massachusetts Institute of Technology) und der Harvard University wurde 2004 gegründet u.a. um die Biologie humaner Erkrankungen besser zu verstehen und eine Basis für neue Therapien zu schaffen. Forscher haben hier mit Drug Repurposing Hub eine open access Datenbank errichtet, die derzeit mehr als 6000 Substanzen enthält, wobei es sich bei etwa zwei Drittel davon um von der FDA bereits zugelassene Stoffe handelt oder um Entwicklungssubstanzen, die bereits in der klinischen Prüfung sind. Ein Drittel sind Substanzen vorwiegend in der präklinischen Phase. Von allen Substanzen sind Bezeichnung, chemische Struktur, Entwicklungsstatus, Wirkungsmechanismus, Targets im Organismus undIndikationen eingetragen.

…in der Künstliche Intelligenz ein neues Antibiotikum entdeckt...

Um zu vollkommen neuen antibiotisch wirksamen Substanzen zu gelangen, hat ein großes Team von der Harvard University, dem MIT und dem Broad-Institut unter der Leitung von Regina Barzilay und James Collins sogenannte neuronale-Netzwerk-Modelle des Maschinellen Lernens angewandt. Diese lassen sich trainieren Molekülstrukturen zu analysieren und mit bestimmten Eigenschaften - wie der Fähigkeit Bakterien zu töten - zu korrelieren und zu Algorithmen umzusetzen. Der wesentliche Punkt: Der Algorithmus lernt ohne irgendeine Ahnung wie Substanzen nun wirken.

Im konkreten Fall haben die Forscher nach chemischen Merkmalen gesucht, welche Molekülen die Fähigkeit verleihen das Bakterium E.coli zu töten. Dazu haben sie das Modell mit empirischen Daten zur Wachstumshemmung von E coli durch insgesamt 2 500 Moleküle mit unterschiedlichsten Strukturen und biologischen Aktivitäten trainiert; 1700 dieser Verbindungen waren von der FDA zugelassene Arzneimittel und 800 waren Naturstoffe .

Nachdem das Modell trainiert war, haben die Forscher dann damit auf potentielle antibiotisch aktive Verbindungen im Drug Repurposing Hub getestet. Aus den rund 6000 Verbindungen selektierte das Modell dann eine Verbindung, für die es hohe antibiotische Aktivität prognostizierte und die strukturell völlig anders war als die bisherigen Antibiotika. Es war dies eine Substanz, die gegen Diabetes getestet worden war, in der klinischen Prüfung aber wegen mangelnder Wirksamkeit durchfiel. Mit einem unterschiedlichen Modell prognostizierten die Forscher geringe Toxizität für menschliche Zellen.

...Halicin

Die Forscher nannten diese Verbindung Halicin und testeten sie in vitro an einer Reihe von E.coli Stämmen, die Resistenzgene gegen Antibiotika wie Poymyxine, Chloramphenicol, β-Laktame, Aminglycoside und Fluoroquinoline trugen und sodann an Dutzenden Bakterienstämmen und Isolaten von infizierten Patienten. Mit Ausnahme des die Lunge befallenden Keims Pseudomonas aeruginosa konnte Halicin viele resistente Keime abtöten (darunter Clostridium difficile, Acinetobacter baumannii und Mycobacterium tuberculosis). Abbildung 1.

Abbildung 1. Halicin, ein möglicher Durchbruch in der Antibiotikaforschung. Das kleine Molekül (rechts), das ursprünglich gegen Diabetes getestet worden war, wurde von MIT-Forschern mithilfe von Künstlicher Intelligenz aus einer Sammlung existierender Wirkstoffe als hochwirksames Antibiotikum identifiziert, das viele Bakterienstämme abtötet. Links: Untersuchung an E.coli Kulturen. Links oben (Bild 1,2): Kulturen mit Halicin. Links unten (Bild 1,2) Kulturen mit Ciprofloxacin. Gegen Halicin entwickeln E.coli Bakterien auch nach 30 Tagen (Bild 2) keine Resistenz - E.coli wird abgetötet, die Platten bleiben klar. Gegen das Antibiotikum Ciprofloxacin tritt Resistenz bereits nach drei Tagen auf und erreicht nach 30 Tagen (Bild 2) den 200 fachen Wert; die Kulturplatte is von Keimen überwuchert.  (Bild: courtesy of the Collins Lab at MIT; CC-by-nc-sa)

Auch im Wirkungsmechanismus unterscheidet sich Halicin von den bisherigen Antibiotika. Halicin dürfte  Bakterien abtöten, indem es verhindert, dass die Bakterienzelle über ihre Zellmembran ein elektrochemisches Potenzial aufrecht erhält, das u.a. zur Bildung des essentiellen Energielieferanten ATP unabdingbar ist.

Halicin zeigte auch außergewöhnliche Aktivität in vivo, im Infektionsmodell in der Maus. Die Tiere wurden dazu mit einem gegen alle Antibiotika resistenten Keim (Acinetobacter baumannii) infiziert, unter dem auch viele US Soldaten im Irak und in Afghanistan gelitten hatten. Unter Halicin-Behandlung war der Keim innerhalb von 24 Stunden aus dem Körper der Maus verschwunden.

Nach der Entdeckung von Halicin erprobten die Forscher ihr Modell an einer Datenbank - ZINC15 -, die mehr als 1,5 Milliarden Verbindungen erfasst. Die Testung eines Pools von mehr als 100 Millionen Molekülen benötigte nur drei Tage und führte zu 23 Treffern (Hits); im nachfolgenden Test an mehreren Bakterienstämmenzeigten 8 Verbindungen antibakterielle Wirkung. (Die Arbeiten sind in (3) beschrieben)

Outlook

Der erfolgreiche Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Auffindung neuer Wirkstoffe in großen Kollektionen bereits existierender Arzneimittel bedeutet zweifellos  einen gewaltigen Durchbruch und kann nicht nur das Antibiotikagebiet revolutionieren. Werden alte Substanzen für neue Indikationen wiederverwendet, so können diese ja viel schneller den Entwicklungsprozess durchlaufen und - in vielleicht 3 - 4 Jahren - zu ungleich geringeren Kosten den Markt erreichen als es im  konventionellen Prozess der Fall ist. 

Es ist zu hoffen, dass Halicin diesen Prozess erfolgreich besteht. Nebenwirkungen sind nicht auszuschließen, da sein Target  im menschlichen Stoffwechsel eine wichtige Rolle spielt. Es könnte auch sein, dass Halicin unser gesamtes Mikrobiom  (temporär) auslöscht. Derartige potentielle Probleme sind gegen die Möglichkeit abzuwägen ein Arzneimittel anzuwenden, das hilft, wenn sonst nichts mehr hilft.


1. World Health Organization: 2019 ANTIBACTERIAL AGENTS IN CLINICAL DEVELOPMENT - an analysis of the antibacterial clinical development pipeline. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/330420/9789240000193-eng.pdf

2. World Health Organization: ANTIBACTERIAL AGENTS INPRECLINICAL DEVELOPMENT - an open access database. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/330290/WHO-EMP-IAU-2019.12-eng.pdf

3. JM Stokes et al., A Deep Learning Approach to Antibiotic Discovery.Cell 180, 688–702, February 20, 2020


Weiterführende Links:

The Drug Repurposing Hub at the Broad Institute. (13.11.2019) Video 2,5 min.

Halicin is a powerful new antibiotic drug discovered by AI algorithm of MIT. (21.02.2020) Video 4:17 min.

Artikel im ScienceBlog:

Zu künstlicher Intelligenz:

Zu Antibiotika:


 

inge Thu, 27.02.2020 - 11:43

Die Intelligenz der Raben

Die Intelligenz der Raben

Do, 20.02.2020 — Nora Schultz

Nora SchultzIcon Gehirn

Viele unserer tierischen Mitspieler im Parcours der Evolution zeigen unerwartete Eigenschaften, von denen zwar in Mythen und Anekdoten berichtet wird, die aber erst in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich untersucht werden. So stellt sich bei Rabenvögel heraus, dass sie beachtliche kognitive Leistungen erbringen, sich sehr gut in ihre Artgenossen einfühlen können und soziale Beziehungen gezielt für sich nutzen oder sogar manipulieren. Zu diesen Forschungsergebnissen hat Thomas Bugnyar (Prof. für Kognitive Ethologie und Leiter des Instituts für Kognitionsbiologie. Univ. Wien) Wesentliches beigetragen. Die Entwicklungsbiologin Nora Schultz interviewt hier den "Rabenvater".*

Nora Schultz: Herr Bugnyar, wie sind Sie dazu gekommen, die Intelligenz von Rabenvögeln zu untersuchen?

Thomas Bugnyar: Ich habe mich schon immer für die Evolution von Intelligenz interessiert, besonders von sozialer Intelligenz. Während meines Studiums forschten alle noch an Affen – ich auch. Über die Intelligenz von Vögeln wusste man sehr wenig. Durch Zufall bekam ich das Angebot, in meiner Doktorarbeit zu erforschen, ob Raben wirklich so gescheit sind, wie viele Mythen und Anekdoten es vermuten lassen.

Nora Schultz: Was sind das für Mythen und Anekdoten?

Thomas Bugnyar: Rabenvögel spielen eine wichtige Rolle in den Sagen ganz unterschiedlicher Kulturen, zum Beispiel bei den indigenen Völkern Nordamerikas, im alten Rom oder in der nordischen Mythologie. In letzterer treten Raben als Boten des Gottes Odin auf, die dieser immer wieder auf die Erde schickt, damit sie ihm berichten, was dort geschieht. Abbildung 1 (von Redn eingefügt)

Abbildung 1. Der nordische Göttervater Odin (links) hört von seinen Raben Hugin und Munin die Weltnachrichten, der griechische Gott Apollo (rechts) erfährt ihm unangenehme Neuigkeiten von seinem Raben (beide Bilder aus Wikipedia; links: aus Manuskript des 17. Jh, gemeinfrei; rechts: weißgrundige Schale um 460 v.Chr. im Museum von Delphi, Foto Fingalo.)

Nora Schultz: Aber galten Vögel im Vergleich zu Säugetieren nicht lange als weniger schlau? Im Englischen verwendet man den Ausdruck „bird brain“ ja sogar analog zu „Dummkopf“.

Thomas Bugnyar:Das Vogelhirn ist nicht leistungsschwächer als das Säugerhirn! Die Hirnstrukturen sind sehr unterschiedlich, aber die Funktionen auf der Zellebene und die kognitiven Kompetenzen sind es nicht. 

Nora Schultz: Stimmt es, dass Vögel kein Großhirn haben?

Thomas Bugnyar: Die Grundannahme, dass Raben sehr schlau sind, fußt auf jahrtausendealten Beobachtungen durch Menschen, dass solche Vögel Erstaunliches leisten. In der Verhaltensforschung hat man sich dafür nur lange nicht interessiert. Einer meiner Mentoren, Bernd Heinrich, hat in den 90er Jahren eine der ersten experimentellen Studien zur Rabenkognition durchgeführt und hatte zunächst Probleme, diese zu veröffentlichen. Er hat dann eine große Literaturrecherche gemacht und über 1.000 Einträge zur Rabenintelligenz gefunden, aber nur einen davon aus einer wissenschaftlichen Studie. Alles andere waren Anekdoten.

Nora Schultz: Was hat Ihre eigene Forschung über die Intelligenz von Raben ergeben?

Thomas Bugnyar: Es hat sich herausgestellt, dass Raben ein ganz wunderbares Modell zur Erforschung von Intelligenz sind. Sie können einander zum Beispiel meisterhaft manipulieren und täuschen. Damit das klappt,  muss man in der Lage sein, die Perspektive anderer Individuen richtig einzuschätzen. Das ist ein Element der sogenannten Theory of Mind. (siehe: Im Kopf der anderen [https://www.dasgehirn.info/denken/im-kopf-der-anderen])  Eine solche Fähigkeit im Experiment mit Tieren zweifelsfrei nachzuweisen, ist allerdings nicht leicht. Wir haben dazu eine ganze Serie von Versuchen durchgeführt und konnten am Schluss wirklich eindeutig nachweisen, dass Raben in der Lage waren, sich vorzustellen, was ein anderer Rabe wahrnehmen kann.

Nora Schultz: Wie ist Ihnen das gelungen?

Thomas Bugnyar: Wir wussten bereits, dass Raben Nahrung verstecken, damit andere sie nicht finden, und dass sie sich besondere Mühe geben, dabei nicht entdeckt zu werden, wenn andere Raben in der Nähe sind. Sie verstecken ihre Beute dann zum Beispiel besonders schnell oder hinter einem nicht einsehbaren Hindernis. Oder sie warten mit dem Verstecken, bis die Konkurrenz wieder weg ist.  Um zu zeigen, dass bei solchen Tricks auch eine direkte Vorstellung über das mentale Innenleben der Konkurrenten im Spiel ist, haben wir Raben zuerst beigebracht, dass sie das Geschehen in einem Nachbarraum durch ein Guckloch beobachten können. Als dieselben Raben später Futter bekamen, haben sie es viel schneller versteckt, wenn sie im Nachbarraum Tonbandaufnahmen eines anderen Raben hörten, obwohl das Fenster, mit dem man sonst von Raum zu Raum blicken kann, verdeckt war. Bevor die Raben vom Guckloch wussten, hatten sie solche Rabengeräusche von nebenan nicht gestört, wenn das Fenster zu war – weil sie sich unbeobachtet wähnten. Dass sie sich nach Entdeckung des Gucklochs anders verhalten haben, zeigt also, dass sie sich wirklich vorstellen können, was ein anderer Rabe durch das Guckloch sehen kann.

Nora Schultz: Was können Raben noch besonders gut?

Thomas Bugnyar: Raben sind große Politiktalente. Wir haben in den letzten Jahren Erstaunliches darüber herausgefunden, was Raben über andere Raben wissen, und wie sie dieses Wissen einsetzen. Bevor Raben mit einem lebenslangen Partner in die Familiengründung einsteigen, leben sie oft mehrere Jahre in losen Gruppen zusammen. Hier treffen von Konservativen, die immer am gleichen Ort bleiben, bis hin zu regelrechten Weltenbummlern ganz unterschiedliche Typen aufeinander. So können sich sehr spannende und flexible soziale Beziehungen entwickeln.  Raben haben zum Beispiel ein phänomenales Gedächtnis für Beziehungen und wissen auch nach drei Jahren Trennung noch, wer früher ihr Freund war. Oder, wenn wilde Raben streiten, schreit der unterlegene Rabe auf übertriebene Weise, wenn unter den Zuschauern enge Verwandte oder Freunde sind, um Hilfe zu bekommen. Besteht das Publikum aus Freunden des Angreifers, verhält er sich dagegen still. Raben merken auch, wie Beziehungen sich verändern. Befreundete Raben gewinnen mehr Konflikte, weil sie sich gegenseitig helfen. Wenn die Bindung zwischen zwei Tieren enger wird, gehen verstärkt dominante Raben dazwischen, um die beiden am Kraulen oder Spielen zu hindern. Wir vermuten, dass Konkurrenz durch neue Teams so im Keim erstickt werden soll.

Nora Schultz: Ist die Intelligenz von Raben etwas Besonderes in der Vogelwelt?

Thomas Bugnyar: Von den meisten Vögeln wissen wir bislang wenig über ihre kognitiven Leistungen. Ich vermute, dass es ausgeprägte soziale Intelligenz wahrscheinlich bei vielen anderen Vögeln gibt, die in Paaren und Gruppen leben, das ist aber noch kaum untersucht worden. Das große Talent zur Manipulation könnte hingegen rabenspezifisch sein – wegen ihrer Futterpräferenzen. Raben essen am liebsten frisches Aas. Einen so großen Futterfund kann man am besten gemeinsam erobern und gegen andere Tiere verteidigen, sodass sich die Zusammenarbeit in Gruppen lohnt. Gleichzeitig entsteht aber innerhalb der Gruppe großer Konkurrenzdruck, der Täuschungsmanöver und Tricks zum Aushebeln der Rivalen begünstigt. Andere Rabenvögel haben in eine ganz andere Richtung beachtliche kognitive Leistungen entwickelt: Neukaledonische Krähen zum Beispiel können Werkzeuge auf hoch komplexe Weise nutzen und sogar selbst herstellen, um damit Insekten aus Ästen zu pulen. Und auch viele Papageien bringen Topleistungen. Die haben genau wie Raben große Gehirne und leben ebenfalls sehr lange. Ihr Sozialleben ist ähnlich komplex, aber sie sind weniger scheu gegenüber Neuem. Papageien sind nicht nur zu Recht berühmt für ihr Talent, Stimmen nachzuahmen. Sie verstehen in Experimenten sogar abstrakte Konzepte, wie Farben oder Zahlen.  Wenn man sich anschaut, wie viele Jahre uns die Primatologie voraus ist, brauchen wir einfach noch mehr Zeit, um die Intelligenz von Vögeln besser zu verstehen.

Nora Schultz: Wie wirkt sich die Intelligenz der Vögel auf die Interaktion mit den Menschen aus, die sie erforschen?

Thomas Bugnyar: Sobald man mit den Tieren zusammenarbeitet, entwickelt man Beziehungen zu ihnen, weil sie auch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten haben. Abbildung 2.

Abbildung 2. Der "Rabenvater" Thomas Bugnyar (Copyright: Thomas Bugnyar)

Es gibt einige Raben, die bei allen beliebt sind, und andere, die nur mit bestimmten Personen können. Man muss versuchen, diese Präferenzen einerseits auszuschalten, damit die Forschung objektiv bleibt. Aber andererseits kann man manchmal die persönliche Beziehung auch dazu nutzen, um die Tiere überhaupt erst zum Mitmachen zu bewegen.

Nora Schultz: Herr Bugnyar, herzlichen Dank für das Gespräch!


*Der Artikel stammt von der Webseite www.dasGehirn.info, einer exzellenten Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe). Im Fokus des Monats Feber stehen "Tiergedanken", zu denen der vorliegende Text unter dem Titel "Raben sind politische Talente" am 14. Feber 2020 erschienen ist: https://www.dasgehirn.info/denken/tiergedanken/raben-sind-politische-talente

Der unter einer cc-by-nc-sa Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion geringfügig für den Blog adaptiert (Titel und Überschriften) und es wurden Abbildungen eingefügt.


Weiterführende Links

Forscherportrait Thomas Bugnyar (2015) Video 2;42 min. https://vimeo.com/173365636

Thomas Bugnyar - Testing bird brains Raven politics. Video 34:29 min (Englisch) The Royal Physiographic Siciety of Lund (2017)

Redaktion Thu, 20.02.2020 - 12:33

Das Genom des Riesenkalmars birgt Überraschungen

Das Genom des Riesenkalmars birgt Überraschungen

Do, 13.02.2020 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon BiologieSchauergeschichten über Meeresungeheuer, die mit ihren Fangarmen ganze Schiffe samt Besatzung umschlingen, haben Seeleute früherer Epochen in Schrecken versetzt. Tatsächlich wurde die Existenz enorm großer Kephalopoden - der Riesenkalmare - im 19. Jahrhundert nachgewiesen. Da die scheuen Tiere in ihrem Lebensraum aber nur selten gesichtet werden, müssen sich Forscher auf Analysen der Funde von toten Tieren beschränken - so ist über Biologie und Verhalten der Tiere noch wenig bekannt. Einer dänischen Forschergruppe ist es nun gelungen das Genom des Riesenkalmars zu entschlüsseln. Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet über die Organisation des Genoms und die für diese Tierart spezifischen Gene.*

Ich habe in letzter Zeit oft über Wirbellose nachgedacht und war sehr erfreut zu erfahren, dass das Genom des Riesenkalmars sequenziert wurde. Ich werde nie müde, neue Genompapiere zu lesen.

Als eines der größten Tiere, die wir kennen, ist der Riesenkalmar auch eines der am schwersten zu fassenden. Er tritt hauptsächlich in Form von ans Land gespülten Körperteilen in Erscheinung, die mit augenfälligen Saugnäpfen bestückt sind. Ein ausgewachsener Riesenkalmar lässt sich nicht einfach in ein Aquarium setzen. Also kennen ihn die meisten von uns bloß aus Erzählungen.

Von Legenden umwobene Tiere

Das als Kraken titulierte riesige Meeresungeheuer der skandinavischen Sagen hat entlang der Küstengewässer Norwegens und Grönlands die Seeleute auf ihren Schiffen in Schrecken versetzt. Dabei hat es sich dabei wahrscheinlich um den Riesenkalmar gehandelt, ebenso wie bei der mit Fangarmen versehenen Skylla in Homers Odyssee. Jules Vernes hat in seinem 1869 geschriebenen Roman "20.000 Meilen unter dem Meer" das Tier berühmt gemacht. Abbildung 1.

Abbildung 1. Der Riesenkalmar. Links: in einer von Alphonse-Marie-Adolphe de Neuville stammenden Illustration aus dem 1870 erschienen Roman "20 000 Meilen unter dem Meer" von Jules Verne. Rechts: Die Besatzung der Alecton versucht 1861 einen Riesenkalmar 120 Meilen nordöstlich von Teneriffa zu harpunieren. Illustration von Henry Lee (1884) (Beide Bilder stammen aus Wikipedia und sind gemeinfrei)

In jüngster Zeit ruft der aus dem Jahr 2005 stammende Film "Der Tintenfisch und der Wal" das Bild eines Riesenkalmar wach, wie er in einem faszinierendenden Diorama gegen einen Pottwal kämpfend im American Museum of Natural History dargestellt ist. Der Regisseur Noah Baumbach hat sich das Bild als Metapher für die kämpfenden Eltern seiner jungen Protagonisten geborgt.

Wahre Geschichten vom Riesenkalmar sind ebenso faszinierend

Die erste Beschreibung stammte vom Kapitän der HMS Daedalus, Peter M’Quhae. An einem Augustnachmittag im Jahr 1848 segelte das Schiff zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Insel St. Helena vor der Küste Afrikas, als eine riesige Seeschlange aus den Tiefen auftauchte. Viele Männer waren Zeugen des Ereignisses, und ihre Geschichten fanden Eingang in die Zeitungen.

Laut Kapitän und Besatzung war das Tier 60 Fuß lang und dem Schiff ziemlich nahe gekommen. Der Kapitän machte eine Skizze und die Zeitungsleser fanden verschiedene Erklärungen. Hatten die Seeleute einen Dinosaurier gesehen, einen ungewöhnlich langen Aal, einen riesigen Seehund oder eine gigantische Schlange, die sich verirrt hatte?

Japetus Steenstrup, ein Zoologe an der Universität von Kopenhagen, sammelte 1857 Hinweise verschiedenen Urprungs zur Identität des Riesen: von den kleineren Tintenfischverwandten, welche Menschen zur Nahrung dienten, von den schleimigen an Land gespülten Tentakeln, von einem geheimnisvollen braunen Riesenschnabel und von den vermutlich übertriebenen Geschichten der Seeleute.

In einem völlig anderen Gebiet, der Neurologie, sind Riesenkalmar-Axone berühmt geworden: ihre gigantischen Axone messen bis 1,5 Millimeter im Durchmesser und fast einen Meter in der Länge und sind damit groß genug sind, um sichtbar zu sein und sich daher hervorragend für Experimente zur Nervenleitung eignen.

Anatomie eines Riesen

Der wissenschaftliche Name des Riesenkalmars lautet Architeuthis dux. Er ist ein Kephalopode - Kopffüßer- aus der Gruppe der Weichtiere. Zu den rund 800 Kopffüßer-Arten gehören Tintenfische, Oktopoden sowie einige Nautilusse. Die meisten sind weich und matschig.

Kephalopode bedeutet "Kopf und Fuß" und das ist eine ziemlich gute Beschreibung. Der Fuß des Tintenfischs ist das Gegenstück zu dem einer Schnecke, ist aber zu Armen und Fangarmen (Tentakeln) entwickelt. Das Tier hat einen markanten Kopf.

Tintenfische haben große, komplexe Gehirne und Verhaltensweisen und sie können denken; als wirbellose Tiere haben sie aber kein Rückgrat. Sie leben in der Tiefe der Weltmeere ausgenommen die polnahen arktischen und antarktischen Gewässer. Tintenfische wachsen schnell, sterben bald und werden von viele Arten gefressen. Sie sind eine gute Proteinquelle.

Unterschiedliche Arten variieren in der Größe. Pygmäenkalmare sind etwas weniger als einen Zentimeter, Riesenkalmare durchschnittlich 14 Meter lang und der kolossale 500 kg schwere Kalmar Mesonychoteuthis hamiltoni ist noch ein paar Meter länger. Abbildung 2.

Abbildung 2. Der Riesenkalmar in Relation zur Größe eines Menschen.

Ein Tintenfisch hat acht Arme und zwei Tentakeln, mit denen er nach Beute greift. Der Kopf zoomt aus einem muskulösen Kegel - dem sogenannten Mantel - heraus, der sich kontrahiert um das Tier voran zu treiben. Unter dem Mantel befindet sich eine harte Schicht, an der die Muskeln ansetzen. Ein Schnabel - das Ding, das an Land gespült wird oder sich im Bauch eines Wals findet - liegt in der Mitte eines Rings, von dem die mit Saugnäpfen besetzten Arme ausgehen. Das Tier benutzt den Ring, um - was immer an unglücklichem Getier sich in den Tentakeln windet - wie Salami zu zerschneiden.

Eines der auffälligsten Merkmale der Tintenfische ist ihre Wandlungsfähigkeit, mit der sie Farbe, Textur, Muster und Helligkeit ihrer Haut schnell verändern können. Die Tiere nutzen diese Verwandlungen, um zu kommunizieren und um sich zu tarnen und zu imitieren. In Sichtweite, können sie so unbemerkt effektiv jagen, ohne selbst gefressen zu werden.

Das Genom des Riesenkalmars - mit Hilfe von verwandten Kopffüßern entschlüsselt

Es ist schwierig, genügend Überreste frischer Riesenkalmare zu erhalten, um deren DNA untersuchen zu können. Anhand der Analyse der mitochondrialen DNA haben Forscher jedoch festgestellt, dass alle Riesenkalmaren derselben Art angehören. Das sind allerdings nur einige wenige Gene. Um ein Genom vollständig aufzuklären sind viele Kopien eines ganzen Genoms nötig. Mit Museumsproben klappt dies im Allgemeinen nicht; die dem Abbau und den Konservierungsmitteln ausgesetzte DNA ist schwer zu extrahieren und intakt zu halten.

Zum Glück konnten Fischer an Bord eines Schiffes in der Nähe von Neuseeland eine frisch gefrorene Gewebeprobe eines Riesenkalmars an das multinationale Forscherteam senden, das an der Aufklärung des Genoms arbeitete. Über die unter Leitung von Rute da Fonseca (Center for Macroecology, Evolution and Climate at the Globe Institute, University of Copenhagen) erhaltenen Ergebnisse wird nun in der Fachzeitschrift GigaScience berichtet [1].

Leider waren aber viele der Tintenfischgene kaputt. Die Forscher änderten ihre Strategie und gingen daran die Transkripte der Gene - die Messenger-RNAs (mRNAs) - und dann die Proteine von leichter zu handhabenden Verwandten zu analysieren. (Dazu ist anzumerken: Ein Genom entspricht einer hard copy, einer Bedienungsanleitung, die in jeder Zelle des Körpers vorhanden ist. Im Gegensatz dazu unterscheiden sich die Kollektionen von RNAs und Proteinen in verschiedenen Zelltypen, bilden so die Funktionen eines lebenden Organismus ab.) Die RNA ist ja empfindlicher als die DNA und würde nicht in einem Klumpen verrottenden Kalmarfleisch Bestand haben. So sammelten die Forscher mRNAs aus Gehirnen, Lebern und Sexualorganen von verwandten Arten - vom Gemeinen Hakenkalmar, vom Humboldt-Kalmar und vom violetten Flugkalmar. Sie sammelten auch Proteine ​​aus den muskulösen Mänteln von Museumsexemplaren der kalifornischen Zweipunktkrake, der Pazifischen Auster und der Großen Eulen-Napfschnecke.

Aus Vergleichen von RNAs und Rückschlüssen von den Aminosäuresequenzen der Proteine ​​auf die DNA-Sequenzen konnten die Forscher schließlich das Genom des Riesenkalmars ableiten.

Proteinfamilien

Das Genom des Riesenkalmars enthält 33.406 Gene, die für Proteine kodieren, verteilt auf 2,7 Milliarden DNA-Basen. (Im Vergleich dazu besitzt der Mensch rund 20.000 Gene in einem aus 3,2 Milliarden-Basen bestehenden Genom). Etwa die Hälfte seines Genoms besteht aus repetitiven Sequenzen (sich wiederholende DNA-Abschnitte; Anm. Redn.), von denen die meisten "springende Gene" sind (d.i. ihre Position im Genom verändern können; Anm. Redn.). Dies ist nicht überraschend. Beispielsweise sind die Genome so unterschiedlicher Spezies wie Mais, Insekten und Menschen ebenfalls mindestens zur Hälfte repetitiv und die Gene springen auch hier. Derartige repetitive Sequenzen - möglicher Rohstoff für eineEvolution - sind zum überwiegenden Teil für die unterschiedliche Genomgröße der Arten verantwortlich - die Größe ist also nicht wirklich ein entscheidender Parameter.

Das Genom des Riesenkalmars ähnelt dem anderer Tiere auch darin, dass es Genfamilien - Gruppen von Genen mit verwandten Funktionen - enthält. So enthält es ein Dutzend sogenannter WNT-Gene, die man in allen Weichtieren findet. Diese Genfamilie kodiert für Wachstumsfaktoren, die an der Signalübertragung von Zelle zu Zelle beteiligt sind und in der frühen Entwicklung die Zellproliferation und später die Erhaltung von Geweben steuern. Menschen haben 19 WNT-Gene.

Massiv vermehrt sind bei Kopffüßern Gene, die für sogenannte Protocadherine ​​kodieren. Es sind dies Proteine, welche die Zell-Zell-Adhäsion kontrollieren, die für das Funktionieren des Nervensystems unerlässlich ist. Solche Gene finden sich auch im Genom von Wirbeltieren. Dass sie in Clustern auftreten deutet darauf hin, dass sie sich aus einem ursprünglichen Gen durch wiederholte Duplizierung entwickelt haben.

Spezifisch für Kopffüßer sind sogenannte Reflektine, wie sie im Hawaii-Zwergtintenfisch gefunden wurden. Diese Proteine ​​bilden flache, das Licht reflektierende Strukturen, welche das charakteristische "Scheinwerfer"Leuchten eines Tintenfischs erzeugen, der sich optisch angleicht und kommuniziert. In Tintenfischen und Octopussen findet sich ein Cluster von neun Reflektin-Genen auf einem Chromosom.

Das Editieren der RNA und ein explodierter Cluster homöotischer Gene

Zwei Merkmale im Genom des Riesenkalmars sind von weitreichender Bedeutung.

Das riesige Tier ist offensichtlich Experte in der Editierung seiner RNA  (RNA-Editierung bedeutet, dass nach der Transkription von DNA in mRNA in dieser eine oder mehrere Nukleotidbasen ausgetauscht werden; derartige Modifikationen führen im anschliessenden Translationsvorgang zu einer größeren Vielfalt an Proteinen. Anm. Redn.). Diese Fähigkeit macht es den Genomen der Tiere möglich Varianten von Proteinen zu erzeugen, insbesondere von solchen, die am Funktionieren des Nervensystems beteiligt sind. Derartige RNA-editierte Regionen liegen im Genom an zehntausenden Stellen innerhalb „hochkonservierter“ DNA-Sequenzen. Dies bedeutet, dass sie bei vielen Arten identisch oder nahezu identisch sind - die natürliche Selektion hat sie über einen langen Zeitraum beibehalten, weil sie offensichtlich etwas Wesentliches zur erfolgreichen Reproduktion beitragen.

Auf die Gefahr hin menschliche Beweggründe zu unterstellen: es ist eine faszinierende Strategie, die mit einer derartigen Genom-Organisation verfolgt wird. Die konservierten Sequenzen gewähren Stabilität unter dem Einfluss einer positiven natürlichen Selekektion, gleichzeitig bietet aber das Editieren der RNA eine Flexibilität, von der Aufbau, Anordnung,  Venetzungen und Erregbarkeit von Neuronen profitieren. Die Genom-Organisation entspricht dem Ausprobieren von etwas Neuem, wobei das Alte beibehalten wird - dies ist ein roter Faden in der Evolution.

Das andere faszinierende Merkmal des Genoms des Riesenkalmars ist die Dispersion seiner homöotischen (Hox) Gene. Hox-Gene sind Gene, welche die Morphogenese steuern, also an welcher Stelle von Organismen - von Blumen über Fliegen bis hin zu Pilzen und komplexeren Einzellern - sich Körperteile  in Relation zueinander ausbilden.

Eine Mutation in Hox-Genen bringt Körperteile durcheinander und steckt hinter einigen Krankheiten des Menschen. In meiner Doktorarbeit habe ich über den Antennapedia-Komplex homöotischer Gene bei Fliegen gearbeitet, insbesondere über Mutationen, welche Beine auf dem Kopf und Antennen auf dem Mund wachsen lassen. Kurz nach der Fertigstellung (1980, Anm. Redn.) wurde von Thomas Kaufmann in meinem Labor an der Indiana University die sogenannte Homöobox entdeckt, eine charakteristische 180 Basen-Paare lange Sequenz innerhalb der Homöobox-Gene, welche den „Köperplan“ steuert.

Das Erstaunlichste an den homöotischen Genen ist, dass sie in den Genomen all der verschiedenen Arten auf einem Chromosom in genau der Reihenfolge angeordnet sind, in der sie in der Entwicklung eingesetzt werden (wie Basketball-Spieler, die auf der Bank sitzend auf ihren Einsatz warten).

Im Genom des Riesenkalmars ist dies aber nicht der Fall. Stattdessen finden sich die homöotischen Gene auf den Chromosomen verstreut. Könnte dies der Grund sein, warum der Körper so riesig und klumpig ist und offensichtlich die Andeutungen eines Gesichts, die Komplexität einer Blume oder sogar die fächerartigen Filamente eines Pilzes fehlen?

„Der Zugewinn und der Verlust von Hox-Genen wurden auf grundlegende Veränderungen in den Tierkörperplänen zurückgeführt“, schreiben die Forscher. Der Verlust eines wichtigen Hox-Gens bei Spinnmilben verringert die Anzahl der Segmente. Hat also ein vor langer Zeit eingetretenes Mutationsereignis im Riesenkalmar oder ein ausgestorbener Vorfahr die geordneten Homöobox-Gene zu neuen Adressen im Genom explodieren lassen, während gleichzeitig ausreichend Funktionsfähigkeit blieb, um einen Körper zu formen?

Hat der Riesenkalmar einen Platz in unserer Welt?

Es ist schwer zu sagen, ob eine Population, die wir nicht wirklich beobachten können, bedroht ist. Jedoch weisen die Forscher darauf hin, dass die Erwärmung und Versauerung der Ozeane, deren Verschmutzung inklusive Quecksilber und Flammschutzmittel, der Sauerstoffmangel und die Fischerei eine Bedrohung für den Riesenkalmar,wie auch für viele andere Arten darstellen.

„Folglich ist es dringend notwendig die Biologie dieser wichtigen, aber kaum beobachtbaren Tiere besser zu verstehen, um ihre Erhaltung zu unterstützen und ihren Fortbestand sicherzustellen. Mit der Veröffentlichung des annotierten Genoms des Riesenkalmars haben wir die Voraussetzungen für die zukünftige Erforschung der Rätsel geschaffen, welche diese beeindruckende Kreatur umgeben und Generationen zu Geschichten über den sagenumwobenen Kraken angeregt haben“, schließen die Forscher.


[1]R.R. da Fonseca et al., A draft genome sequence of the elusive giant squid, Architeuthis dux. GigaScience, Volume 9, Issue 1, January 2020, giz152, https://doi.org/10.1093/gigascience/giz152


Der Artikel ist erstmals am 6. Feber 2020 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "The Giant Squid Genome Holds Surprises" erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgen.


Weiterführende Links:

NeugierZone - Wissenschaft gewissenhaft: Riesenkalmar und Mensch: Die Begegnungen (1857-2019), Video (12.10.2019) 7:10 min. https://www.youtube.com/watch?v=CyfqtvDIOsc

Tina Heinz: Riesenkalmare, https://www.planet-wissen.de/natur/tiere_im_wasser/tiere_der_tiefsee/pwiegibtesindertiefseewirklichriesenkalmareoderistdasseemannsgarn100.html 


Redaktion Thu, 13.02.2020 - 08:48

Eine Schranke in unserem Gehirn stoppt das Eindringen von Medikamenten. Wie lässt sich diese Schranke überwinden?

Eine Schranke in unserem Gehirn stoppt das Eindringen von Medikamenten. Wie lässt sich diese Schranke überwinden?

Do, 06.02.2020 — Redaktion

RedaktionIcon Gehirn

Die Blut-Hirn-Schranke ist eine hoch entwickelte Barriere aus verschiedenen Zelltypen, die den Durchtritt von Molekülen - beispielsweise von Arzneimitteln gegen neurodegenerative Erkrankungen oder Hirnverletzungen - vom Blut ins Gehirn stoppen. Mit dem Ziel diese Barriere für bestimmte Substanzen selektiv durchlässig zu machen, laufen zwei EU-Projekte: i) es soll ein in vitro-Modell der Blut-Hirn-Schranke aufgebaut werden, das verlässlichere Vorhersagen zur in vivo Wirksamkeit hirnaktiver Substanzen erlaubt, ii) Leuchtende Nanopartikeln sollen als Sonde das Durchqueren der Blut-Hirn-Schranke direkt in Echtzeit sichtbar machen.*

Ein neues Medikament gegen Alzheimer, Schlaganfall oder Hirnverletzungen mag unter Laborbedingungen vielleicht gut funktionieren, entscheidend ist aber die Untersuchung, ob es dort hinkommt, wo es hinkommen muss. (Abbildung 1)

Abbildung 1. Forscher streben an, die schützende Blut-Hirn-Schranke für therapeutisch wirksame Moleküle durchlässig zu machen, um so Erkrankungen und Verletzungen des Gehirns behandeln zu können. (Bild: Hellerhoff, licensed under CC BY-SA 3.0)

"Es ist in der Tat eine frustrierende Herausforderung, denn wir haben Entwicklungssubstanzen, die gute Wirkung zeigen könnten, wenn wir sie nur ins Gehirn brächten", sagt Professor Maria Tenje, ausgebildete Physikerin und Ingenieurin an der Universität Uppsala, Schweden.

Das Gehirn besitzt eine schützende Barriere - die sogenannte Blut-Hirn-Schranke -, die so aufgebaut ist, dass sie das Eindringen gefährlicher Moleküle und Zellen verhindert. Diese Schranke wirkt als Filter zwischen dem Gehirn und den Blutgefäßen: sie lässt wichtige Nährstoffe - wie Sauerstoff - passieren, während Moleküle ferngehalten werden, welche die empfindlichen, komplexen Prozesse im Gehirn stören könnten. Nun gut, fast alle.

"Wenn man ein Bier trinkt, kann man die angenehme Wirkung spüren, weil das Ethanol im Gehirn angekommen ist", sagt Prof. Tenje. „Könnte allerdings alles durch die Gefäßwand hindurch ins Gehirn gelangen, so würde das für uns das Ende bedeuten; wir haben ja viele Toxine, Nanopartikel und Chemikalien, die nicht ins Gehirn gelangen sollten.

"Aus der Sicht des Technikers ist es ein interessantes Problem - wie können wir etwas designen, das ausschließlich spezifische Moleküle passieren lässt, und wie können wir dies kontrollieren? Das ist, was wir herauszufinden versuchen.“

Vorhersagen

Im Rahmen eines EU-Projekts namens SONGBIRD [1] nützt Prof. Tenje ihre technische Expertise, um ein Modell der Blut-Hirn-Schranke zu erstellen. Damit sollen andere Forscher bessere Vorhersagen treffen können, welche Medikamente beim Menschen wahrscheinlich wirken. Die Barriere besteht aus vielen verschiedenen, dicht zusammen gepackten Zellen. (Abbildung 2). Modelle wurden dafür bereits in der Vergangenheit designt, die Schwierigkeit besteht aber darin das Gerüst zwischen den Zellen herzustellen.

Abbildung 2. Querschnit durch die schützende Barriere um eine zerebrales Blutgefäß. Die Blutkapillare wird von Endothelzellen (türkis) gebildet, die keine Öffnungen haben und miteinander (über Tight Junctions) fest verbunden sind. Astrozyten (Makrogliazellen)bedecken mit ihren Gliederfüßchen (orange) die Endothelzellen, induzieren in diesen die Barrierefunktion und versorgen sie selektiv mit Nährstoffen. Perizyten sind fest an Endothelzellen verankert und weisen u.a. Immunfunktionen auf. (Bild und Text von der Redaktion eingefügt. Das Bild stammt aus Wikipedia: Zerebrale Kapillare; Armin Kübelbeck, Lizenz: cc-by)

Dieses Gerüst - die sogenannte extrazelluläre Matrix - ist laut Prof. Tenje ein "klebriges Zeug". Es besteht aus Kollagen und Glykoproteinen um den Zellen strukturelle Stützung zu bieten. Um die extrazelluläre Matrix herzustellen, verwendet Prof. Tenje Hydrogel - ein Material, das zu etwa 90% aus Wasser besteht und durch Ketten von Polymeren zusammengehalten wird, die das Wasser an Ort und Stelle halten. Sie hofft, dass es ihr damit möglich sein wird, ein lebensechteres Modell zu schaffen. Die Herausforderung besteht jedoch darin, aus etwas, das weich ist, eine feste, stabile Struktur zu schaffen. Tenje und ihr Team testen verschiedene Möglichkeiten das Hydrogel zusammenzuhalten, ohne dass die Bewegungsfreiheit der Zellen beeinträchtigt wird.

"Will man diese Art von Material verwenden, um damit etwas zu bauen, so wird man Probleme haben, weil es zusammenfällt." Wir versuchen, die richtigen Methoden für den Bau von Strukturen mit weichem Material zu entwickeln “, sagte sie. Prof. Tenje hofft, dass dieses Modell uns einer zu einer besseren Vorhersage verhelfen könnte, ob ein Medikament die Barriere passieren wird, bevor es in klinischen Studien scheitert. Derzeit sind wir darauf angewiesen die Medikamente an Tieren zu testen, um festzustellen, wie gut sie wirken und ob sie sicher sind, bevor sie an Menschen getestet werden. "Wir sind Ratten zwar ähnlich, aber nicht so ähnlich", sagt sie.

Neues Modell

Dr. Igor Khalin vom Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung an der Universität München sieht den erzielbaren Vorteil, den ein neues Modell für die Blut-Hirn-Schranke in der Forschung hat. "Wenn wir zwischen einer einfachen Zellkultur und Tierstudien etwas haben, ein Modell, das die Blut-Hirn-Schranke nachahmt, wird man die Zahl der Moleküle reduzieren, die man an Tieren testen muss", meint er.

„Allerdings kann das Modell nicht alle Probleme lösen. Man kann den Einsatz von Tieren nicht völlig vermeiden, da die nächste Stufe normalerweise die Forschung am Menschen ist. Wenn wir bei Tieren etwas übersehen, kann es für den Menschen böse enden.“

Dr. Khalin versucht besser zu verstehen, was im Gehirn passiert, wenn ein Arzneimittel die Barriere passiert. Im Rahmen eines Projekts namens NEUROTARGET entwickelt er ein System, um ein einzelnes Teilchen im Gehirn in Echtzeit zu verfolgen. „Bisher hat das niemand direkt gezeigt, nur indirekt. Ich möchte das Durchqueren der Blut-Hirn-Schranke direkt messen (sichtbar machen)“, sagt er.

Khalin verwendet Nanopartikel, die ein helles Licht abgeben, das unter dem Mikroskop sichtbar ist. Ein normales Lichtmikroskop kann Zellen sehen, aber keine Details von Objekten, die kleiner als 200 Nanometer sind. Die von Dr. Khalin verwendeten Nanopartikel sind nur 70 nm breit, aber dank des Lichts können sie gesehen werden. Er kombiniert diese Nanopartikel mit einer Technik namens Zwei-Photonen-Mikroskopie, mit der er das Gehirn einer Maus in Echtzeit abbilden kann.

Bei den von ihm verwendeten Nanopartikeln handelt es sich um Material, das von der Europäischen Arzneimittel-Agentur bereits für den Einsatz beim Menschen zugelassen wurde. Es kann die Blut-Hirn-Schranke passieren und zum Transport von Arzneimitteln verwendet werden. Es ist biologisch abbaubar, kann also von Enzymen im Körper abgebaut und absorbiert werden.

Änderungen

Dr. Khalin hofft, dass dieser Ansatz nicht nur zur Behandlung von Krankheiten beiträgt, sondern auch ein tieferes Verständnis dafür vermittelt, wie sich das Gehirn bei Verletzungen verändert.

"Wir können diese Partikel möglicherweise als Sonde verwenden und diese Sonde kann uns Informationen über die Pathophysiologie der Krankheit geben", sagt er. "Ich hoffe, wir können bei Schlaganfall und traumatischer Hirnverletzung helfen (heilen)."

Eines der Probleme bei Hirnverletzungen ist die langfristige Auswirkung kleinerer Stöße auf den Kopf. "Hirntrauma ist eine stille Epidemie", sagt er. 'Wenn jemand beispielsweise einen Zusammenstoß hat, bei dem er am Kopf getroffen wird und meint: "Ich brauche nicht zum Arzt zu gehen, mir geht es gut." Was derjenige nicht weiß, ist, dass viele Prozesse im Gehirn ablaufen. Am Ende wird dies die kognitive Funktion vermindern.

“Sowohl er als auch Prof. Tenje hoffen, dass ihre Forschung zu besseren Ergebnissen für die Patienten führen wird, sie sind sich jedoch bewusst, dass die Forschung noch im Anfangsstadium ist. Sie hoffen, ihre Expertisen so einzusetzen, dass andere darauf aufbauen können.

„Die Blut-Hirn-Schranke ist eine recht komplexe biologische Struktur. Sie besser zu verstehen ist unser Endziel und, um dies zu erreichen, betreiben wir technische Grundlagenforschung“, sagt Prof. Tenje. „Es sind große Herausforderungen, die mit  der Biologie allein nicht gelöst werden können. Wir müssen zusammenarbeiten und unsere Anstrengungen bündeln.“


[1] SONGBIRD: SOphisticated 3D cell culture scaffolds for Next Generation Barrier-on-chip In vitro moDels. EU-Projekt (1 January 2018 - 31 December 2022) https://cordis.europa.eu/project/id/757444

[2] NEUROTARGET: Treatment of traumatic brain injury using dye-loaded polymeric nanoparticles. EU-Projekt (1.Dezember 2018 - 30. Novemner 2020) https://cordis.europa.eu/project/id/794094


Dieser Artikel wurde ursprünglich am 30. Jänner 2020 von Ian Le Guillo in Horizon, the EU Research and Innovation Magazine unter dem Titel Our brain has a barrier that stops drugs. How do we get past it? publiziert. Der unter einer cc-by-Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt. Abbildung 2 und Beschriftung wurden von der Redaktion eingefügt.


Weiterführende Links

Blood Brain Barrier on a Chip. (11.07.2019) LabTube Video 1:40 min. Wyss Institute Harvard University. https://www.technologynetworks.com/drug-discovery/videos/blood-brain-barrier-on-a-chip-321662

Auf dem ScienceBlog

Susanne Donner, 08.04.2016: Mikroglia: Gesundheitswächter im Gehirn.

Inge Schuster, 08.12.2016: Wozu braucht unser Gehirn so viel Cholesterin.


 

Redaktion Thu, 06.02.2020 - 08:03

Nachhaltige Architektur im Klimawandel - das "Active Energy Building"

Nachhaltige Architektur im Klimawandel - das "Active Energy Building"

Do, 30.01.2020 — Anton Falkeis & Cornelia Falkeis-Senn

Anton FalkeisCornelia Falkeis-SennIcon MINTDas "Active Energy Buildung", ein Apartmentwohnhaus in Vaduz (Liechtenstein), ist hinsichtlich Energietechnik und Gebäudekonstruktion ein Meilenstein umfassend nachhaltiger Architektur: das Haus i) nutzt ausschließlich erneuerbare Energieformen, ist energieautonom und versorgt auch noch umliegende Gebäude mit Energie und ii) es ermöglicht eine höchstmögliche Adaptierbarkeit der Grundrisse über die gesamte Lebensdauer des Gebäudes ohne dabei die tragenden Strukturen zu beeinträchtigen. Der von intensiver transdisziplinärer Forschung (mit Anleihen aus der Natur) begleitete Bau hat überaus innovative Elemente realisiert u.a. zur Effizienzsteigerung der Energieproduktion, zur Klimaregulierung des Gebäudes, zur Konstruktion eines leichten Tragwerks und einer textilen Gebäudehülle zur Beschattung. Die Architekten Anton Falkeis und Cornelia Falkeis-Senn (falkeis2architects, Wien und Vaduz) beschreiben das von ihnen konzipierte und realisierte visionäre Projekt, das international ein enormes Echo gefunden hat.

In den letzten Jahrzehnten haben städtische Ballungsräume die wachsende Weltbevölkerung äußerst effektiv absorbiert und ländliche Bevölkerung angezogen. Heute beherbergen diese Ballungsräume bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, sind für 75 % des globalen Energieverbrauchs verantwortlich und für 80 % der von Menschen verursachten CO2 Emissionen.

Weit über ihre ursprüngliche Bestimmung hinaus gewachsen, stellen Städte der Gegenwart die erfolgreichsten, vom Menschen selbst geschaffenen Umwelten dar. Diese Städte können aber nicht länger als räumliche Einheiten verstanden werden, sie verhalten sich vielmehr wie lebende Organismen: je nach den sich ständig verändernden Bedingungen dehnen sie sich wie Amöben aus oder ziehen sich zusammen.

Bis jetzt hat eine derartige "biologische" Sichtweise in unsere derzeitige Städteplanung nicht Einzug gehalten. Modelle für urbanes Wachstum haben in den Planungen des 20. Jahrhunderts die sich ergebenden Wechselwirkungen nicht berücksichtigt, dem System mangelte es an Flexibilität und versagte dabei widersprüchliche Elemente mit einzubeziehen. Dass es um eine evolutionäre Entwicklung geht, wurde überhaupt nicht ins Kalkül gezogen.

Wir haben versucht urbane Entwicklungen zu analysieren und haben dann daraus einige Tools entwickelt, die beim Entwerfen zeitgemäßer Städte eingesetzt werden können:

Städte der Zukunft müssen i) ihren Energiebedarf lokal produzieren und ii) auf allen Ebenen nachhaltig sein.

Das Energie-Konzept

Das Konzept der "Active Energy Buildings" ("aktiven Energiegebäude") bietet eine neue Strategie, die sowohl CO2-Emissionen als auch den Energieverbrauch senkt.

"Active Energy Buildings" sind energieautonome Strukturen, die ausschließlich erneuerbare Energiequellen nutzen. Fokussiert wird auf Geothermie sowie auf die passive und aktive Nutzung der Solarenergie. Aktive Solarnutzung bedeutet, dass mittels Photovoltaik elektrische Energie erzeugt wird und mittels einer neu entwickelten, patentierten Gebäudetechnologie dem Gebäude direkt - ohne vorherige Konversion in elektrische Energie - Wärme oder Kälte zugeführt wird.

Ziel ist es ein energieautarkes Gebäude zu realisieren, das vernetzt innerhalb eines Gebäudeverbunds - einem lokalen Energiecluster - eine aktive Rolle als Energieproduzent und Versorger einnimmt. Abbildung 1.

Abbildung 1. "Active Energy Buildings". In einer amöbenartigen, dynamischen urbanen Struktur arbeiten "Aktive Gebäude" als lokale Solarkraftwerke. Die erzeugte Energie wird primär im Gebäude verwendet, E-Autos in der Tiefgarage dienen als Zwischenpuffer. Energieüberschüsse werden dann im Cluster verteilt - für Zwecke des Wohnens und Arbeitens - und zum Auffüllen der Speicher von Wasserkraftwerken genutzt. (Bild: falkeis2architects)

Das "Active Energy Building" - der Prototyp

Basierend auf transdisziplinärer Forschung und Entwicklung, welche parallel zu einem über sechs Jahre dauernden Planungs- und Realisierungsprozess liefen und auf diesen einwirkten, wurde das "Active Energy Building" in Vaduz (Liechtenstein) 2017 fertiggestellt. Es war als Siegerprojekt aus einem internationalen Wettbewerb hervorgegangen.

Involviert in den Forschungs- und Entwicklungsprozess waren interdisziplinäre Teams aus Physikern, Physikochemikern, Informatikern, Robotikingenieuren, Tragwerkplanern, Gebäude- und Energietechnikern. Das Ziel war ein Gebäude nach einem holistischen Konzept der Nachhaltigkeit zu realisieren: Es sollte nachhaltig sein in Hinblick auf die ausschließliche Nutzung erneuerbarer Energien, auf die Effizienzsteigerung der Energieproduktion, auf neue Methoden zur Raumklimatisierung und auf innovative Strukturen, welche die Gebäudekonstruktion an zukünftige Bedürfnisse adaptierbar machen sollte.

Entstanden ist daraus der erste Prototyp einer urbanen, dezentralen Energieversorgung, der ausschließlich erneuerbare Energiequellen - Sonnenenergie und Geothermie - nutzt und auch hinsichtlich der Konstruktion Vorstellungen realisiert, die man mit dem Begriff Nachhaltigkeit verbindet (s.u.). Abbildung 2. Einige der Innovationen sind von der Natur inspiriert.

Abbildung 2. Das "Active Energy Building" in Vaduz. Oben: von Südosten. Unten: von Südwesten. Ein Großteil der Dachfläche und die Südseite sind mit nachgeführten Photovoltaik-Paneelen bestückt. In die Fassaden der Ost- und Westseite sind sogenannte Klimaflügel (pat.) integriert, die über Phasenwechsel-Materialien als latente Wärmspeicher fungieren. (Fotos: Roland Korner)

Das "Active Energy Building" streckt seine Flügel - Solarflügel und Klimaflügel - in Richtung Himmel. Photovoltaikzellen und Phasenwechsel-Materialien (Phase Change Materials - PCM) als Teil einer beweglichen Gebäudehülle gewinnen Sonnenstrahlung zur Erzeugung von Strom und zum Heizen des Gebäudes und nutzen Weltraumstrahlung zur Kühlung. Um die Solareinstrahlung maximal zu nutzen, wurde in dem Nord-Süd ausgerichteten Bauwerk die Ost-Seite aufgefächert terrassiert, eine breite geneigte Südseite generiert und in der Westseite ein Canyon-artiger Einschnitt geschaffen.

Solar-Tracker steigern die Effizienz der Photovoltaik-Elemente

Die Flächen, die am meisten der Sonne ausgesetzt sind - die verbreiterte Südseite und die gesamte Dachfläche - werden zur Stromerzeugung herangezogen. Für die gebäudeintegrierten Photovoltaik-Elemente wurde ein sogenannter Solar-Tracker entwickelt, der - basierend auf einem astronomischen Programm und den Daten einer Wetterstation - die "Solarflügel" kontinuierlich der Sonne nachführt. Abbildung 3.

Damit konnte die Effizienz der Solarstromerzeugung fast dreifach gesteigert werden.

Abbildung 3. Die in die Dachfläche integrierten, bis zu 14 m2 großen Solarflügel liegen in Ruheposition flach in der Dachstruktur. Mit Sonnenaufgang heben sie sich und werden durch einen Solartracker kontinuierlich der Sonnenposition nachgeführt. Dies führt zu einer fast dreifachen Effizienzsteigerung. (Foto: Wössner)

Innovative Raumklimatisierung via Klimaflügel

Neben Photovoltaik und Geothermie werden latente Wärmespeicher- Klimaflügel - eingesetzt, um Räume zu klimatisieren. Als mögliche Speichermaterialien werden sogenannte Phasenwechselmaterialien (Phase Change Materials - PCM) untersucht und Paraffine auf Grund ihrer physikalisch-chemischen Eigenschaften als besonders geeignet befunden. Paraffine können beim Phasenübergang auf kleinem Raum extrem hohe Energiedichten einlagern.

Das je nach Verwendung unterschiedlich schmelzende Phasenwechselmaterial befindet sich Im Inneren sogenannter Klimaflügel, brandsicher eingekapselt in lamellenförmig angeordneten Aluminiumprofilen. Insgesamt ist das Gebäude mit sieben großflächigen Klimaflügeln ausgestattet: vier auf der Westseite werden zu Speicherung von Wärme verwendet (Abbildung 2, unten), drei Flügel auf der Ostseite zur Speicherung von Kälte.

Die Heizflügel kommen in der kühlen Jahreszeit zum Einsatz. Bei Sonnenaufgang öffnen sich die Flügel, folgen dem Sonnenlauf, das PCM absorbiert die Sonnenstrahlung, und speichert Wärme. Sind die Speicher vollgeladen, schließen sich die Flügel, hängen sich in das Lüftungssystem des Gebäudes ein und dieses gibt die gespeicherte Wärme an die Frischluft ab. Im Sommer bleiben die Flügel geschlossen und tragen zum Schutz gegen sommerliche Überwärmung bei.

Wenn in den Sommermonaten und bei Föhnlage die Außentemperatur hoch ist, werden die Kühlflügel als Alternative zu Kühlaggregaten eingesetzt. In der Nacht geöffnet, strahlen sie Wärme in den Himmel ab. Beim Entladen der Flügel über das Lüftungssystem wird die kühle Luft direkt in die Räume abgegeben. Abbildung 4.

Abbildung 4. Insgesamt ist das Gebäude mit sieben großflächigen Klimaflügeln ausgestattet: vier auf der Westseite werden zu Speicherung von Wärme verwendet (Abbildung 2, unten), drei Flügel auf der Ostseite zur Speicherung von Kälte. (Foto: Michael Zanghellini)

Durch Klimaflügel wird Wärme als Wärme und Kälte als Kälte genutzt ohne eine Konversion in eine andere Energieform dazwischen.

Eine nachhaltige Gebäudekonstruktion

Nachhaltigkeit wird zweifellos über die Adaptabilität eines Gebäudes definiert: Während seiner gesamten Lebensdauer soll man es an die jeweilige Funktion anpassen, neue Raumprogramme über die gesamte Nutzungsdauer realisieren können, ohne die tragenden Strukturen zu beeinträchtigen.

Ein evolutionär optimiertes Tragwerk

Adaptierbarkeit setzt ein optimiertes Tragwerk voraus, das eine höchstmögliche Grundriss-Flexibilität ermöglicht. Als "intelligente" Stützstruktur, die neben den Vertikallasten der Stockwerke auch Horizontallasten (infolge von Erdbeben oder Windlasten) aufnehmen kann, wurden A- und V-förmige Stützelemente entwickelt, die wie Bäume durch das Gebäude wachsen. Um eine möglichst hohe Flexibilität in den Raumprogrammen realisieren zu können, musste die Zahl der Stützen jedoch auf ein Minimum beschränkt werden. Dazu wurde die Position der Stützen am Rechner nach einem, dem evolutionären Optimierungsgedanken entlehnten, sogenannten genetischen Algorithmus ermittelt; nach 5000 Iterationen ergab sich die evolutionär optimierte Verteilung im Gebäude. Abbildung 5.

Abbildung 5. Die Tragstruktur ist ein Skelettbau, der aus Betongeschoßplatten und Fertigteil-Stützen besteht. Links: Die optimierten Positionen der A-und V-förmigen Stahl-Beton-Stützen (grau) und der wabenförmigen Struktur des Voronoi-Skeletts (braun, 3D Modell: Bollinger & Grohmann). Rechts die Stützen im Rohbau. (Foto: Roland Korner)

Tragskelett nach dem Vorbild der Natur

Um die Energietechnik in das Gebäude zu integrieren, wurde ein hochfunktionales leichtes Tragskelett konstruiert, das Anleihen bei der Natur nimmt. Es ist eine Geometrie, wie man sie beispielsweise an einem Libellenflügel sieht oder wie sie durch Aggregation von Zellen entsteht. Dahinter steckt ein präzise definiertes mathematisches System, das der Mathematiker Voronoi bewiesen hat. Mittels des nach ihm benannten Voronoi - Algorithmus wurde ein hochfunktionales leichtes Tragskelett aus Zellen mit optimalem Verhältnis von Tragleistung zu Materialstärke generiert, in welche die Energietechnik eingebettet wurde. Dieses Skelett bildet Teile der Ostfassade, überspannt das Gebäude über die gesamte Länge und bildet das Dachgeschoß mit einer südseitigen Auskragung. Abbildung 6.

Abbildung 6. Das Voronoi-Tragwerk. Oben links: Polygonale 3D-Struktur nach dem Vorbild der Natur. Oben rechts: Modell des Voronoi-Skeletts (falkeis2architects). Unten links: das Voronoi-Skelett zieht sich wabenförmig über Teile der Ostseite, in welche die Kühlflügel (gelb) eingebettet sind und das Dach mit 13 integrierten Solarflügeln. Unten rechts: Die Voronoi Dachstruktur zur Aufnahme der Solarflügel. (Rendering: falkeis2architects, Foto: Roland Korner)

Eine textile Hülle und eine nachhaltige Inneneinrichtung

Für die Verschattung des Gebäudes wurde eine textile, freitragende Hülle entwickelt. Es ist eine Lamellenstruktur aus Textilbändern, die sich aus dem Gebäude heraus entwickelt und lamellenförmig um den Gebäudekörper gezogen wird. Geschlossene Lamellenbänder treten aus dem Gebäude hervor, werden hochgezogen und bilden Schutzdächer gegen die hochstehende Mittagssonne über den Terrassen, bevor sie sich an der Westseite wieder langsam schließen um die tiefstehende Abendsonne zu verschatten. Abbildung 7 oben.

Abbildung 7. Oben: eine innovativ textile Beschattung, die aus dem Gebäude herauswächst und Schutzdächer über den Terrassen bildet, rechts Teile der Westfassade (Foto: Roland Korner). Unten: Das 5- geschoßige Mehrfamilienhaus im Längsschnitt (falkeis2architects) und ein Beispiel für einen Wohnraum. (Foto: Roland Korner)

Das Gebäude selbst ist ein fünf Stockwerke hohes Mehrfamilienhaus mit 12 Wohneinheiten. (Abbildung 7 unten). Die zwölf Einheiten selbst sind hochwertig ausgestattet, wobei Einbaumöbel Stauraum schaffen und gleichzeitig Wände bilden. Ausgesuchtes Material und Lüftungssystem verhindern Schadstoffemissionen (beispielsweise von Formaldehyd). Dadurch kann eine Reduktion der Lüftungsraten erzielt und Heiz- und Lüftungsenergie eingespart werden. Auch bei den Beleuchtungskörpern wurden die zur Zeit energie-effizientesten LED-Leuchten am Markt eingebaut.

Fazit

Mit dem "Active-Energy-Building" ist der Prototyp eines neuen urbanen, dezentralen Energieerzeugungssystems entwickelt worden, das ein demokratischeres Modell der Energiegewinnung wie auch der Energieverteilung bereitstellt. Das Gebäude geht von einem umfassenden Nachhaltigkeitsbegriff aus, der sowohl für die Ausformulierung des Baukörpers als auch für die Konstruktion des Tragwerks gilt und von der Entwicklung der Energietechnik bis hin zur Gestaltung der Innenräume reicht. In dem Bau stecken eine ganze Reihe von, zum Teil von der Natur inspirierten Innovationen, welche Möglichkeiten aufzeigen den großen Herausforderungen unserer Gesellschaft - Reduktion von CO2-Emissionen im Kampf gegen Klimawandel, Energieknappheit und Verknappung von Ressourcen - wirksam zu begegnen.

Bereits während der Bauphase ist das Gebäude auf sehr große internationale Resonanz gestoßen; viele Medien haben darüber ausführlich berichtet und aus der Fachwelt sind zahlreiche Einladungen zu Vorträgen an akademischen Institutionen und zu Ausstellungen erfolgt - u.a am Massachusetts Institute of Technology in Boston, dem Archtober in New York, in Nanjing, Costa Rica, Bergen, Washington, Los Angeles, Toronto, Vancouver, Berlin, Luzern, Bozen und auch in Graz und Wien.


Weiterführende Links

falkeis2architects: http://www.falkeis.com/

falkeis2architects: active energy building – MAK FUTURE LAB (2018). Video 1:10:35. Vortrag und Gespräch mit Anton Falkeis (deutsch) am Museum für Angewandte Kunst in Wien.

Anton Falkeis: Building Innovation for an Architecture in Motion (16.10.2019). Vortrag am 2019 Green Building Festival in Toronto (englisch). Video 55:31 min.

Prof. Anton Falkeis: Interview in FL1 TV: http://www.1fl.li/article.php?artid=prof-anton-falkeis


 

Redaktion Thu, 30.01.2020 - 16:38

Der Kampf gegen die erfolgreichste Infektionskrankheit der Geschichte

Der Kampf gegen die erfolgreichste Infektionskrankheit der Geschichte

Do, 23.01.2020 — Bill & Melinda Gates Foundation

Bill & Melinda Gates FoundationIcon MedizinSeit den 1990er Jahren ist die Tuberkulose weltweit wieder im Vormarsch, bedingt u.a. durch erhöhte Mobilität und Leichtfertigkeit bei Vorbeugung und Behandlung der Krankheit. Weltweit Tuberkulose vorzubeugen und zu behandeln ist im 21. Jahrhundert weiterhin problematisch. Die großen Herausforderungen bestehen in dem Anstieg der gegen TB-Medikamente multiresistenten Fälle, in Koinfektionen mit Tuberkulose und AIDS, sowie in unzureichender Finanzierung für Prävention und Behandlung. Die Bill & Melinda Gates Foundation investiert jährlich rund 100 Millionen US-Dollar in die Entwicklung von Mitteln gegen Tuberkulose, davon rund 50 % in Impfstoffe. Huan Shitong (Projektleiter der Gates Foundation für TB in Peking) hat auf der chinesischen Plattform Yixi für Wissenschaftskommunikation (entsprechend der TED-Plattform im Westen) über den Status der Tuberkulose - global und in China - und den Kampf gegen diese häufigste Infektionskrankheit berichtet *.

Wäre eine Infektionskrankheit mit menschlicher Vernunft begabt, so würde sie wahrscheinlich danach trachten, das „Alpha“ unter ihren Artgenossen zu werden. Ihr Kriegsruf wäre "keine Gefangenen machen". Mit anderen Worten, sie wäre die Art von Attentäter, der spurlos verschwindet, nachdem er seine Opfer getötet hat. Eine Beschreibung, die meiner Meinung nach am besten auf die Tuberkulose passt.

Ein kaltblütiger Killer

Dazu einige Zahlen:

1,7 Millionen Menschen - das ist die Zahl der jährlich durch Tuberkulose verursachten Todesfälle - dies macht Tuberkulose zur tödlichsten aller Infektionskrankheiten. Auch wenn man alle Todesfälle aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zerebralvaskulären Erkrankungen, Lungenkrebs und Leberkrebs auflistet, so bleibt Tuberkulose immer noch unter den Top 10 der Todesursachen.

10 Millionen - dies ist die Anzahl der jährlich neu diagnostizierten Fälle von Tuberkulose.

2 Milliarden - das  sind fast 30 % der aktuellen Weltbevölkerung - sind mit Tuberkulose-Bakterien infiziert, was medizinisch als latente Infektion bezeichnet wird.

Für China liegen aus unterschiedlichen Untersuchungen verschiedene Schätzungen vor. Einigermaßen sicher ist, dass die Zahl der Menschen mit einer latenten Tuberkulose-Infektion zwischen 200 und 550 Millionen liegt, also mindestens, 200 Millionen Menschen in China die Bakterien in sich tragen.

5.000 Jahre - so lange lebt der Mensch schon mit der Tuberkulose; in seinen Fokus rückte sie aber erst in den letzten zwei Jahrhunderten. Man begann sich dafür zu interessieren, weil zahlreiche berühmte Persönlichkeiten - Percy Shelley, Kaiserin Sissi, Lu Xun, Lord Byron - sich eine eigenartige „verzehrende“ Krankheit zuzogen. Diese Krankheit - die Tuberkulose - war nicht nur bei dem historischen Äquivalent unserer heutigen Internet-Stars weit verbreitet, sie überschattete auch die gesamte Gesellschaft.

Robert Koch (1843-1910), der den Erreger der Tuberkulose entdeckte, meinte, dass Tuberkulose eine größere Bedrohung für den Menschen darstelle als selbst die schrecklichsten Infektionskrankheiten wie die schwarze Pest oder die Cholera. Seiner Statistik zufolge konnte man davon ausgehen, dass in Europa damals eine von sieben Personen an Tuberkulose erkrankte und daran starb.

Ende des neunzehnten Jahrhunderts, nach der industriellen Revolution, als Wirtschaftswachstum und Kultur in Europa noch nie dagewesene Höhen erreichten, begannen Länder auf dem gesamten Kontinent, Statistiken über Tuberkulose zu erstellen. Wie der Großteil der übrigen Welt verfügt China über keine quantitativen Daten für diesen Zeitraum, sondern nur über einige qualitative Indikatoren. Beispielsweise gibt es in dem Film Fist of Fury (Faust des Rächers) eine Stelle, in der die Darsteller ein Schild mit den Worten "Kranker Mann in Ostasien" zerschlagen. Viele Menschen interpretieren dies als Hinweis auf eine der häufigsten Infektionskrankheiten in China zu der Zeit: Tuberkulose.

Wie ist der Mensch diesem kaltblütigen Mörder in den letzten 5.000 Jahren begegnet?

Wenn in der Vergangenheit etwas mit der Lunge nicht stimmte, dachte man die Lösung wäre ins Freie zu gehen und saubere Luft zu atmen. Als beste Heilmethode galt an einen Ort mit schöner Lage geschickt zu werden, um dort etwas Sonnenschein zu bekommen.  Davos in der Schweiz wurde so berühmt - als Ziel zur Behandlung für Tuberkulosekranke. Abbildung 1.

Abbildung 1. Davos Platz. Das Sanatorium Schatzalp auf 1864 m. Jedes Zimmer verfügt über Außenbetten, damit die Patienten in der Sonne liegen können. (Bild von der Redaktion angefügt.)

Allerdings erforderte diese Art der Behandlung einigen Wohlstand, war eine Therapie der Reichen.

Was ist aber mit armen Menschen passiert, die an Tuberkulose erkrankten? Nach ihrer religiösen Überzeugung, glaubten die Menschen, dass ihre Krankheit eine Bestrafung wäre, weil sie gesündigt hatten und, dass sie nun die Hilfe Gottes bräuchten.

Ab dem fünften Jahrhundert nach Christus kam in Westeuropa der Brauch auf, dass Monarchen einen Tag im Jahr festlegten, an dem sie die Kranken durch Handauflegen segneten. Abbildung 2.

Abbildung 2. Der französische König Heinrich IV bei dere Zeremonie des "königlichen Handauflegens" (Stich aus einem medizinischen Fachbuch 1609, Bild: Wikipedia. Das gemeinfreie Bild wurde von der Redaktion eingefügt.)

Auch wenn dieses Ritual keinerlei Wirkung hatte, hatte es vom fünften bis zum fünfzehnten Jahrhundert Bestand und dies hängt mit einer der Eigenschaften von Tuberkulose zusammen:

Ein Drittel der TB-Kranken starb üblicherweise innerhalb von zwei Jahren. Ein zweites Drittel lebte weitere fünf bis zehn Jahre, in deren Verlauf der Körper schwach - als würden er von innen „aufgezehrt“ - und die Krankheit chronisch wurde; währenddessen übertrugen die Kranken den Erreger auf weitere Menschen in ihrer Umgebung Das letzte Drittel erholte sich für gewöhnlich, vielleicht weil die anfängliche Infektion nur leicht war oder weil ihr Immunsystem stärker war. Dass damit ein Drittel der vom Monarchen Gesegneten sich erholte, schuf den Glauben, dass die Monarchen von Gott heilende Kräfte erhalten hatten.

Was können wir heute tun, um diese Krankheit zu bekämpfen? Impfung! Und…

Die primäre Waffe gegen die Krankheit ist die Prävention. Jedem heute in China geborenen Kind werden zwei Injektionen verabreicht: eine gegen virale Hepatitis B und eine als BCG--Stich bekannte (BCG: Bacillus Calmette-Guérin - aus dem Wildtyp entwickeltes, abgeschwächtes Mykobakterium; Anm.Redn.).

Die BCG Impfung bei der Geburt schützt Kinder vor Tuberkulose und erhöht ihre Abwehrkraft gegen Tuberkulöse Meningitis oder Tuberkulose an anderen Körperstellen. Allerdings bietet BCG Kindern keinen perfekten Schutz gegen Tuberkulose, sondern  stärkt nur das Immunsystem.

Abgesehen von Impfungen wurden in den 1940er bis 1960er Jahren bedeutende Fortschritte im Antibiotika-Gebiet erzielt und einige neue wirksame Präparate gegen Tuberkulose gefunden. Die Ärzte konnten schließlich 90 Prozent der TB-Patienten heilen und die anfängliche Behandlungsdauer von einem Jahr auf sechs Monate verkürzen. Schließlich glaubte ein jeder, dass dies nun zur Ausrottung der Tuberkulose führen würde. Wie man heute sieht, wurde Krankheit aber nicht ausgerottet. Dies ist wiederum auf drei Besonderheiten der Tuberkulose zurückzuführen.

Die erste ist die Übertragung der Keime durch die Luft. Ein Infizierter kann durch Niesen oder Husten die Bakterien in die Luft schleudern und die Menschen um sich herum anstecken.

Das zweite Merkmal ist die Latenz. Wenn der TB-Keim in einen Wirt eindringt und einen gesunden Körper mit einem robusten Immunsystem erkennt, wechselt er automatisch in den Schlafmodus, ohne Schaden zu verursachen. In diesem Fall sieht das Immunsystem den Keim nicht als schädlichen Organismus an und lässt ihn im Körper überleben. Wird das körpereigene Immunsystem zu irgendeinem Zeitpunkt aber schwach, erkennt der Keim die dementsprechenden Signale, erwacht, beginnt sich zu vermehren und verursacht den Wirt zu husten und ihn in die Luft auszustoßen, damit er nun einen neuen Wirt suchen kann.

Das dritte Merkmal ist die Iteration. Es gibt heute zahlreiche Medikamente zur Bekämpfung der Tuberkulose. Um die Keime abzutöten, sind jedoch mindestens drei oder vier Medikamente über eine Behandlungsdauer von sechs Monaten erforderlich. Verwendet man nur ein Medikament, so wird das Bakterium innerhalb eines Monats eine Resistenz gegen das Medikament entwickelt haben, die nächste Generation von Keimen wird daher gegen diese Behandlung resistent sein. Aufgrund dieser Fähigkeit zur Iteration ist eine neue Form der Tuberkulose entstanden, die als Medikamenten-resistente Tuberkulose (drug resistant TB: DRTB) bezeichnet wird. Abbildung 3.

Abbildung 3. Das Problem der Medikamente-resistenten Tuberkulose (DRTB). Bild aus dem aktuellen globalen Tuberkulose Report 2019 der WHO; von Redn. eingefügt.

Die Zahl der DRTB-Patienten liegt bei rund 500.000, davon 70.000 allein in China. Da DRTB über die Luft übertragen werden kann, kann ein unbehandelter DRTB-Träger innerhalb eines Jahres bis zu fünfzehn andere Menschen infizieren.

Es ist nicht möglich, DRTB mit nur einem Medikament zu eliminieren. Selbst, wenn man drei bis vier neue Wirkstoffe entdeckte, würde es noch sechs Monate bis zur Eliminierung der Keime dauern. Patienten mit DRTB müssen daher eine zweijährige Behandlung einhalten, die eine Erfolgsquote von nur 50% aufweist (und in China 10 000 -12 000 € kostet). Erschwerend kommt hinzu, dass es einen Bakterien-Stamm gibt, der eine außergewöhnlich hohe Arzneimittelresistenz aufweist und selbst mit einem breiten Cocktail von Arzneimitteln nicht geheilt werden kann. Es ist keine Übertreibung festzustellen, dass diese Art von DRTB, wenn sie nicht unter Kontrolle gehalten wird, zu einer Art von "übertragbarem Krebs" werden kann, für den jeder anfällig wäre.

Was können wir tun? Vor Angst zittern?

Die Kontrolle von Infektionskrankheiten beruht immer auf einem zweigleisigen Ansatz. Die erste Angriffsstrategie ist die Impfung. Im Fall der bereits erwähnten Geißel der Virushepatitis B sind Kinder durch die Impfung heute gut geschützt.

Bei der Entwicklung eines Tuberkulose-Impfstoffs gibt es allerdings ein Problem. Bei anderen Krankheiten wie den Pocken produziert der Körper nach der Inokulation Antikörper, die lebenslangen Schutz bieten. Bei TB ist das nicht der Fall. Auch nach der Genesung von TB kann man erneut infiziert werden und wieder erkranken.

Die Bill & Melinda Gates Foundation stellt jedes Jahr rund 100 Millionen US-Dollar für die Entwicklung von Mitteln gegen Tuberkulose zur Verfügung. Etwa die Hälfte davon entfällt auf die Entwicklung von neuen, effizienteren Impfstoffen.

Wir brauchen aber auch den zweiten Ansatz, der länger und schwieriger ist: so viele Infizierte wie möglich zu identifizieren und zu heilen. Dieser Ansatz erfordert auch die Entwicklung einer ganzen Reihe neuer Mittel und Medikamente. Heute verfügen wir über eine molekulare Diagnostik, um neue TB-Fälle schnell zu erkennen und innerhalb von zwei Stunden festzustellen, ob die TB arzneimittelresistent ist. Dies verkürzt die Diagnose- und Behandlungszeit erheblich. Im Rahmen dieser Initiative haben wir berechnet, dass die Zeit zwischen der Probenahme von einem Patienten bis zur Mitteilung, dass es sich um DRTB handelt und dem Beginn der Behandlung nur 7 Tage beträgt.

Ausblick

Fast ein Drittel der heutigen Menschheit, das sind ungefähr 2 Milliarden Menschen, ist Träger des schlafenden, aber immer noch lebenden Erregers. Kein Grund zur Panik - nur 5 Prozent dieser Menschen werden tatsächlich an Tuberkulose erkranken. Die restlichen 95 Prozent müssen nur auf ihre Gesundheit achten, fit bleiben und sich richtig ausruhen, um die Erkrankung zu vermeiden.

Es gibt einige Aspekte der Krankheit, die wir noch nicht verstehen:

  • Wie genau wird Tuberkulose übertragen?
  • Welche Beziehung besteht zwischen der Bakterienkonzentration in der Luft, der tatsächlichen Infektion und dem Auftreten der Krankheit?
  • Wie lang genau dauert die Inkubationszeit?
  • Wie können im Patienten vorkommende, ruhende Bakterien getötet werden?
  • Wie ist es möglich zu wissen, ob jemand vollständig von TB genesen ist?

Zur Beantwortung all dieser Fragen ist ein Mehr an Forschung und Investitionen erforderlich. Um effiziente wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet zu betriben, wären jährliche Investitionen in Höhe von 2 Mrd. USD nötig. Es wären öffentliche Güter, die der gesamten Bevölkerung zugute kommen.

Im Jahr 2015 haben die Vereinten Nationen eine Resolution zur Annahme von 17 nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals - SDGs) verabschiedet, die u.a. eine Verpflichtung zur Eliminierung der Tuberkulose bis 2030 beinhalten. Abbildung 4. Dies lässt uns hoffen eines Tages die beruhigende Gewissheit zu haben, dass die seit Tausenden Jahren uns plagende Infektionskrankheit endgültig Geschichte geworden ist.

Abbildung 4. WHO: The End TB Strategy. (Bild von Redn eingefügt)


*Der Artikel basiert auf dem Vortrag " ‘The Most Successful Infectious Disease in the History" von Huan Shitong, den dieser am 19. Oktober 2019 in Yixi (der TED-Diskussionsplattform Chinas )in Peking gehalten hat. Der Vortrag erschien in editierter Form erstmals auf der Website der Gates Foundation https://www.gatesfoundation.org/theoptimist/articles/tuberculosis-successful-disease-in-history?utm_source=alw&utm_medium=em&utm_campaign=wc&utm_term=lgc und wurde mit freundlicher Zustimmung der Gates Foundation der Website der Stiftung entnommen, von der Redaktion in Deutsch übersetzt und etwas gekürzt.(u.a. wurde der China-spezifische Teil am Schluss des Artikels weggelassen). Zum Text wurden passende Abbildungen von der Redaktion eingefügt.

Huan Shitong, Projektleiter für TB der Gates Foundation in Peking, hat an Mediziinischen Universität Peking studiert und war am Beijing Tuberculosis and Thoracic Tumor Research Institute und im Chinesischen Gesundheitsministerium tätig.


Weiterführende Links

WHO Global Tuberculosis Report 2019. https://www.who.int/tb/global-report-2019

Tuberculosis (TB) Explained (06.2019). Video 1:13 min. https://www.youtube.com/watch?time_continue=63&v=kAbujxt5FCU&feature=emb_logo

Das ABC des Dr Robert Koch. Tuberkulose. Video 2:56 min http://www.youtube.com/watch?v=FYRyoAPhH8E  Tetanus und Tuberkulose - Dokumentation über die Entdeckung der Bakterien, die Tetanus und Tuberkulose verursachen : Teil 1 14:31 min.

Ärzte ohne Grenzen: Vernachlässigte Krankheiten - Multiresistente Tuberkulose. Video 6:20 min. https://www.youtube.com/watch?v=AJmGPeLV3sA&feature=emb_title

Bill and Melinda Gates Foundation, 09.05.2014: Der Kampf gegen Tuberkulose. http://scienceblog.at/der-kampf-gegen-tuberkulose.

Gottfried Schatz, 08.05.2015: Tuberkulose und Lepra – Familienchronik zweier Mörder. http://scienceblog.at/tuberkulose-und-lepra-%E2%80%93-familienchronik-zweier-mörder.


 

Redaktion Thu, 23.01.2020 - 06:02

Können wir die Erde mit einer eisfreien Arktis kühlen?

Können wir die Erde mit einer eisfreien Arktis kühlen?

Fr, 16.01.2020 — IIASA

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Icon Klima

Die Arktis erwärmt sich schneller als jeder andere Ort auf der Erde, und da jedes Jahr mehr Meereis verloren geht, spüren wir bereits jetzt die Auswirkungen. Forscher am International Institute of Applied Systems Analysis (IIASA, Laxenburg bei Wien) haben Szenarien eines, auch während des Winters eisfreien Polarmeeres analysiert, in welchem die Wärmeabstrahlung in den Weltraum größer sein würde als die Albedo- bedingte Wärmeabsorption. Mit Strategien, die zur Erhöhung des Salzgehaltes in den oberflächlichen salzarmen Schichten des Polarmeeres führen, könnten die wärmeren Wassermassen des Nordatlantiks an die Oberfläche des Polarmeeres fließen, durch Wärmeabstrahlung abkühlen und langfristig möglicherweise auch eine globale Abkühlung bewirken.*

 

Wissenschaftler rechnen damit, dass das sommerliche Meereis im Nordpolarmeer innerhalb einer Generation weitgehend verschwunden sein wird. Für die Welt ist dies eine schlechte Nachricht, da Eis und Schnee einen hohen Anteil der Sonnenenergie in den Weltraum reflektieren und so den Planeten kühl halten. Wenn die Arktis Schnee und Eis verliert, werden nacktes Gestein und Wasser freigelegt und absorbieren in zunehmendem Maße Sonnenenergie; dadurch wird es wärmer - ein Vorgang, der als Albedo-Effekt bekannt ist.

Dass es sehr schwierig sein würde, diesen Trend umzukehren, selbst wenn wir es schaffen, das im Pariser Abkommen festgelegte Ziel von 1,5 ° C Erwärmung zu erreichen, ist eine Tatsache. Angesichts dessen haben IIASA-Forscher nun untersucht, was passieren würde, wenn wir die Kausalität umdrehten und die Arktis zu einer Region machten, die einen Nettobeitrag zur Abkühlung der Weltmeere und damit auch der Erde erbringt. In ihrem neuen Artikel, der in der Springer-Fachzeitschrift SN Applied Sciences veröffentlicht wurde [1], haben die Autoren analysiert, welchen Beitrag die Arktis zur globalen Erwärmung leisten würde, wenn es sogar während der Wintermonate keine Eisdecke gäbe. Sie haben auch nach Möglichkeiten gesucht, wie sich die Welt an die daraus resultierenden neuen Klimabedingungen anpassen könnte.

„Das Eis des Arktischen Ozeans wirkt als starker thermischer Isolator, der verhindert, dass die Wärme des Ozeans unterhalb der Eisdecke die darüber liegende Atmosphäre (im Mittel bei - 20 °C) aufwärmt. Würde diese Eisschicht jedoch entfernt, so würde sich die Temperatur der Atmosphäre im Winter um bis zu 20 °C erhöhen. Dieser Temperaturanstieg würde wiederum die in den Weltraum abgestrahlte Wärme erhöhen und damit die Ozeane abkühlen “, erklärt Studienleiter Julian Hunt, der derzeit als Postdoc am IIASA arbeitet. Abbildung 1.

Abbildung 1. Die Eisdecke des Arktischen Ozeans wirkt als starker thermischer Isolator. Berechnungen zeigen, dass im offenen Meer die Wärmeabstrahlung in die Atmosphäre und den Weltraum höher ist als die solare Absorption durch den Albedo-Effekt. (Bild aus Hunt et al., 2019 [1]).

Für den Bestand der Eisdecke in der Arktis ist - nach Meinung der Autoren - hauptsächlich der Umstand verantwortlich, dass an der Oberfläche des Meeres (d.i, in den obersten 100 Metern) ein Salzgehalt vorliegt, der um 5 Gramm pro Liter niedriger ist als im Atlantik. Dies verhindert, dass der wärmere Atlantik über das kalte arktische Gewässer strömt.

Die Autoren erörtern nun, dass bei einem Anstieg des Salzgehalts in der obersten Schichte des Arktischen Ozeans der wärmere und dann weniger salzhaltige Nordatlantische Ozean die Oberfläche des Arktischen Ozeans überschichten könnte; dadurch würde sich die Temperatur in der arktischen Atmosphäre erheblich erhöhen und die unter dem Eis eingeschlossene Ozeanwärme freigesetzt werden. Abbildung 2.

Abbildung 2. Die Oberfläche (bis in 100 m Tiefe) des Arktischen Ozeans hat - bedingt durch den stetigen Süßwasserzufluss grosser Ströme (Ob, Yenissei, Lena, Mackenzie) einen niedrigeren Salzgehalt (a) und schwimmt auf den einströmenden dichteren und wärmeren Schichten des Nordatlantik (b). An den Übergangszonen entsteht eine Salzgehaltssprungschicht (Halokline). (Bild aus Hunt et al., 2019 [1]).

Um dies zu bewerkstelligen, schlagen die Forscher drei Strategien vor:

  • Die erste Strategie impliziert, dass der Einstrom der großen Flüsse aus Russland und Kanada in die Arktis reduziert wird, indem das Wasser in Regionen in den USA und Zentralasien gepumpt wird, wo es in südlicheren, wasserarmen Gebieten zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion verwendet werden könnte.
  • Als zweite Strategie nennen die Forscher die Errichtung von Dämmen und treibenden Barrieren vor den grönländischen Gletschern, um den Kontakt mit wärmerem Meerwasser und das Abgleiten und Abschmelzen der Eisschilde zu verringern.
  • Die dritte Strategie besteht darin, Wasser von der Oberfläche des Arktischen Ozeans in die Tiefsee zu pumpen, sodass es mit dem salzigeren Wasser unten vermischt wird. Die Pumpen in einem solchen Projekt würden mit Strom aus intermittierenden Solar- und Windquellen betrieben, was eine reibungslosere Implementierung dieser Technologien ermöglichen würde.

Die Analyse der Forscher ergab, dass diese Strategien bei einer durchschnittlichen Energie von 116 GW während eines 50-jährigen Betriebs den Salzgehalt der oberflächlichen Gewässer des Arktischen Ozeans um 2 g / l steigern könnten. Dies würde die Strömung des Nordatlantiks in die Arktis erhöhen und die Eisbedeckung der Arktis im Winter erheblich verringern.

Trotz der Bedenken über den Verlust von Meereis in der Arktis weisen die Autoren darauf hin, dass ein eisfreies Szenario in der Arktis mehrere Vorteile hat: beispielsweise könnte Schiffe das ganze Jahr den Arktischen Ozean befahren, wodurch sich die Entfernung für den Warentransport von Asien nach Europa und Nordamerika verringert. Darüber hinaus würde die Temperatur in der Arktis in den Wintermonaten ansteigen, was den Heizbedarf in Europa, Nordamerika und Asien im Winter verringern würde. Die Häufigkeit und Intensität von Wirbelstürmen im Atlantik könnte auch aufgrund der Temperatursenkung in den Gewässern des Atlantiks verringert werden. Darüber hinaus könnte das eisfreie Wasser dazu beitragen, mehr CO2 aus der Atmosphäre aufzunehmen.

Hunt rät zu Vorsicht; während es zwar Vorteile für eine eisfreie Arktis gibt, ist es aber schwierig die Auswirkungen auf die globalen Meeresspiegel vorherzusagen, da die höheren Temperaturen in der Arktis dazu führen würden, dass die grönländische Eisdecke stärker schmilzt. Es ist auch schwierig, die Veränderungen des Weltklimas vorherzusagen.

„Obwohl es wichtig ist, die Auswirkungen des Klimawandels durch die Reduzierung der CO2-Emissionen zu mildern, sollten wir uns auch überlegen, wie wir die Welt an die neuen Klimabedingungen anpassen können, um einen unkontrollierbaren, unvorhersehbaren und zerstörerischen Klimawandel zu vermeiden, der zu einem sozioökonomischen und ökologischen Zusammenbruch führt. Der Klimawandel ist ein zentrales Thema; wenn man sich damit auseinandersetzt sollten alle Optionen sollten in Betracht gezogen werden “, schließt Hunt.


[1] Hunt J et al., (2019). Cooling down the world oceans and the earth by enhancing the North Atlantic Ocean current. SN Applied Sciences DOI: 10.1007/s42452-019-1755-y. Der Artikel steht unter einer Creative Commons CC BY license.


* Der von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzte Artikel ist am 10. Dezember 2019 auf der IIASA Webseite unter dem Titel: " Could we cool the Earth with an ice-free Arctic?" erschienen (https://www.iiasa.ac.at/web/home/about/news/191206-cooling-the-oceans.html ). IIASA hat freundlicherweise der Veröffentlichung von Inhalten seiner Website und Presseaussendungen in unserem Blog zugestimmt. Der Text wurde von der Redaktion durch passende Abbildungen  aus [1] und Legenden ergänzt.


Weiterführende Links

Maribus (2019): „World Ocean Review“ (WOR 6) Arktis und Antarktis – extrem, klimarelevant, gefährdet

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Redaktion Wed, 15.01.2020 - 21:12

Neutrophile: Zwischen Zellteilung und Zelltod

Neutrophile: Zwischen Zellteilung und Zelltod

Do, 02.01.2020 — Arturo Zychlinsky

Arturo ZychlinskyIcon MedizinEin Organismus wird tagtäglich mit einer Vielzahl von Krankheitserregern konfrontiert. Das Immunsystem hat daher im Laufe der Evolution viele ausgeklügelte Abwehrmechanismen entwickelt. Das Team um Prof. Arturo Zychlinsky (Direktor am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie, Berlin) hat 2004 einen bis dahin unbekannten Mechanismus beschrieben: Neutrophile Granulozyten als Zellen des Immunsystems können schädliche Mikroorganismen in Netzen fangen. Interessanterweise sind diese Netze im Wesentlichen nicht nur aus den gleichen Bestandteilen wie die Erbsubstanz aufgebaut, bei der Netzbildung laufen auch Schritte ab, die sonst nur bei der Zellteilung stattfinden.

Krankheitserreger gehen ins Netz

Neutrophile Granulozyten, kurz Neutrophile genannt, sind die am häufigsten vorkommenden weißen Blutzellen im menschlichen Organismus. Sie gehören zu denjenigen Zellen, die als erstes vor Ort sind, um eingedrungene Pathogene unschädlich zu machen. Sie haben dazu hauptsächlich drei Strategien entwickelt.

Sie können Pathogene phagozytieren und in ihrem Zellinneren verdauen.

Sie können aber auch antimikrobielle Proteine aus den Granula in den Zellzwischenraum ausscheiden und den Pathogenen damit eine unwirtliche Umgebung bereiten.

Ein in unserem Labor vor rund 15 Jahren im Detail beschriebenes Phänomen ist die Bildung von Neutrophil Extracellular Traps, kurz NETs.

NETs sind netzartige Strukturen, die Neutrophile bei Kontakt mit Pathogenen auswerfen. Dabei sterben die Neutrophilen einen speziellen Zelltod, NETosis genannt. Bemerkenswert ist der Aufbau der Netze. Sie werden aus der DNA der Neutrophilen gebildet und sind wie mit Perlen über und über mit Proteinen aus den Granula und mit Histonen besetzt. Histone sind Proteine aus dem Zellkern, die dafür sorgen, dass die DNA in Chromatin aufgewickelt vorliegt. Zusätzlich können Histone Bakterien effizient abtöten. In den NETs werden die eingefangenen Pathogene unter anderem durch elektrische Ladungsunterschiede festgehalten und nachfolgend von Granulaproteinen und Histonen abgetötet.

Viele Wege führen zur Bildung von NETs

Die genauen molekularen Mechanismen der NETosis und NET-Bildung sind noch nicht verstanden. Dies liegt vor allem daran, dass Neutrophile experimentell schwer zu untersuchen sind. Einerseits sind diese Zellen leicht zu aktivieren, andererseits haben sie außerhalb des Körpers nur eine Lebensdauer von wenigen Stunden.

Unserem Labor gelang es, standardisierte experimentelle Bedingungen für vergleichbare und quantifizierbare Untersuchungen zu erzeugen. Unter diesen Bedingungen stimulierten wir Neutrophile mit zwei Pathogenen - dem Hefepilz Candida albicans und Streptokokken der Gruppe B - sowie mit Ionophoren, also Substanzen, die den Ionenhaushalt in den Neutrophilen beeinflussen [1]. Alle diese Stimuli induzierten die Bildung von NETs, die vergleichbare Eigenschaften zeigten (Abbildung 1).

Abbildung 1. Candida albicans induzierte NETosis in humanen primären Neutrophilen. Die Neutrophilen wurden mit dem blauen Fluoreszenzfarbstoff Draq5, der Zellmembranen passieren kann, und dem grünen Fluoreszenzfarbstoff Sytox Green, der Zellmembranen nicht passieren kann, gefärbt. Das Auftreten der grünen Fluoreszenz zeigt das Auftreten von NETosis an. (Die Bilder sind Screenshots aus einem kurzen Video, das im Original https://www.mpg.de/13489596/mpiib-berlin_jb_2018?c=15261 0 gesehen werden kann; Anm. Redn)

Setzten wir Substanzen ein, die mögliche Signalwege während der NETosis blockieren könnten, zeigten sich Unterschiede. Für die NET-Bildung nach Stimulierung mit den Pathogenen etwa spielen reaktive Sauerstoffspezies, sogenannte Sauerstoffradikale, eine Rolle, nach der Stimulierung mit Ionophoren dagegen nicht. Auf der Basis dieser und weiterer Ergebnisse konnten wir einen Atlas von Signalwegen erstellen, der zeigt, dass je nach Stimulus ein anderer Signalweg für die Bildung von NETs eingeschlagen wird.

Zellteilung mit Abzweigung in Richtung NETs?

DNA und Histone aus dem Zellkern und Proteine aus den Granula müssen sich vor der NET-Bildung im Zellplasma mischen können. Dies setzt den Abbau der Kern- und Granulamembranen voraus. Die Kernmembran wiederum wird auch während der Zellteilung, der Mitose, aufgelöst. Daher fragten wir uns, ob NET-Bildung und Mitose eventuell Parallelen aufweisen.

Zunächst untersuchten wir stimulierte Neutrophile auf Merkmale, die für bestimmte Phasen der Mitose typisch sind. So konnten wir zeigen, dass Lamine, spezielle Proteine der Kernmembran, in den Neutrophilen phosphoryliert vorliegen. Dadurch wird die Festigkeit der Kernmembran aufgehoben und sie kann sich auflösen. Die Replikation der DNA, typisch für die Mitose, konnten wir dagegen nicht nachweisen.

Besonders interessant war die Beobachtung, dass sich in stimulierten Neutrophilen Zentrosomen bilden und auseinanderdriften (Abbildung 2). Zentrosomen sind Strukturen aus Mikrotubuli, die während der Mitose an die gegenüberliegenden Pole der sich teilenden Zelle wandern. An den Zentrosomen ist die mitotische Spindel aufgehängt, die die Chromosomen auseinanderzieht. In den untersuchten Neutrophilen konnten wir allerdings keine mitotische Spindel beobachten.

Abbildung 2. Verdoppelung und Trennung der Zentrosomen während der NET-Bildung. In stimulierten Neutrophilen wurden Zentrosomen mit Hilfe eines anti-Tubulin-Antikörpers rot gefärbt. Die DNA ist mit einem blauen Farbstoff markiert. Drei Stunden nach der Stimulation (rechtes Bild) werden NETs beobachtet.© Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie/Amulic; Brinkmann

Der Zellzyklus in sich teilenden Zellen durchläuft mehrere sogenannte Checkpoints. DNA-Schäden, Zellgröße, Zelldichte und viele andere Faktoren werden an den Checkpoints überwacht und können zur Unterbrechung der Zellteilung oder zum programmierten Zelltod, der sogenannten Apoptose, führen. Spezialisierte Zellzyklusproteine wie Zykline und Zyklin-abhängige Kinasen steuern diesen Prozess. In unseren Experimenten bewirkte die Stimulierung der Neutrophilen eine Aktivierung von CDK4/6-Kinasen, die in ruhenden Zellen zum Eintritt in die Mitose führen. Es bleibt offen, wie diese Zyklin-abhängigen Kinasen in Neutrophilen einen Teil der Mitose-Maschinerie anwerfen können.

Löcher im Immunsystem

In den letzten Jahren wurden NETs immer häufiger mit autoinflammatorischen und Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht. Bei der Autoimmunkrankheit Lupus beispielsweise werden gegen die sich in den NETs befindende DNA Antikörper gebildet, die zu Nierenschäden führen können.

Lupus scheint darüber hinaus mit einer überschießenden NET-Produktion verbunden zu sein. Für uns war es daher von Interesse herauszufinden, wie beziehungsweise mit welchen Substanzen die NET-Bildung inhibiert werden kann. In Kooperation mit dem Lead Discovery Center (LDC), einer Ausgründung der Max-Planck-Gesellschaft, starteten wir ein großangelegtes Screening; annähernd 200.000 Substanzen wurden dabei auf ihre Fähigkeit getestet, NETs zu inhibieren. Für eine Substanz gelang es, ihren Wirkungsmechanismus näher zu untersuchen und ihr Target, also ihren Wirkort, zu identifizieren: Gasdermin D. Diese Entdeckung war besonders interessant, da es sich bei Gasdermin D um ein porenbildendes Protein handelt. Unsere Experimente mit dem neu identifizierten Gasdermin D-Inhibitor lassen vermuten, dass Gasdermin D dazu beiträgt, die Neutrophilen-Zellmembran derart z Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie, Berlin u perforieren, dass NETs durch die entstandenen Löcher ausgeworfen werden können.

Dies bietet neue Ansätze für die klinische Forschung an Krankheiten, die mit einer Überproduktion von NETs einhergehen.


* Der vorliegende Artikel ist im Jahrbuch 2018 der Max-Planck-Gesellschaft unter identem Titel "Neutrophile: Zwischen Zellteilung und Zelltod" https://www.mpg.de/13489596/mpiib-berlin_jb_2018?c=15261 0 erschienen und wurde mit freundlicher Zustimmung der MPG-Pressestelle ScienceBlog.at zur Verfügung gestellt. Der Artikel wurde unverändert übernommen, allerdings ohne Literaturzitate - diese können im Original nachgesehen werden.


Weiterführende Links

Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie, Berlin

ESDR2019 Celgene Lecture: Arturo Zychlinsky "NETs in health and disease" Video 23:32 min.

Redaktion Fri, 27.12.2019 - 10:06

Bäume und Insekten emittieren Methan - wie geschieht das?

Bäume und Insekten emittieren Methan - wie geschieht das?

Do, 09.01.2020 — Redaktion

RedaktionIcon BiologieMethan ist nach CO2 das zweitwichtigste Treibhausgas und seine atmosphärische Konzentration steigt im letzten Jahrzehnt stark an. Rund die Hälfte der Emissionen ist anthropogen verursacht, die andere Hälfte stammt aus natürlichen Quellen. Wie diese zum Gesamtbudget von Methan beitragen, ist noch wenig erforscht. Bäume und Insekten dürften eine wichtige Rolle in der Methanemission spielen. Ein besseres Verständnis dessen, wie dies geschieht, könnte dazu beitragen, Senken für Methan und damit effizientere Wege zur Bekämpfung der globalen Erwärmung aufzufinden.*

Da Methan ein Vielfaches des Potenzials von Kohlendioxid als globales Treibhausgas aufweist, können die von Bäumen ausgehenden Methanemissionen - und jede durch den Klimawandel bedingte Änderung in diesen - erhebliche Auswirkungen auf das Erdklima haben.

"Wir haben aerobe (von Baumkronen ausgehende) Emissionen von Methan beobachtet, und diese zeigen im Tagesverlauf ausgeprägte Muster", erklärte Dr. Mari Pihlatie, außerordentliche Professorin am Institut für Agrarwissenschaften der Universität von Helsinki, Finnland. Im Rahmen des MEMETRE-Forschungsprojekts weist sie mit ihrem Team Methan nach, um festzustellen, ob es in den Blättern bei der Photosynthese entsteht oder ob es sich um ein im Boden gebildetes Gas handelt, das durch den Stamm nach oben strömt oder von anderen Vorgängen im Stamm selbst herrührt.

"Anscheinend emittieren die Kronen borealer Bäume tagsüber Methan und nicht in der Nacht und diese Emissionen folgen der photosynthetischen Aktivität und Einstrahlung des Sonnenlichts", sagte Dr. Pihlatie.

Mit den Jahreszeiten variierende Emissionen

Es gibt Hinweise darauf, dass Baumstammemissionen nicht mit der Photosynthese, sondern eher mit der Produktion von Methan im Boden zusammenhängen, das durch die Bäume in die Atmosphäre transportiert wird. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass Methan auf mikrobiellem Wege in den Stämmen selbst entsteht.

Die Methanflüsse von Baumstämmen variieren auch mit den Jahreszeiten, sie steigen an in den nordischen Sommern und sinken in den kalten, dunklen Wintern ab. Diese saisonale Variabilität wirft Fragen auf, wie sich der Beitrag der Bäume zum Methanbudget angesichts der Veränderungen des globalen Klimas in Zukunft auswirken könnte.

Dr. Pihlaties hat ihre Untersuchungen an Kiefern, Fichten und Birken ausgeführt, Bäumen die in den borealen Wäldern von Finnland und Schweden vorkommen und für die hohen nördlichen Breiten in Europa, Asien und Nordamerika typisch sind. Ihr Team führt Feldversuche durch und Experimente unter kontrollierten Laborbedingungen und verwendet stabile Kohlenstoffisotope, um die Herkunft des von Bäumen emittierten Methans zu bestimmen. Indem die Forscher einen umhüllten Baum mit Kohlendioxid aus Kohlenstoff-13 versorgen, wollen sie feststellen, ob der Kohlenstoff, der in den Methanemissionen aufscheint, schnell durch die Photosynthese von den Blättern oder Nadeln der Koniferen fixiert wurde oder ob es sich um "älteren" Kohlenstoff handelt, der von einem anderen Prozesse im Baum stammt.

Untersuchungsmethoden

Um Emissionen in der Baumkrone zu verfolgen, haben die Forscher neue Methoden entwickelt, indem sie einen Zweig in eine luftdichte Box einzuschließen, die mit Lasern ausgestattet ist, um Änderungen der Gasströme und Konzentrationen während der täglichen und jahreszeitlichen Zyklen kontinuierlich und automatisch zu messen.

"Auf diese Weise wollen wir den Zusammenhang zwischen der Methanproduktion und der physiologischen Aktivität des Baumes wie Photosynthese und Transpiration verstehen lernen", sagte Dr. Pihlatie.

Die Aufklärung des Methanprozesses in Bäumen - und die bedeutende Rolle borealer Wälder - könnte ein klareres Bild ihres Beitrags zum globalen Methanhaushalt liefern, in welchen die Methanquellen und -senken (-speicher) zusammengefasst sind. Dies könnte auch dazu beitragen, die zukünftigen Auswirkungen des Klimawandels auf diese Methanprozesse selbst zu bewerten. "Basierend auf unseren Messungen verringern die Methanemissionen von Bäumen in den borealen Wäldern die Bindungskapazität der Bäume für Kohlenstoff nicht signifikant", sagte Dr. Pihlatie und fügte hinzu: "Diese wachsenden Bäume wirken immer als Kohlenstoffsenke, egal wie viel Methan sie emittieren."

Ansteigende Methan-Konzentrationen

Die globalen Methanemissionen - mit rund 1870 ppb (2018) viel niedriger als die von Kohlendioxid (2018: 407.8 ppm; Anm Redn) - sind in den letzten Jahren stetig gestiegen wie Abbildung 1( vom November 2019) deutlich zeigt. Es gibt noch keine gültigen Erklärungen, warum dies der Fall ist, einige Untersuchungen weisen aber darauf hin, dass das Fracking zur Schiefergasgewinnung ein Hauptverdächtiger für die dramatische Steigerung in den letzten zehn Jahren ist. Was nun aber genau auf den Methanhaushalt einwirkt und wie sich dieser verändert, muss noch besser verstanden werden.

Abbildung 1. Atmosphärische Methankonzentrationen im globalen Mittel von 1985 bis 2018. Messungen von 127 Stationen. (Konzentrationen in parts per billion - ppb- ; im Vergleich dazu werden CO2 Konzentrationen in 1000 fach höheren ppm - parts per million- angegeben) (Bild von Redaktion aus https://public.wmo.int/en/media/press-release/greenhouse-gas-concentrations-atmosphere-reach-yet-another-high eingefügt)

Beispielsweise wirken gut durchlüftete Böden als Senken für Methan: sie absorbieren jährlich etwa 4% der weltweiten Methanemissionen, wobei unterirdische Mikroorganismen als Methanverbraucher wohlbekannt sind. Jüngste Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass dieser Senkeneffekt zurückgehen kann, da der Klimawandel die Niederschläge in gemäßigten und tropischen Regionen erhöht und eine Einbeziehung von Methanemissionen in die Abschätzungen zu einer weiteren Abnahme des Senkeneffekts führen kann.

Unter den im Boden lebenden Tieren sind Termiten wichtige Emittenten von Methan; diese fließen bereits in das globale Methanbudget ein. Zur Rolle, welche andere Bodenbewohner wie Käfer oder Tausendfüßer im Methankreislauf in gut belüfteten Hochlandböden spielen, liegen noch kaum sorgfältige Untersuchungen vor.

Engerlinge

Das von Insektenlarven emittierte Methan, kann genügend wichtig sein, um in den terrestrischen Methanzyklus einbezogen zu werden, sagte Dr. Carolyn-Monika Görres, Bodenökologin am Institut für angewandte Ökologie der Hochschule Geisenheim in Deutschland.

Ihr CH4ScarabDetect-Projekt enthält die ersten Feldversuche zu Methanemissionen von Engerlingen, Larven von Maikäfern aus der Familie der Skarabäiden. Diese Feldstudien am gemeinen Feldmaikäfer Melolontha melolontha - einem beträchtlichen Schädling in der Landwirtschaft und am Waldmaikäfer M. hippocastani zeigten signifikant höhere Methankonzentrationen als unter Laborbedingungen erhalten wurden. Abbildung 2.

Abbildung 2. Die "Belauschen" von Engerlingen zeigt wie deren Aktivitäten mit der Methanproduktion zusammenhängen (Image credit - Carolyn-Monika Görres)

Während erwachsene Tiere nur etwa vier bis sechs Wochen existieren, leben ihre Larven drei bis vier Jahre im Untergrund, fressen an Wurzeln - und produzieren Methan. Dr. Görres entwickelte mit ihrem Team ein System von akustischen Sensoren, mit denen sie die unterirdischen Engerlinge überwachten und aufzeichneten, wenn sich diese bewegten, fraßen und kommunizierten. Das Ziel war es, die Larven "abzuhören", ohne sie zu stören, um zu sehen, wie sich ihre Aktivitäten auf die Messung des Methanflusses auswirken.

Es dürfte vielleicht nicht ganz so einfach sein zu behaupten, dass Engerlinge indem sie Methan emittieren, die Kapazität des Bodens als Methansenke reduzieren. sagte Dr. Görres.

Die Larvenemissionen schaffen günstige Bedingungen für methanverbrauchende Mikroorganismen. Und sie ist der Meinung, dass der Boden längerfristig ein bessere Methansenke werden könnte, wenn Larven entfernt würden oder, wenn sie ihre Methanemissionen in bestimmten Phasen ihres Lebenszyklus verringerten, da die Mikroorganismen dann auf atmosphärisches Methan als Nahrungsquelle umschalten würden.

"Betrachtet man das gesamte Methanbudget, so gibt es keinen großen Unterschied zwischen den (gesamten) globalen Methanemissionen und dem (gesamten) globalen Methanverbrauch. Wenn wir also die Kapazität von (Hochland-) Böden als Senken erhöhen können, bekommen wir die Möglichkeit die Methankonzentration in der Atmosphäre zu reduzieren“, sagte Dr. Görres.

Eine Zusammenfassung woher die globalen Methanemissionen stammen ist in Abbildung 3 dargestellt.

Abbildung 3. Globale Methanemissionen zwischen 2003 und 2012 haben 730 Teragramm (1000 Milliarden Gramm) im Jahr erreicht. Unsicherere Angaben sind in einem helleren Farbton dargestellt. (Image Credit Horizon).


* Dieser Artikel wurde ursprünglich am 7. Jänner 2020 von Rex Merrifield in Horizon, the EU Research and Innovation Magazine unter dem Titel Trees and doodlebugs emit methane – the question is, how? publiziert. Der unter einer cc-by-Lizenz stehende Artikel wurde von der Redaktion möglichst wortgetreu aus dem Englischen übersetzt.


Weiterführende Links

Artikel im ScienceBlog:


 

Redaktion Thu, 09.01.2020 - 07:43